USA Loch in der Mauer
Kenneth Brown hat die wahren Schuldigen ausgemacht: »Hier bei uns in Texas ist alles absolut in Ordnung«, schimpft der Rancher. »Erst seit sich die Presse eingemischt hat«, klagt Brown, »ist hier die Hölle los.«
Vor dem Büro im Blockhausstil ist von der Aufregung wenig zu merken. Neben knorrigen Eichen, Kakteen und rostenden Ölpumpen weiden braune, schwarzbunte und schwarze Kälber, Viehhirten zu Pferd treiben Rinder in einen angrenzen- den Pferch - Texasidylle wie im Bilderbuch.
Doch Brown ist wütend. Der Besitzer der »Vaquero Rinderfarm«, 45 Kilometer südöstlich von San Antonio, ist ins Gerede gekommen, seit sein 680 Hektar großer Mastbetrieb Ende Januar eine Ladung von 40 000 Pfund Futtermittel erhielt. In die waren - entgegen den US-Auflagen - Knochenmehl und Fleischrückstände aus der Rinderverwertung untergemischt.
Bevor die Herstellerfirma den Fehler entdeckte, hatte der 66-jährige Rancher einen Teil des Futterzusatzes in die Tröge von 1222 seiner vier bis sechs Monate alten Mastrinder gemischt: »Höchstens 5,5 Gramm für jedes der 550 bis 700 Pfund schweren Tiere«, rechnet Brown vor, »das ist doch nicht mehr als eine winzige Prise.«
Der Bruchteil genügte, um Regierung, Produzenten und Verbraucher in Schock zu versetzen: Kaum wurde der Fall bekannt, verordnete die Food and Drug Administration (FDA), Washingtons oberste Aufsichtsbehörde für Lebensmittel und Medikamente, die Untersuchung der betroffenen Herden. Der Futtermittelhersteller bot umgehend Entschädigung an, und die Vereinigung texanischer Rinderzüchter versicherte: »Für Nahrungsmittel besteht keine Gefahr.«
Dennoch macht sich seither BSE-Angst breit. Während an den örtlichen Rinderbörsen die Preise einbrachen, sah Vieh-auktionator Hatch Smith nach den schlimmen Dürren der letzten Jahre bereits eine neue Katastrophe heraufziehen: »Wir waren gerade auf dem Weg zurück in die Gewinnzone, und dann passiert so was.«
In Browns Nachbarort Floresville sorgten sich Metzger um den Absatz von saftigem Prime-Beef; die Tageszeitung »USA Today« konstatierte »wachsende Panik unter Verbrauchern« und stellte auf ihrer Titelseite die bange Frage: »Kann Rinderwahn auch bei uns passieren?« Plötzlich sehen sich die Amerikaner von einem Phänomen bedroht, das bislang eher als »Hysterie« europäischer Konsumenten belächelt wurde. Oder als Beweis für die »administrative Inkompetenz« ("The Washington Post") der Brüsseler Bürokraten.
Es ist nicht nur ein Angriff auf Amerikas kulinarische Traditionen - massige Hamburger und riesige Rippchen zieren jede rauchverhangene Barbecue-Party: Der Kult ums Fleisch (Pro-Kopf-Verbrauch USA: rund 80 Kilogramm, Deutschland: gut 60 Kilo) gehört zur verklärten Vergangenheit vom freien Cowboy-Leben. Denn trotz der Schreckensmeldungen von jenseits des Atlantiks galt bisher als verbürgt, dass nach Tabak-Tabu und verpöntem Alkoholgenuss wenigstens der Verzehr von üppigen Fleischportionen zu den unumschränkten Freuden des amerikanischen Alltags gehörte. Jetzt mehren sich Zweifel: Schon befürchten vier von zehn US-Bürgern, dass BSE landesweit zum Problem wird.
Losgetreten wurde die Unruhe durch eine Panne, die der Futtermittelgigant Purina Mills nach eigener Darstellung als »Fehler in der Rezeptur« bezeichnet. Der »Führer von Amerikas Tierfutter« hatte gemeldet, dass in seiner Filiale im texanischen Gonzales Fleisch- und Knochenmehl von Rindern versehentlich in eine Charge Rindernahrung gelangt waren.
Kein Grund zur Aufregung, beschwichtigten die FDA-Aufseher. Die Möglichkeit, dass sich die Herde durch verbotenes Futter an Rinderwahn infiziert hätte, sei »ungeheuer gering«. Denn die beanstandeten Fleisch- und Knochenreste stammten durchweg aus amerikanischer Produktion - und unter den rund 100 Millionen US-Rindern wurde bisher kein BSE-Fall ausgemacht. Tatsächlich haben die USA schon vor mehr als einem Jahrzehnt Importbeschränkungen für möglicherweise ansteckende Rinderprodukte verhängt. So setzten sie das BSE-geplagte Großbritannien Anfang der neunziger Jahre auf eine Embargo-Liste. Ende 1997 schließlich stoppten die USA den Import lebender Wiederkäuer aus ganz Europa sowie von deren Fleisch, Fleisch- und Knochenmehl völlig.
»Das Verbot wurde als zusätzlicher Schutz gegen BSE-Infektionen verhängt«, lobt der Chef der Nationalen Vereinigung für Rindfleischvermarktung diese Praxis. »Das ist eine wichtige Brandmauer.«
»Brandmauer?« Allenfalls »weißen Gartenzäunen« ähnelten die Schutzmaßnahmen, höhnt Wissenschaftler Michael Hansen von der Verbraucherorganisation Consumers Union. Denn Importe gab es trotz der Verbote: 37 Tonnen Tierfutter »von Fleisch oder Fleischabfall« wurden laut britischen Exportstatistiken noch 1997 in die USA exportiert. Peter Lurie von Public Citizen, einer Organisation für Konsumentenschutz und Bürgerrechte in Washington, behauptet: »Sollte die Epidemie je die USA erreichen, dann würde sie sich gerade wegen der Probleme mit den FDA-Kontrollen ausbreiten.«
Immerhin beweisen selbst behördeneigene Statistiken Lücken und Versäumnisse. Von den überprüften 347 lizenzierten Großunternehmen, die Vieh zu Futter verarbeiten, fehlten bei 20 Prozent die korrek-
ten Hinweise ("Nicht an Wiederkäuer verfüttern"); bei 9 Prozent der Firmen besteht die Gefahr, dass bei der Produktion Fett, Fleisch- oder Knochenreste durcheinander geraten. Bei den kleineren Herstellern sind die Abweichungen von der Norm noch höher: Von 1593 kontrollierten Firmen fehlten in über 40 Prozent die richtigen Warnhinweise; bei einem Viertel der Betriebe war unklar, was an tierischen Rückständen zusammengerührt wird.
Schlimmer noch - die Behörden wissen nicht einmal, wie viele dieser Futterküchen überhaupt existieren. Die FDA gesteht ein, dass sie ihre vollständige Zahl nicht kennt, »es könnten 6000 bis 8000 sein«. Was dort gebraut wird, weiß niemand: Rund 100 000 Stück Vieh verrecken pro Jahr auf US-Farmen; die Kadaver werden mit Fischen und Hühnern, Pferden und Wild zu Tierfutter verarbeitet - tote Hunde und Katzen sind bisweilen darunter.
»Löcher wie in einem Schweizer Käse« hat auch Terry Singeltary im Regelwerk der FDA ausgemacht. Der Texaner kam auf einem tragischen Umweg zu dem Thema: Nachdem seine Mutter 1997 binnen weniger Wochen an der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit gestorben war, versuchte er, die Ursachen der Infektion aufzuspüren. Er klagte auf die Herausgabe von Regierungsdokumenten und arbeitete sich durch Fachliteratur; heute ist er überzeugt, dass seine Mutter durch die stetige Einnahme von angeblich kräftigenden Mitteln erkrankte, in denen - völlig legal - Anteile aus Rinderprodukten enthalten sind.
Von der Fachwelt wurde Singeltary lange als versponnener Außenseiter belächelt. Doch mittlerweile sorgen sich auch Experten, dass ausgerechnet diese verschreibungsfreien Wundercocktails zur Stärkung von Intelligenz, Immunsystem oder Libido von den Importbeschränkungen ausgenommen sind. Dabei enthalten die Pillen und Ampullen, die in Supermärkten verkauft werden, exotische Mixturen aus Rinderaugen; dazu Extrakte von Hypophyse oder Kälberföten, Prostata, Lymphknoten und gefriergetrocknetem Schweinemagen. In die USA hereingelassen werden auch Blut, Fett, Gelatine und Samen. Diese Stoffe tauchen noch immer in US-Produkten auf, inklusive Medizin und Kosmetika.
Selbst in Impfstoffen waren möglicherweise gefährliche Rinderprodukte enthalten. Zwar fordert die FDA schon seit acht Jahren die US-Pharmaindustrie auf, keine Stoffe aus Ländern zu benutzen, in denen die Gefahr einer BSE-Infizierung besteht. Aber erst kürzlich verpflichteten sich fünf Unternehmen, darunter Branchenführer wie GlaxoSmithKline, Aventis und American Home Products, ihre Seren nur noch aus unverdächtigem Material herzustellen.
Angesichts langjähriger Versäumnisse sei die Reaktion der Behörden »beängstigend langsam«, rügen Verbraucherschutzgruppen wie das Ärztekomitee für verantwortliche Medizin. Sein Präsident Neal Barnard fordert: »Wir sollten von den Fehlern der Europäer lernen und strikte Vorsichtsregeln verhängen.«
Immerhin, aufgeschreckt durch Verbraucher und unter Druck der Rancher, übertreffen sich die Behörden jetzt in medienwirksamem Aktionismus: In New York City untersuchten Gesundheitsbehörden Kaubonbons aus Deutschland, weil sie angeblich Rindergelatine enthielten. Blutspenden von allen US-Bürgern, die sich nach 1980 länger als sechs Monate in Europa aufhielten, sollen verboten werden: Betroffen sind vor allem Soldaten, die in Europa stationiert waren - bis vor vier Jahren wurden dortige US-Stützpunkte noch mit britischen Rindfleischkonserven beliefert.
Und Anfang des Monats verhängte die neue US-Administration ein vorübergehendes Importverbot für brasilianische Rindfleischprodukte, weil der südamerikanische Staat versäumt hatte nachzuweisen, dass das heimische Vieh frei von BSE-Erkrankungen sei. Wirklicher Schutz vor einer möglichen Ansteckung, so Neal Barnard, bietet hingegen nur absolute Abstinenz: »Verzichten Sie völlig auf Fleisch.«
Für Kenneth Brown sind solche gut gemeinten Ratschläge ein Horrorszenario. Der Besitzer der Vaquero Rinderfarm, der seine Herden noch immer zu Pferd inspiziert, sieht die derzeitige Krise vorüberziehen wie einen texanischen Wolkenbruch. »Das hier ist ein Land für Rinder«, sagt er unter dem ausgestopften Kopf eines prächtigen Longhorn-Bullen, »und Amerikaner werden auch in Zukunft Rindfleisch essen.« STEFAN SIMONS
* Werk des Konzerns Purina Mills in Gonzales.