SERBIEN Liebeswerben um Belgrad
Toma, Toma«, schallt es über den Marktplatz im südserbischen Städtchen Cacak. Mit bescheidenem Lächeln nimmt der Mann auf der Tribüne die Huldigung entgegen, lässt allenfalls den Kaugummi etwas schneller im Mund kreisen. Der 56-Jährige, mit grauem Haar, im grauen Anzug, verkörpert eher das Gegenteil dessen, was seine Radikale Partei Serbiens früher so populär machte: die ewige Großmäuligkeit, die lautstark vorgetragenen Beleidigungen ihrer politischen Gegner oder gar die Drohung ihres Vorsitzenden Vojislav Seselj, die Hauptstädte des Westens zu bombardieren.
Doch der sitzt seit fünf Jahren im Gefängnis des Haager Tribunals - angeklagt als Kriegsverbrecher. Sein Statthalter und Parteivize Tomislav »Toma« Nikolic, einst ein enger Mitarbeiter des gestürzten serbischen Diktators Slobodan Milosevic, hat die Partei seither in ein gemäßigteres Fahrwasser geführt. Ziemlich unberührt schaut Nikolic auf ein Meer blauer Luftballons und Parteifahnen hinab und auf Plakate mit der Aufschrift »Toma, rette das hungernde Volk«.
Eine Gruppe Folkloresänger versucht vergebens, die paar hundert Anhänger in Stimmung zu bringen. Erst als der »Totengräber« spricht, wie Nikolic im Volksmund wegen seines früheren Postens als Friedhofsdirektor genannt wird, kommt Stimmung auf. Sein Sieg werde die Armen beschützen, verspricht er und erntet lautstarken Beifall - vor allem von Rentnern, die ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft eigentlich längst aufgegeben haben.
Dann überrascht der Redner allerdings auch die eigenen Parteigenossen. Er, der noch vor kurzem die russischen Verbündeten einlud, in Serbien Militärstützpunkte zu errichten, sucht plötzlich gleiche Distanz zu allen Großmächten, die über die Zukunft des Balkans mitentscheiden. »Unsere Herren wohnen weder in Moskau noch in Washington oder in Brüssel«, ruft er in die Menge. Über das Schicksal des Landes entschieden »allein die Serben«.
Zumindest die, die am 11. Mai zur Parlamentswahl gehen. Umfragen signalisieren, dass sie die Radikalen mit weit über 30 Prozent der Stimmen zur stärksten Fraktion machen könnten. Dass die serbischen Ultra-Nationalisten damit auch zur stärksten Regierungsfraktion aufsteigen, versuchen EU-Diplomaten derzeit mit aller Kraft zu verhindern. Eine Machtübernahme der Radikalen, fürchten sie, wäre nicht nur ein außenpolitischer Alptraum, sondern könnte auch erneute Unruhen unter den ethnischen Minderheiten des Landes auslösen. So drängen die ungarische Minderheit in der Vojvodina oder etwa die Albaner im südserbischen Presevo-Tal bereits seit langem auf größere Autonomie.
Doch nach der einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo sowie der Anerkennung des neuen Staats durch die USA und zahlreiche EU-Mitglieder sind die zornigen Serben geradezu traumatisiert von der Vorstellung, der Westen treibe die völlige Demontage ihres Landes mit allen Mitteln voran.
So ist es eher kontraproduktiv, wenn die Abgesandten aus Brüssel den nicht gerade gewaltigen Trupp europafreundlicher Politiker in Belgrad derzeit bis zur Peinlichkeit hofieren. Der proeuropäische Block, angeführt von Serbiens Präsident Boris Tadic, 50, und dessen Demokratischer Partei, darf sich zwar seit Dienstag voriger Woche über einen Assoziierungsvertrag mit der Brüsseler Union freuen. Jahrelang hatte die EU ein solches Abkommen verweigert, weil Serbien bei der Auslieferung von Kriegsverbrechern mauert. Viele sehen in der Brüsseler Offerte nicht mehr als eine symbolische Geste - ratifiziert wird erst, wenn Belgrad den bislang untergetauchten General Ratko Mladic ausliefert.
Fast scheint es, als führte die EU in Belgrad einen eigenen Wahlkampf. Visa-Erleichterungen sollen vor allem junge Wähler europafreundlich stimmen. Der Wirtschaft, die in diesem Jahr kaum wachsen wird, könnten Milliardenkredite auf die Beine helfen. Selbst vor kuriosen politischen Werbegeschenken schrecken die spendierfreudigen Brüsseler Diplomaten nicht zurück. Serbiens Milcherzeuger erhielten plötzlich die Erlaubnis, in die EU zu exportieren. Dass diese dazu überhaupt nicht in der Lage sind, rief in der Bevölkerung eher Belustigung hervor.
Solches Liebeswerben beeindruckt denn auch nur wenige.
Tadic, die große Hoffnung des Westens, bleibt hin- und hergerissen zwischen demonstrativem Patriotismus und proeuropäischem Kurs. Er wirkt wie ein verzagter Messias, dessen Botschaft nur jene überzeugt, die ihn ohnehin gewählt hätten. Der ehemalige Dressman, dessen erste Ehefrau als Novizin im orthodoxen Kloster Pec im Kosovo lebt, gilt vor allem bei weiblichen Wählern als Stimmenfänger. Müsste er sich zwischen Kosovo und der EU entscheiden, würde er zweifellos das Kosovo wählen, verspricht er und versucht so, Zweifel an seinem Nationalbewusstsein zu zerstreuen.
Doch selbst wenn seine Demokratische Partei unerwartet gut abschneiden würde, wäre sie in einer künftigen Regierung auf Koalitionspartner angewiesen. Nach Lage der Dinge käme dafür vor allem sein Intimfeind, Serbiens derzeitiger Premier Vojislav Kostunica, 64, in Frage. Dieser hatte die letzte Koalitionsregierung mit den Demokraten vorzeitig wegen mangelnden Vertrauens aufgelöst.
Außerdem hat der amtierende Premier bessere Angebote. Der Radikalen-Chef Nikolic »will nicht ausschließen«, dass der einstige Juraprofessor auch in einem künftigen Regierungsbündnis die Position des Regierungschefs behalten könne, selbst wenn dessen Partei kaum mit mehr als 15 Prozent der Wählerstimmen rechnen kann.
Kostunica versucht derweil verzweifelt, sein immer müderes Auftreten mit dem Image eines weisen Vaters der Nation zu kaschieren, der unbeirrbar das Kosovo als Bestandteil Serbiens verteidigt - auch um den Preis der Selbstisolierung. Das vergangene Woche unterzeichnete Abkommen mit der EU will er sofort nach der Wahl vom Parlament für null und nichtig erklären lassen. Mit der Unterschrift, so Kostunica, habe sich nicht Serbien, sondern allein sein Gegner Tadic kompromittiert.
Brüsseler Diplomaten versuchen dennoch, dem national-konservativen Premier eine erneute Koalition mit Tadic und dessen Demokraten schmackhaft zu machen. Zugeständnisse in der Kosovo-Frage, die Kostunica einen Gesichtsverlust ersparen könnten, werden hinter verschlossenen Türen erwogen. Dazu gehört die Möglichkeit einer administrativen Trennung der verfeindeten Volksgruppen. Im Gespräch ist auch eine Neuauflage jenes Vorschlags, den vor der einseitigen Unabhängigkeitserklärung der deutsche Unterhändler Wolfgang Ischinger vorgelegt hatte. Danach sollte eine Vereinbarung zwischen Belgrad und Pristina nach dem Muster des deutschdeutschen Grundlagenvertrags von 1972 das Verhältnis von Serben und Albanern im Kosovo regeln. Die Bundesrepublik und die DDR hatten damals ihre Beziehungen ohne völkerrechtliche Anerkennung der DDR festgelegt.
Kostunica beharrt indes, ebenso wie die Radikalen, zumindest bis zur Wahl eisern auf Serbiens irrationaler Maximalvorstellung: Solange das Kosovo nicht wieder Bestandteil Serbiens ist, wird es keine Gespräche über einen EU-Beitritt geben. RENATE FLOTTAU
* Mit Vizepremier Bozidar Djelic, dem EU-AußenbeauftragtenJavier Solana und Sloweniens Außenminister Dimitrij Rupel inLuxemburg.