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GIFT-ANSCHLAG Lost weekend

aus DER SPIEGEL 39/1964

Zwei Tage hatte der sowjetische Geheimdienst Zeit, das Attentat vorzubereiten:

Am Freitag, dem 4. September, hatten fünf niedere diplomatische Dienstgrade der Deutschen Botschaft in Moskau den russischen Sicherheitsbehörden ordnungsgemäß mitgeteilt, daß sie am Sonntag das 85 Kilometer nordöstlich der sowjetischen Metropole in der Stadt Sagorsk gelegene Dreifaltigkeits-Kloster besuchen wollten.

Zu den fünf gehörte auch der Sekretär dritter Klasse Horst Schwirkmann, 36, in Wirklichkeit ein Telephon-Techniker der deutschen Abwehr, den das AA der Botschaft zeitweilig zugeteilt hatte, um festzustellen, ob die Sowjets in dem Botschaftsgebäude an der Großen Grusinischen Straße ähnliche Abhör-Vorrichtungen eingebaut hätten, wie sie in der Holländischen und der Amerikanischen Botschaft aufgespürt worden waren.

In der Klosterkirche fand die Diplomatengruppe in einem jungen, schlanken Novizen einen freundlichen und wortreichen Führer, der die deutschen Sonntagspilger auch zu dem Auferstehungsbild führte, in dessen Nähe ein einfacher Mann mittleren Alters niedergekniet war. Die Besucher gingen an dem stillen Beter vorbei, der sich höflich erhob und hinter Schwirkmann stehenblieb.

Die folgenden Sekunden schilderte Schwirkmann so: »Plötzlich fühlte ich, wie mein linkes Hosenbein am Oberschenkel naß wurde. Ich hatte den Eindruck, ich sei mit Weihwasser bespritzt worden. Dann wurde es an der nassen Stelle plötzlich kalt. Fast wie Eis. Als ich mich herumdrehte, sah ich, wie sich der Mann eiligst entfernte.«

Schwirkmann und seine Begleiter bemerkten einen Gestank wie nach verfaultem Kohl, was Schwirkmann und ein anderer Botschaftsangehöriger, der Erfahrung in Abwehrfragen besitzt, sofort als den Geruch von Senfgas, auch unter der militärischen Bezeichnung »Gelbkreuz« und »Lost« bekannt, identifizierten*.

»Irgendeinen Knall habe ich nicht gehört und keinen Schlag gegen den Oberschenkel verspürt«, berichtete Schwirkmann später dem amerikanischen Botschaftsarzt Dr. Street, der ihn als erster behandelte.

Damit entfiel der Verdacht, das Attentat sei mittels einer Hochdruckpistole geschehen, wie sie der russische Agent Staschynski 1957 und 1959 in München bei zwei Giftanschlägen auf Exil-Ukrainer benutzt hatte.

Vielmehr erwies eine Untersuchung von kriminalistischen und technischen Sachverständigen in Bonn, daß der Anschlag mit Hilfe einer Spraydose aus, geführt worden war. Das verwendete Senfgas war in einer organischen Flüssigkeit aufgelöst, die schnell verdampft und so auf dem Körper, ähnlich wie Äther, ein Kältegefühl erzeugt.

Warum Senfgas und nicht ein geruchloser Kampfstoff verwendet wurde, dafür haben deutsche und alliierte Abwehrexperten folgende Erklärung: Geruchlos sind Nerven-Kampfstoffe, die allerdings eine sofort tödliche Wirkung haben. Es habe aber nicht in der Absicht des russischen Geheimdienstes gelegen, Schwirkmann zu töten, sondern man wollte erreichen, daß der deutsche Abhör-Fachmann seine Verletzung durch Senfgas erkennen und sich wegen der bekannten Wirkung des Giftstoffes unverzüglich in das nächste russische Krankenhaus begeben sollte. Dort wären dann Agenten der russischen Gegenspionage in der Lage gewesen, Schwirkmann zu vernehmen und hinter seine Schliche zu kommen. Der Deutsche ging aber nicht in die russische Falle, obwohl ihm, wie er in der Amerikanischen Botschaft erklärte, die Wirkung von Lost genau bekannt war. Nur 20 Minuten gibt es ein sofort wirksames Gegenmittel, nämlich Chlorkalk. Nach dieser Zeitspanne hat der schmierige, flüssige Giftstoff die Oberhaut durchdrungen, und Chlorkalk hilft nicht mehr.

Die Diplomatengruppe brachte Schwirkmann unverzüglich nach Moskau zurück, wo der deutsche Abwehrmann den Arzt der Amerikanischen Botschaft aufsuchte. Als er bei Dr. Street eintraf, hatten sich auf der Haut - wie in Perlenschnüren angeordnet - kleine Bläschen gebildet. Ein mehr als handflächengroßes Stück des Oberschenkels war gerötet, zudem war der von den Lost -Dämpfen beschädigte Unterleib bereits angeschwollen. Street, ein Militärarzt und mit chemischen Kampfstoffen vertraut, teilte der Deutschen Botschaft sofort seine Diagnose mit.

Die Botschaft bemühte sich, den für Dienstag letzter Woche vorgesehenen Rückflug Schwirkmanns zu beschleunigen und einen Platz in einer KLM -Maschine nach Amsterdam zu buchen. Aeroflot, die sowjetische Luftverkehrs -Gesellschaft, die auch die KLM-Buchungen abfertigt, gab die unzutreffende Auskunft, daß die Maschine besetzt sei. So konnte Schwirkmann erst - wie schon vor dem Attentat vorgesehen - am Dienstag über Warschau in die Bundesrepublik zurückkehren. Einen Tag später kam auch Dr. Street nach Bonn.

In der Bonner Universitätsklinik wird Schwirkmann, dessen Zimmer ständig von der politischen Polizei bewacht wird, von dem Hautspezialisten Professor Artur Leinbrock behandelt. Das AA bestellte außerdem bei dem Bonner Professor Dr. Otto R. Klimmer ein Fachgutachten. Klimmer ist ein führender Toxikologe, der Erfahrungen mit Gelbkreuz hat

Er hat im Zweiten Weltkrieg deutsche Soldaten untersucht, die am 8. September 1939 bei Jaslo in Polen durch Lost verwundet worden waren. Damals hatten die Polen - wie sich später herausstellte, durch das Versehen eines polnischen Unteroffiziers - in eine Straßensperre eine Kampfstoffmine eingebaut. Beim Räumen dieser Sperre explodierte die mit einem Zugzünder versehene Mine und besprühte die deutschen Soldaten.

Als Professor Klimmer Schwirkmann aufsuchte, hatten sich auf dessen Haut bereits große Blasen mit bernsteingelber Füllung gebildet, unter denen das Gewebe wie bei einer Strahlenschädigung zerfiel. Nieren, Nebennieren und die Schleimhäute des Darms waren schon beschädigt. Doch bestand keine Lebensgefahr.

Außenminister Schröder hatte von der »Abrechnung zwischen Geheimdiensten« ("Le Figaro") zuerst am Montag, dem 7. September durch ein chiffriertes Telegramm aus Moskau erfahren. Ein ausführlicher schriftlicher Rapport aus Moskau ging am Dienstag ein. Am Mittwoch unterrichtete er den Bundeskanzler, und am Freitag wurden die drei Fraktionsvorsitzenden von Erhard während einer Besprechung über die Passierscheinfrage informiert, nachdem Klimmers Gutachten die Gelbkreuz-Diagnose des amerikanischen Arztes bestätigt hatte.

Alle Mitwisser wurden zu strengster Geheimhaltung verpflichtet. Das Auswärtige Amt wollte den Vorfall möglichst unter Ausschuß der Öffentlichkeit erledigen, um die zukünftige Tätigkeit solcher Anti-Abhörfachleute nicht zu gefährden.

Außerdem befürchtete Außenminister Schröder, ein Bekanntwerden des Zwischenfalls könnte die geplante deutsch sowjetische Gipfelkonferenz in ähnlicher Weise zum Scheitern bringen, wie der Abschuß des amerikanischen U 2 -Piloten Gary Powers über Swerdlowsk die Pariser Gipfelkonferenz des Jahres 1960.

Fünf Tage lang vermochte der Bundesaußenminister das Geheimnis zu wahren. Einen Tag nachdem die Parlamentarier unterrichtet worden waren, wurde es gebrochen: Am Sonnabend vorletzter Woche veröffentlichte der Bonner Korrespondent des Berliner »Tagesspiegel« Dr. Wolfgang Wagner in seinem Blatt eine erste Meldung.

Das erste Bonmot lieferte einem Washingtoner Ondit zufolge Allen Dulles, Amerikas ehemaliger Geheimdienstchef. Dulles, der den Bestseller »From Russia with love« für das beste Buch des kürzlich verstorbenen Spionageautoren und James-Bond-Schöpfers. Ian Fleming, hält (siehe Seite 28), kommentierte die Rückkehr des im Moskauer Kloster mit Lost vergifteten deutschen Agenten: »From Russia with Lost«.

Zunächst versuchte das Außenamt, die Verschleierungstaktik fortzuführen. Es verbreitete die Version, Schwirkmann sei Elektronik-Spezialist einer Privatfirma und der Moskauer Botschaft lediglich ausgeborgt worden. In Wirklichkeit liegt Schwirkmanns private Tätigkeit genau elf Jahre zurück. Damals war der Essener in der Elektrik-Bauabteilung des Radio-Hauses Fern in-Essen tätig, wobei er sich nach Auskunft seines früheren Chefs als »ein besonders passionierter Bastler« erwiesen hatte.

Später ging Schwirkmann, wie er Arbeitskollegen erzählte, zu einem »staatlichen Institut« nach Frankfurt und wurde von dort 1961 dem AA als Spezialist für Lausch-Verhinderung beigeordnet. »Wir haben mehrere solcher Fachleute«, erklärt das offenherziger gewordene AA heute. »Schwirkmann war häufiger in Moskau.«

Bei seinen Aufenthalten in der sowjetischen Hauptstadt wurde Schwirkmann - genau wie die übrigen Beamten des Hausdienstes - im Kellergeschoß des Botschaftsgebäudes untergebracht.

Schwirkmann hat bei den Hausdurchsuchungen in Moskau allerdings nur vorbereitete Zapfstellen, aber keine funktionierenden Abhör-Anlagen entdeckt. Die Version, der Telephonbastler habe an solchen Zapfstellen eine Gegenvorrichtung angebracht, die demjenigen elektrische Schläge verpaßt, der die Zapfstellen benutzen wolle, wird von amtlichen Stellen bestritten.

Am selben Tag, an dem auch die Bonner Fraktionsvorsitzenden ins Bild gesetzt wurden, überreichte Außenminister Schröder dem sowjetischen Botschafter Smirnow einen scharfen Protest, in dem er volle Aufklärung und die Bestrafung der Schuldigen an dem Attentat in dem Kloster forderte. Sarkastisch antwortete der Botschafter: »Da sehen Sie, was für Leute bei uns in die Kirchen gehen.«

Das AA teilte später mit, Smirnow habe den Protest angenommen. Die Sowjet-Botschaft bestritt in der vergangenen Woche diese Darstellung und fügte hinzu, Smirnow habe lediglich zugesagt, er werde Schröders Protest nach Moskau berichten. Und weiter: Smirnow habe den mündlichen Vortrag Schröders als »nebulös« zurückgewiesen. Das Protest-Papier müsse noch jetzt im Zimmer des Außenministers liegen,

Dazu Schröder: »Ich sehe Smirnow noch jetzt vor mir, wie er das Papier in die Tasche steckt.«

* Lost, nach den ersten zwei Anfangsbuchstaben der deutschen Erfinder Lommel und Steinkopf. Der Kampfstoff wurde während des Ersten Weltkriegs verwendet, Adolf Hitler wäre 1918 an einer Giftgasverwundung fast erblindet

Attentats-Opfer Schwirkmann

»Ich hatte den Eindruck ...

..ich sei mit Weihwasser bespritzt": Attentats-Kloster in Sagorsk-

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