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LENGEDE Loch in der Schürze

aus DER SPIEGEL 47/1963

Fünf Tage nachdem die Rettungsmannschaften von Lengede ihre Bohrer abgestellt hatten, begann die Industriegewerkschaft Bergbau und Energie nach den Ursachen der Grubenkatastrophe zu bohren.

Auf einer Konferenz in Essen stellten die Kumpel-Funktionäre am vergangenen Dienstag einen Katalog von Fragen zusammen, die der Kollege Karl Krämer, Experte für Grubensicherheit und Inhaber des Steiger-Patents, aus Lengede mitgebracht hatte. Krämer -Mitarbeiter Mutschinsky: »Es ist ja nicht so, daß nur die Bergassessoren etwas von der Sache verstehen.«

Der Sachverstand der Bergbau-Gewerkschaftler konzentrierte sich auf die brüchigste Stelle der Lengeder Unglücksgrube: den geborstenen Klärteich 12. aus dem die todbringenden Wassermassen in den Schacht gestürzt waren.

Der Klarteich, der das bei der Erzwäsche verwendete Schmutzwasser aufnahm, war erst im Sommer des vergangenen Jahres in Betrieb genommen worden. Kurz vor der Katastrophe war er zum erstenmal randvoll gewesen.

Die Anlage eines Klärteiches unmittelbar neben einem Bergwerk ist zwar nicht ungewöhnlich; im Fall Lengede war sie jedoch problematisch: Als Teichbecken wurde die 30 Meter tiefe Grube des früheren Erz-Tagebaus verwendet, von der sieben Stollen schräg abwärts zum Tiefbau führten.

Die Teichbauer der Ilseder Hütte ließen sich deshalb von dem hannoverschen Bodenmechaniker Professor Dr. Alfred Streck beraten. Er fertigte ein Gutachten über die Abdichtung des Klärteichs an, das dem zuständigen Bergamt in Hildesheim zusammen mit dem Betriebsplan zur Genehmigung vorgelegt wurde.

Schon an diesem Vorgang hatten die Experten der IG Bergbau etwas auszusetzen: Der Betriebsplan für den Klärteich sei am 25. Juni 1962 eingereicht und bereits am nächsten Tag von der Bergbehorde genehmigt worden.

Hier irrte die Gewerkschaft: Das Papier, das am 25. Juni vorgelegt und am 26. Juni im Hildesheimer Bergamt abgezeichnet wurde, war nur der fünfte Nachtrag zum Klärteich-Antrag, mit dem sich die Behörde schon zwei Jahre lang - seit dem 30. Juni 1960 - beschäftigt hatte.

Auf den Kern der Lengeder Problematik stießen die Gewerkschaftler mit ihrer Frage, ob die im Streck-Gutachten formulierte »hinreichende« Abdichtung des Klärteiches den Schutz der Untertage-Arbeiter im benachbarten Schacht »Mathilde« tatsächlich garantieren konnte.

Anders als etwa in den Gruben an der Ruhr, wo die Kohle in Tiefen bis zu 900 Meter abgebaut wird und wo deshalb zwischen den auch dort vorhandenen Klärteichen und den Stollen unter Tage jeweils ein wasserundurchlässiges.

»Deckgebirge« liegt, wurde in Lengede verhältnismäßig dicht unter der Erdoberfläche gearbeitet. Das »Mathilde« -Erz lagert in einer Wanne, deren tiefste Stelle gerade 100 Meter erreicht.

Böschung und Boden des Klärteichs mußten daher sorgfältig isoliert werden. An der dem Untertagebau zugewandten Seite des Teichs ließen die Ingenieure eine etwa 40 Zentimeter dicke Lehmdecke - die sogenannte Schürze - auftragen:

Der größte Teil dieser Schürze wurde von der Bochumer Baufirma Wahmann hergestellt. Den Rest fertigten werkeigene Baukolonnen unter Anleitung der Grubendirektion an.

Hütten-Pressechef Medrow: »Eigene Handwerker sind zwar teuer, aber schneller da.«

Die Konstruktion des Lengeder Klärteiches beruhte auf dem Prinzip der

»Abdichtung durch Einspülung« (Professor Streck): Der Schlamm aus der Erzwäsche sollte Boden und Wände des Klärteiches im Laufe der Zeit immer mehr verdichten - je höher das mit festen Stoffen versetzte Erzwaschwasser im Teich stieg, desto stärker und undurchlässiger mußten die Ablagerungen werden.

Streck fachmännisch: »Die Einspülungshöhe hatten wir mit dem abdichtenden Einspülvorgang gekoppelt.«

Der Teich blieb tatsächlich dicht. Er zerbrach jedoch. Diese Möglichkeit war beim Bau der Anlage zwar diskutiert, aber nicht recht ernst genommen worden. Eine derartige Situation, so hatte die Hüttenleitung versichert, könne gar nicht eintreten.

Sicherheitsfunktionär Mutschinsky von der IG Bergbau: »Wasser läuft nun einmal bergab. Es bohrt und bohrt, pult und pult, und wenn es erst mal eine Rille gefunden hat, dann reißt das ganze Gebirge ein.«

An welcher Stelle die Wasserlawine des Klärteiches 12 den Lengeder Berg zerriß, wird kaum zu rekonstruieren sein: Um den Krater zu verstopfen, ließ die Hüttenleitung am Tage nach dem Unglück Tausende Tonnen Erde in den Klarteich schütten - genau an der Stelle, die von der Hütte in eigener Regie isoliert worden war.

Lengeder Klärteich 12: »Es bohrt und bohrt und pult und pult«

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