»LUCY« CONTRA OKH
Aus dem Kriegstagebuch eines Sowjet-Spions / Von Alexander Foote
In der letzten Fortsetzung berichtete Alexander Foote über die Auflösung des Schweizer Netzes: Die Funksender Hamels und »Rosas« werden ausgehoben, Rado verkriecht sich bei der Schweizer KP und nimmt an der weiteren Arbeit des Netzes keinen Anteil. Foote setzt die Durchgabe der Meldungen »Lucys« nach Moskau fort, bis am 20. November 1945 - mitten im Funkverkehr - auch bei ihm die Schweizer Polizei erscheint. Das Netz ist stillgelegt.
Meine Verhaftung ging nicht ganz planmäßig vor sich; ich hatte daher die Möglichkeit, aus der Konkursmasse einiges zu retten. Man hatte gerechnet, daß die Tür unter den Beilhieben sofort nachgeben und auffliegen würde, so daß ich auf frischer Tat ertappt werden könnte. In Wirklichkeit gab das Schloß nicht nach, und es war schließlich der Türrahmen, der ausbrach. Infolgedessen vergingen etwa drei Minuten, während die Polizei sich bemühte, den Eingang aufzubrechen, eine Atempause, die ich zu nutzen verstand. Es gelang mir, den Sender unbrauchbar zu machen und die wenigen Unterlagen, die ich besaß, in einem großen Messing-Aschenbecher, den ich für diesen Zweck immer bereit hatte, zu verbrennen. Das Feuer wurde auf wohlüberlegte Weise noch durch Beigabe von Feuerzeugbenzin genährt, das stets in einer für solche Notfälle bereitgehaltenen Flasche neben mir stand.
Meine erste Reaktion auf dieses reichlich unzeremonielle Eindringen fremder Menschen war der Gedanke, es handle sich um die deutsche Abwehr, ein Gedanke, der auch durch die erste Bemerkung nicht zerstreut wurde, die von den hereinströmenden uniformierten Gestalten gemacht wurde. Eine Stimme rief »Hände hoch«, und diese Aufforderung wurde noch durch eine höchst zielgerechte Bewegung mit einer Selbstladepistole unterstrichen. Ein zweiter Blick verschaffte mir aber die Gewißheit, daß ich mich noch immer in den Händen der Demokratien befand.
Die Polizei war von zwei Funktechnikern begleitet, die sofort versuchten, die Funkverbindung wiederherzustellen. Sie konnten aber mit meinem beschädigten Gerät nichts mehr anfangen. Mitgekommen war auch ein jovialer, bärtiger, junger Kryptograph, Marc Payot, der vergeblich nach Hinweisen zu suchen begann, die ihm helfen könnten, den Schlüssel zu brechen. Er gestand mir später, als er mich im Gefängnis besuchte, daß er Monate hindurch erfolglos an der Entzifferung meiner Sprüche gearbeitet hatte. Es war sein Fehler gewesen, anzunehmen, daß mein Code dem Typ nach mit Rados Schlüssel übereinstimme, den er dank Rados Fahrlässigkeit natürlich hatte lösen können.
Ich erfuhr später in Moskau, daß die Schweizer Funker den Versuch unternommen hatten, den Verkehr mit der Zentrale wiederaufzunehmen und einige Tage später mit meinem Gerät, das repariert worden war, Moskau gerufen hatten. Meine Rufzeichen kannten sie natürlich, da sie meinen Funkverkehr monatelang überwacht hatten, aber sie machten den Fehler, Rados Schlüssel zu verwenden, den einzigen Schlüssel, den sie besaßen. Das erweckte sofort den Verdacht der Zentrale, die feststellte, daß sich die Schweizer Morsetechnik von der meinigen unterschied. Ein paar Fangfragen des Direktors erbrachten rasch den Beweis, daß das Gerät von den Schweizern bedient wurde und daß von unserem Netz niemand Hilfestellung leistete.
Während die Inspektoren Pasche und Knecht, die mit der Durchführung des Unternehmens beauftragt waren, die Wohnung durchsuchten, wurde ich in die Halle hinausgeführt und einem jungen, bewaffneten Kriminalbeamten zur Bewachung übergeben. Ich war mit mir selbst eigentlich recht zufrieden und wollte mir
gerade zu der Tatsache gratulieren, daß ich keine verdächtigen Hinweise hinterlassen hatte. Denn ich hatte seit den ersten Verhaftungen mit einer derartigen Aktion gerechnet und in den vorausgegangenen Wochen alle Unterlagen, Geldabrechnungen usw. vernichtet, so daß für die Polizei nicht viel übriggeblieben war, außer einem Haufen verkohlter Asche und einem beschädigten Funkgerät. Da wurde ich jäh aus meiner angenehmen Träumerei gerissen, denn ich sah auf dem Tisch in der Halle meine Taschenlampe liegen. Sie war eine von der langen dünnen Art, zu der man zwei Eineinhalb-Volt-Batterien gebraucht. Die obere Batterie war echt, aber die untere hatte ich ausgehöhlt und als Versteck für Geheimunterlagen verwendet. Ein paar Tage vorher hatte ich die Namen und Adressen verschiedener Leute erfahren, die ich als Funker und Mittelsleute zu werben gedachte Ich hatte die Absicht gehabt, mir die Daten auswendig zu merken, und hatte sie halbverschlüsselt niedergeschrieben, ohne sie jedoch zu überschlüsseln, was für mich ebenso leicht wie Klartext zu lesen war. Wenn man aber diese Aufzeichnungen fand, so konnte mein Schlüssel durch jeden tüchtigen Entschlüsseler leicht gelöst werden. Das mußte katastrophale Folgen haben, denn es würde unter anderem zur Verhaftung zahlreicher anderer Mitarbeiter führen und mein Todesurteil bedeuten, wenn ich je in sowjetische Hände fallen sollte.
Zu meinem Entsetzen nahm der Wachposten die Lampe in die Hand und fing an, mit dem Schalthebel zu spielen. Als er merkte, daß sie nicht funktionierte, legte er sie Gott sei Dank wieder auf den Tisch zurück. Die Lampe wurde dann zusammen mit meinem anderen Eigentum mit ins Gefängnis befördert, und später konnte ich den Antrag stellen, daß sie mir wieder ausgehändigt werde, so daß ich die Sprüche herausziehen und aufessen konnte (wobei ich den besten Traditionen der Spionage folgte).
Die Durchsuchung dauerte nicht lange. Die Polizei fand ohne Schwierigkeiten das Versteck für mein Funkgerät, denn die Verstecktür stand offen, weil das Gerät zur Zeit der Verhaftung gerade in Betrieb gewesen war. Ich hatte mir in einer Höhlung oberhalb eines eingebauten Schrankes in meinem Wohnzimmer ein Versteck eingerichtet. Die Fugen paßten sich so gut der Wand an, daß Pasche und Knecht zugaben, sie hätten es nicht so leicht entdeckt, wenn die Tür geschlossen gewesen wäre.
Das Versteck enthielt bei meiner Aushebung nur meine Bargeldreserve. Die Polizei jedoch befürchtete, es könne eine Höllenmaschine darin verborgen sein, und brachte mich in das Zimmer zurück, damit ich selbst herausnehmen sollte, was sich ihren Augen dort offen darbot.
Etwa um drei Uhr morgens wurde ich im Auto zum Polizeipräsidium Lausanne gebracht. Meine Vernehmung durch Pasche und Knecht dauerte bis zum folgenden Abend. Zur Zeit meiner Verhaftung waren sie sehr entgegenkommend gewesen, und die ganze Affäre war in der Atmosphäre internationaler Freundschaft abgewickelt worden. Vom Beginn der Vernehmung an war jedoch ein deutlicher Wechsel in ihrer Einstellung festzustellen; sie setzten sehr ernste und strenge Mienen auf. Pasche eröffnete das Verhör, da er der mit dem Fall Beauftragte war; Knecht fungierte als Bundespolizeichef für den Kanton Genf.
»Es wäre sinnlos, wenn Sie Ihre Tätigkeit leugnen wollten, Foote«, sagte Pasche. »Die Untersuchungsgefangene Bolli ('Rosa') und die beiden Hamels haben lange Erklärungen abgegeben, die Sie schwer belasten; Ihre Tätigkeit ist bekannt. Sie brauchen jetzt nur ein umfassendes Geständnis abzulegen, und Sie werden sofort entlassen.« Er fügte hinzu, nichts deute darauf hin, daß ich gegen Schweizer Interessen tätig gewesen sei, und was ihn
persönlich betreffe, so sei er mir günstig gesonnen, da ich gegen Deutschland gearbeitet habe - das einzige Land in der Welt, das die Schweizer Unabhängigkeit bedrohe - , auch wenn ich für die Sowjet-Union und nicht für meine eigene Heimat tätig gewesen sei.
Ich wies darauf hin, daß ich in den Augen der Sowjet-Union von einer Macht verhaftet worden sei, die zu den Feindstaaten zähle, denn jedes Land, das nicht ihr Verbündeter sei, werde in der Sowjet-Union als Feind betrachtet. Wenn man mich sofort entließe, so würde man dort glauben, ich hätte alle Geheimnisse preisgegeben, um entlassen zu werden. Ich verlangte deshalb, hinter Schloß und Riegel zu bleiben und darüber hinaus länger eingesperrt zu werden als alle anderen verhafteten Personen, da die gegen mich erhobene Anklage doch recht schwer zu sein scheine. Die Schweizer Polizei könne mich einsperren; die Sowjets dagegen könnten mich erschießen, und ich müsse ein paar Jahren in einem Schweizer Gefängnis durchaus den Vorzug vor ein paar Minuten an einer sowjetischen Mauer zuerkennen.
Diese Redeweise verblüffte Pasche; er war nicht daran gewöhnt, daß Untersuchungsgefangene darum baten, festgesetzt zu werden und die Möglichkeit der Freilassung ausschlugen. Dann bat er mich fast, eine Erklärung abzugeben, und ich antwortete, das würde ich eventuell tun, wenn ich Zeit gehabt hätte, mir die Sache zu überlegen und mit meinem Anwalt zu sprechen. Darauf wurde mir gesagt, daß die in Kriegszeiten gültigen Ausnahmebestimmungen, unter denen ich inhaftiert sei, die Zuziehung eines Anwalts nicht gestatteten, solange die Polizei die Untersuchung gegen mich nicht abgeschlossen habe. Dementsprechend könne man mich auf unbestimmte Zeit, ohne jegliche Verbindung mit der Außenwelt, gefangenhalten.
Danach zog sich die Vernehmung den ganzen Tag über hin und verflachte schließlich zu einer allgemeinen Diskussion, bis wir alles Mögliche und Unmögliche außer dem vorliegenden Fall durchdiskutiert hatten. Bei Einbruch der Dunkelheit wurde ich schließlich aus dem Polizeigefängnis in das Bois-Mermet-Gefängnis transportiert, wo ich die nächsten zehn Monate zubringen sollte.
Ein paar Tage später wurde ich erneut von Pasche, Knecht und anderen Polizeibeamten besucht und erfuhr, daß ich in einer Stunde erneut einem Kreuzverhör unterzogen werden würde, daß ich aber diesmal alles, was ich wisse, aussagen müsse, da es mir sonst schlecht ergehen könne. Ich gab zu bedenken, daß man das Verfahren erleichtern könne, wenn ein paar Flaschen Scotch Whisky und Schnaps aus meinem Keller geholt würden, da sie die Zeit vertreiben helfen und auch sonst vielleicht meine Zunge lösen könnten. Ich wurde aus meiner Zelle in das Vernehmungszimmer gebracht, und man spannte ein neues Blatt Papier in die Schreibmaschine, um mein Geständnis aufzunehmen. Das Papier war am Ende der Vernehmung noch genau so jungfräulich, wie es am Anfang gewesen war. Mit Hilfe des Whiskys und des Schnapses hatten wir uns alle sehr gut unterhalten, und wenn es auch die Untersuchung keinen Schritt weiterbrachte, so festigte es jedenfalls die englisch-schweizerischen Beziehungen. Ich kann nur hoffen, daß ich, falls ich wieder einmal wegen Spionage verhaftet werden sollte, ebenso freundlichen und höflichen Vernehmern begegnen werde.
Obwohl sie nichts von mir erfuhren, gelang es mir, einiges von ihnen in Erfahrung zu bringen. Sie hatten keine Ahnung, wo sich
Rado versteckt hielt. Sie hatten natürlich viel von »Lucys« Material gefunden, als sie Hamels Wohnung durchsuchten, und hatten aus dem Inhalt einiger Meldungen, besonders aus einer über ein Schweizer Geschütz, geschlossen, daß »Lucy« wahrscheinlich niemand anders als ihr geschätzter Sachverständiger und V-Mann war. Diese Vermutung konnten sie dadurch bestätigen, daß die »Lucy«-Meldung und das Material, das er dem Schweizer Generalstab übergeben hatte, auf derselben Schreibmaschine geschrieben waren. Er wurde jedoch erst lange nach mir verhaftet und wurde auch dann nur drei Monate in Haft gehalten, bevor er mit einer Bescheinigung des Generalstabs wieder entlassen wurde.
Ich erfuhr außerdem, daß die Schweizer von dem Fluchtplan für die Hamels und »Rosa« wußten, denn sie hatten einige der Sprüche entziffert, die die Zentrale über dieses Thema an Rado gerichtet hatte. Infolgedessen hatten sie die drei aus Genf verlegt, und auch sie befanden sich jetzt im Bois-Mermet-Gefängnis.
Anfang September 1944, nachdem ich zehn Monate im Gefängnis verbracht hatte, besuchte mich ein gewisser Captain Blazer, der der Rechtsabteilung der Schweizer Armee angehörte. Er erklärte, daß die Bundespolizei ihre Untersuchung gegen mich eingestellt habe und daß der Fall an die Armee zur weiteren Veranlassung abgetreten worden sei. Er fügte hinzu, es läge kein Beweis dafür vor, daß ich gegen Schweizer Interessen gearbeitet hätte, so daß ich bis zum Kriegsgerichtsverfahren gegen Kaution freigelassen werden könne. Allerdings müsse ich zunächst eine Erklärung unterzeichnen, als Sowjetagent gearbeitet zu haben.
Ich erklärte, eine solche Erklärung nicht abgeben zu können, ehe ich einen Anwalt gesprochen hätte, worauf Blazer einen Artikel des Militär-Gesetzblattes herauszog, der bestimmt, daß Personen, die wegen Spionage oder Vergehens gegen die Neutralitätsgesetze festgenommen sind, kein Recht auf Rechtsschutz besitzen, bis die Anklage gegen sie fertiggestellt ist. Das war dieselbe Antwort, die die Polizei mir gegeben hatte, nur daß es in diesem Falle schwarz auf weiß zu lesen war.
Ich mußte das Angebot leider ablehnen, denn es gehört zu den Gesetzen der Zentrale, daß ein verhafteter Agent niemals zugeben darf, für die Sowjet-Union gearbeitet zu haben. Einen Tag später jedoch besuchte mich Blazer abermals und sagte, er sei ganz verzweifelt, daß ein Mensch, der gegen den einzig möglichen Feind der Schweiz - nämlich Deutschland - tätig gewesen sei, im Gefängnis sitzen solle. Er schlug deshalb vor, ich solle eine Erklärung des Inhalts unterzeichnen, daß ich für einen Mitgliedstaat der verbündeten Mächte gearbeitet hätte, jegliche Erwähnung der Sowjet-Union solle unterbleiben. Dazu war ich bereit, und nachdem ich die Erklärung und einen Scheck auf 2000 Franken als Kaution unterschrieben hatte, wurde ich am 8. September 1944 auf freien Fuß gesetzt.
Es war ganz klar, daß, bevor irgend etwas anderes getan werden konnte, »Lucy« aufgesucht werden mußte. Er war zur selben Zeit wie ich entlassen worden, und kurze Zeit darauf verabredeten wir uns zu einem Treffen in Zürich, im Restaurant Bolognese in der Kasernenstraße. Ich erwartete mit einer gewissen Neugierde das Erscheinen dieses Agenten, der seine Linien so tief in
die geheimsten Bezirke des Hitler-Reiches geführt hatte. Ein unscheinbarer, stiller, kleiner Mann tauchte plötzlich an meinem Tisch auf. Es war »Lucy«. Sich jemand vorzustellen, der eine geringere Ähnlichkeit mit dem Agenten aus einem Spionageroman hat, ist kaum möglich. Infolgedessen war er genau das, was man von einem Agenten im wirklichen Leben erwartet. Von farblosem Aussehen, mittelgroß, ungefähr fünfzig Jahre alt, mit sanften Augen, die hinter Brillengläsern hervorschauten, sah er genau so aus wie irgend jemand in irgendeinem Vorortzug irgendwo in der Welt.
Es war für uns nicht schwer, einander zu erkennen. Als er im Gefängnis war, hatte man ihm Photographien von mir gezeigt, und andererseits genügten ein paar Fragen, um zu beweisen, daß er tatsächlich »Lucy« war. Er erklärte, trotz der Juli-Ereignisse in Deutschland noch immer in der Lage zu sein, so wie früher Nachrichten zu liefern. Und er könne es kaum erwarten, daß die Verbindungen wiederhergestellt würden, damit er sein Material regelmäßig an die Zentrale durchgeben könne.
Während der zehn Monate, die ich im Gefängnis gewesen war, hatte »Lucy« weiterhin von seinen Quellen Informationen erhalten, die aber natürlich nicht an die Zentrale durchgegeben werden konnten.
Es war wesentlich, daß jemand so bald wie möglich nach dem bereits von den Alliierten besetzten Paris fuhr, um das ganze Netz wiederherzustellen. Rado hätte das tun können und tun sollen, aber er war ohne ein Wort und ohne irgendwelche Verabredungen abgereist. Selbstverständlich war ich jetzt an der Reihe, denn ich hatte die Aufgaben des Leiters übernommen, als Rado untertauchte.
Zu jener Zeit - November 1944 - befand sich Frankreich in einem Zustand des Chaos; alle normalen Verkehrslinien waren unterbrochen. Ich gab deshalb Auftrag an einen Mittelsmann, eine Fahrt nach Paris zu arrangieren, wobei ich darauf hinwies, daß die Fahrt so schnell wie möglich und ohne irgendwelche Visums- und Paßformalitäten stattfinden müsse. Er verabredete einen Treff mit mir in einem Café nahe der Schweizer Grenze auf dem Wege zur Schweizer Grenzstadt Annemasse. Er würde dort mit zwei Leuten an einem Tisch sitzen, mit dem Polizeichef und dem Präsidenten des Befreiungskomitees von Annemasse, und ich müsse ihnen Geld und Ausweise als Vorkehrung für den Fall aushändigen, daß ich vom Schweizer Zoll untersucht würde. Nach dem Verlassen der Schweiz würden mich diese beiden Herren im Niemandsland aufnehmen und durch die französischen Kontrollen bringen.
Die ganze Sache funktionierte wie nach einer Zauberformel. Ich verließ die Schweiz auf meinen gültigen britischen Paß, worauf sich meine beiden neuen Freunde und noch zusätzliche Verstärkung in Gestalt zweier junger Mitglieder des Maquis, die mit Maschinenpistolen ausgestattet waren, anschlossen und die französischen Zollbeamten und Grenzposten auf die Seite schoben. So betrat ich Frankreich zum ersten Male seit dem Beginn des Krieges.
Ich erhielt meine Ausweise zurück und empfing einen Geleitbrief nach Paris. Außerdem fand sich ein Platz in einem Auto, das gerade im Begriff stand, nach der Hauptstadt zu fahren.
Spät am Abend kam ich in Paris an und erhielt von einem meiner Mitreisenden ein Bett zum Schlafen.
Am nächsten Morgen begab ich mich auf die Suche nach einem sowjetischen Vertreter, dem ich meine Geschichte erzählen konnte.
Der erste Hafen, den ich anlief, war natürlich die Sowjet-Botschaft in der Rue Grenelle. Ich näherte mich ihr nur unter Vorsichtsmaßregeln, da ich die Verhältnisse in Paris nicht kannte und nicht wußte, ob das Gebäude vielleicht beobachtet wurde und ob die Ankunft einer Einzelperson auffallen könnte. Ich hätte mir keine Sorgen zu machen brauchen; es herrschte dort ein völliges Chaos. Ich konnte niemanden ausfindig machen, der überhaupt irgend etwas wußte und der mir hätte sagen können, welche Aufgaben die einzelnen Leute hatten und wo sie sich befanden; es gelang mir nur unter den größten Schwierigkeiten, jemanden zu finden, der eine westliche Sprache verstand.
Das ganze Erdgeschoß der Botschaft war von einer brodelnden Masse ehemaliger sowjetischer Kriegsgefangener bevölkert, die mich um Zigaretten anbettelten. Schließlich gelang es mir, eine sprachliche Verbindung mit einem etwas manierlich aussehenden Menschen herzustellen, der begriff, daß ich einen hohen Beamten zu sprechen wünschte. Er gab mir eine Adresse in der Rue Prony, wo, wie er behauptete, einige sowjetische Beamte wohnten, bei denen es sich vielleicht um diejenigen handelte, die ich suchte. Es war offenbar nutzlos, zu bleiben, wo ich war, und da sich außerdem mein Zigarettenvorrat lichtete, begab ich mich zu der angegebenen Adresse. Dort stellte ich fest, daß die sowjetische Militärmission gerade in das Gebäude der ehemaligen Lettischen Gesandtschaft eingezogen und damit beschäftigt war, sich einzurichten.
Der Pförtner sprach glücklicherweise Französisch, da er einen Teil des Krieges bei den Maquis gekämpft hatte. Ich sagte ihm,
ich wünschte den »Chef« zu sprechen, da ich wichtige Nachrichten aus der Schweiz zu überbringen hätte. Kurz darauf wurde ich hineingeführt und traf auf Oberstleutnant Nowikow, der Leiter der Mission zu sein schien.
Nowikow war ein hochgewachsener, blonder Luftwaffenoffizier mit mehr als der gewöhnlichen Portion slawischen Charmes. Leider war er zum erstenmal im Ausland, und leider schien er außerdem nicht viel Ahnung von der nachrichtendienstlichen Arbeit zu haben. Die Angelegenheit wurde auch dadurch nicht erleichtert, daß er bei unserem Gespräch nur bereit war, Russisch zu sprechen, so daß die Unterhaltung über seinen Adjutanten, der als Dolmetscher fungierte, geführt werden mußte. Zunächst wollte er mich nicht als das anerkennen, was ich war, und reagierte nicht auf meine Bitte, sich mit der Zentrale in Verbindung zu setzen. Später erzählte er mir, daß ihm vor seiner Abreise aus Moskau eingeschärft worden sei, vor agents provocateurs auf der Hut zu sein und alle unbekannten Besucher so lange als solche zu behandeln. bis sich das Gegenteil herausgestellt habe.
Als wir bei diesem ersten Gespräch fast auf dem toten Punkt angekommen waren, betrat glücklicherweise der sowjetische Marine-Attaché aus London das Zimmer und schaltete sich ein. Er war in nachrichtendienstlichen Fragen offenbar versiert und
bedeutete Nowikow, nachdem er sich durch ein paar Fragen von meiner Echtheit überzeugt zu haben schien, mich entsprechend zu behandeln. Ich bin sicher, daß auch er früher einmal für die Zentrale gearbeitet hatte, denn Rados und mein Deckname schienen ihm bekannt zu sein, und als er nach den Decknamen unserer Hauptquellen fragte, schienen ihn die Antworten zu befriedigen, als ob sie mit seiner Erinnerung irgendwie übereinstimmten.
Nachdem das Vertrauen hergestellt war, bat ich Nowikow gleich, mich mit Rado zusammenzubringen, denn ich glaubte auf Grund der Tatsache, daß Rado einige Wochen vor mir aus der Schweiz nach Paris gefahren war, mit Bestimmtheit, daß er längst eingetroffen sei und seinen »Auftritt« bereits absolviert habe. Nowikow versicherte mir jedoch, daß Rado noch nicht erschienen sei. Er war dann damit einverstanden, ein Kabel nach Moskau zu schicken, das meinen Decknamen und außerdem die Decknamen der anderen Mitarbeiter, wie »Albert« (Rado), »Lucy« usw., enthielt, und die an mich zu richtenden Kontrollfragen anzufordern. Er war außerdem bereit, das umfangreiche Nachrichtenmaterial weiterzuleiten, das ich von »Lucy« mitgebracht hatte.
Die Zentrale übermittelte eine ganze Reihe von Fragen zur Beantwortung durch mich, von denen die meisten begreiflicherweise den Nachrichtendienst und das Schicksal der Organisation betrafen. Die eine oder andere dieser Fragen war jedoch recht merkwürdig; zum Beispiel: »Waren Agenten der deutschen Abwehr zugegen, als Sie von der Schweizer Polizei verhört wurden?« Ich nehme an, die Zentrale glaubte, daß meine Verhaftung auf Tips der deutschen Abwehr zurückzuführen sei und daß die Beziehungen zwischen Schweizer Bundespolizei und der Abwehr viel enger gewesen seien. als es in Wirklichkeit der Fall war; oder aber es handelte sich um eine Fangfrage von solcher Feinheit, daß ich ihren Sinn nicht erkennen konnte. Der Direktor war außerdem sehr in Sorge um Rados Schicksal und beauftragte Nowikow, vorsichtig festzustellen, ob Rado nicht vielleicht doch von der Schweizer Polizei verhaftet worden sei.
In meiner ersten an die Zentrale durchgegebenen Nachricht hatte ich darauf hingewiesen, daß das Schweizer Netz völlig intakt sei und lediglich Nachrichtenmittel und Geld gebraucht würden; dann könne es jederzeit die Arbeit im alten Stile wiederaufnehmen. Ich hatte vorgeschlagen, einen neuen Sender entweder in Genf oder dicht jenseits der Grenze in dem von französischen Kommunisten kontrollierten Annemasse einzusetzen, wobei die örtlichen französischen und Schweizer KP-Kreise den Kurierdienst zu den hauptverbindungsleuten in der Schweiz übernehmen konnten. Der Direktor entschied sich für den zweiten Vorschlag, und ich erhielt den Auftrag, genaue Einsatzpläne auszuarbeiten.
Nachdem die Funksprüche besprochen worden waren, wurde ich angewiesen, regelmäßig alle zwei oder drei Tage unter dem Schutze der Dunkelheit die Militärmission aufzusuchen. Die Mission war in der Zwischenzeit in die ehemalige Estnische Gesandtschaft in der Rue du General Appert gezogen, wo man zur Beschleunigung der Nachrichtenübermittlung einen Kurzwellensender eingerichtet hatte. Bei einem dieser Besuche erhielt ich den Befehl, an die Ausführung des Planes zu gehen, nämlich die Leitstelle des Schweizer Netzes in Annemasse einzurichten; außerdem erfuhr ich, daß man in Kürze einen falschen holländischen Paß und einen neuen Schlüssel durch Kurier übersenden würde.
Kurz darauf wurde mir eröffnet, daß alle Planungen geändert seien und ich erst zu Beratungen nach Moskau fahren müsse. Ich würde in dem Flugzeug nach Moskau fliegen, das vorher Maurice Thorez aus der Sowjetunion nach Frankreich zurückbringen würde. Das Flugzeug kam gegen Ende November an und sollte nach ein paar Tagen zurückfliegen.
Dazu kam es jedoch nicht, da der Pilot und die übrige Besatzung eifrig damit beschäftigt waren, die Lebensgenüsse außerhalb des Eisernen Vorhangs kennenzulernen. Die Folge davon war, daß die Besatzung eine Fülle ausgeklügelter Entschuldigungen vorbrachte, angefangen von technischen Defekten und schlechtem Flugwetter über versteckte Anspielungen auf Sabotage durch die bösen Alliierten bis zur plötzlichen Erkrankung eines Besatzungsmitgliedes. Dieses lustige Spiel fand ein jähes Ende, als aus Moskau der eindeutige Befehl eintraf, entweder am nächsten Tag zu starten oder bei der Rückkehr erschossen zu werden. Immerhin hatte die Flugzeugbesatzung ihren Spaß gehabt.
In der Zwischenzeit hatte sich in der Rue du General Appert eine interessante Situation ergeben. Eines Abends, bei einem meiner regelmäßigen Besuche in der Mission, sah ich zu meinem Erstaunen Rado im Wartezimmer sitzen. Meine Überraschung war jedoch nichts verglichen mit der seinigen. Ich wußte, daß er die Schweiz in Richtung Paris verlassen hatte. Er andererseits hatte geglaubt, daß ich noch immer in einem Schweizer Gefängnis sitze. Trotzdem bewährte sich unsere Ausbildung, als gute Geheimagenten zeigten wir beide keinerlei Anzeichen des Erkennens. Erst später, als wir beide zu Nowikow hereingerufen wurden, sprachen wir miteinander. Nowikow sagte, es habe jetzt keinerlei Sinn und führe zu nichts, im Augenblick die Umstände der Zerschlagung des Schweizer Netzes zu besprechen. Wir flögen sowieso beide im selben Flugzeug nach Moskau, wo die ganze
Sache in allen Einzelheiten dargelegt und in Ruhe besprochen werden könne. Bei dieser Gelegenheit bemerkte er, es wäre vom Sicherheitsstandpunkt aus besser, wenn wir uns nach außen hin wie Fremde zueinander verhalten würden, da noch andere Passagiere im Flugzeug sein würden.
Auf dieses ziemlich anstrengende Gespräch folgte ein gemeinsames Essen. Bei dieser Gelegenheit sah ich Rado zum erstenmal unter der Einwirkung von Alkohol. Er gestand später, es sei das erstemal seit vielen Jahren gewesen, daß er mehr als ein Glas Schnaps auf einmal getrunken habe. Wenn es einem gelang, von einem russischen Essen aufzustehen, nachdem man die zehnfache Menge getrunken hatte, so war das schon eine gute Leistung.
Im Verlauf dieses geselligen Beisammenseins - gesellig an der Oberfläche, im Unterton jedoch etwas unheimlich - wurde über alles mögliche, nur nicht über das Schweizer Netz gesprochen. Obwohl Rado dem Alkohol munter zusprach, wirkte er fast wie eine Attrappe. Das einzig Interessante, das ich von ihm erfuhr, war, daß er ungefähr vierzehn Tage vorher angekommen war.
Dies gab mir zu denken. Vierzehn Tage hindurch war ich über Rados Eintreffen in Unkenntnis gehalten worden, obwohl er Nowikow aufgesucht hatte. Wir waren offenbar beide absichtlich auseinandergehalten worden, bis unser beider Berichte aufgenommen worden waren und keine Gefahr mehr bestand, daß wir uns vorher besprechen und auf eine gemeinsame Geschichte einigen konnten Rados Ankunft fiel außerdem mit der »Änderung« der Pläne zusammen, denen zufolge ich nicht mehr als Holländer nach Annemasse, sondern zu »Beratungen« nach Moskau zurückkehren sollte. Moskau war offenbar mit dem Schweizer Apparat nicht zufrieden, und es war sehr wohl möglich, daß Rado eine Version gegeben hatte, die sich grundlegend von der meinigen unterschied. Rado wußte natürlich nicht, daß ich mich über alle Regeln hinweggesetzt und nach meiner Entlassung aus dem Gefängnis mit allen unseren Quellen gesprochen hatte. Er vermutete deshalb, daß ich keine Ahnung davon hätte, in welchem Zustand sich das Netz befand, seit Rado es hatte hängenlassen, und hielt mich für außerstande, ihn zu widerlegen.
Moskau war offensichtlich entschlossen, uns in Ruhe einem Kreuzverhör zu unterziehen und unsere beiden Berichte miteinander zu vergleichen. Das machte mir nichts aus. Zwar war Rado theoretisch Oberst und stand bei der Zentrale in hohem Ansehen, während ich nur ein ebenso theoretischer Major, niemand in der Zentrale persönlich bekannt und ein verhältnismäßig neuer Mitarbeiter war. Auf der anderen Seite war der Bericht, den ich über Nowikow der Zentrale erstattet hatte, in jeder Hinsicht wahr und konnte leicht durch Rückfragen in der Schweiz überprüft werden. Ebenso waren alle meine Abrechnungen in Ordnung und konnten jederzeit auf den letzten Dollar geprüft werden. Außerdem sprach für mich, daß ich vor meiner Abreise aus der Schweiz alle Vorbereitungen dafür getroffen hatte, daß ein neuer Leiter die Fäden leicht und schnell in die Hand nehmen konnte, während Rado andererseits bei seiner Abreise alles in der Luft hatte hängenlassen und keinerlei Vorkehrungen für die Fortsetzung der Arbeit getroffen hatte. Theoretisch und praktisch war meine Lage unantastbar - falls Moskau sich die Mühe nehmen sollte, das Wort eines unbekannten Agenten gegen das eines Mitarbeiters gelten zu lassen, der schon jahrelang für die Zentrale gearbeitet hatte. Ich sah der Reise nach Moskau mit etwas gemischten Gefühlen entgegen.
Schon einige Zeit vorher hatte ich meine Einstellung den Sowjets gegenüber einer erneuten Beurteilung unterzogen. Die Haltung der Zentrale hatte mich ja schon längere Zeit enttäuscht. Sie war absolut rücksichtslos und besaß keinen Sinn für Ehre, Verpflichtungen oder Anständigkeit ihren Untergebenen gegenüber. Man verwendete die Mitarbeiter, solange sie von Wert waren, und warf sie dann skrupellos und ohne Entschädigung beiseite. Der Direktor erwartete Wunder von den V-Leuten und KP-Stellen, und wenn das Wunder vollbracht war, so erhielt man keinen Dank, sondern höchstens eine formelle Bestätigung. Wenn die Zentrale das Unmögliche oder etwas Törichtes - oder beides - verlangte und man darauf hinwies, daß das Unternehmen entweder als Mißerfolg oder in einer Katastrophe enden würde, so erfuhr man nie, daß Moskau sich hatte belehren lassen oder daß man dort irgendwelche Anzeichen eines schlechten Gewissens erkennen ließ.
Einige dieser Eigenschaften sind zweifellos allen Nachrichtendiensten gemeinsam, aber die Kaltblütigkeit der Moskauer Zentrale und ihr Mangel an einfacher Menschlichkeit und Anständigkeit steht einzig da.
Ich redete mir selber ein, ich könne nicht vorsätzlich die Arbeit aufgeben und alles hinwerfen. Es wäre für mich das Leichteste in der Welt gewesen, zu den britischen Diplomaten oder Dienststellen in Paris zu gehen, zu erklären, wer ich war, und mich schleunigst nach England repatriieren zu lassen.
Ebensogut hätte ich einen Ziegelstein durch das Fenster einer Pariser Polizeistation werfen und mich verhaften lassen können, was genau denselben Erfolg gehabt hätte. Doch das wollte ich nicht. Der Krieg war noch im Gange, und die in der Schweiz
verfügbaren Nachrichten waren nützlich, ja vielleicht lebenswichtig für die Sowjets, die nun einmal unsere Verbündeten waren. Es war klarerweise meine Pflicht, alles, was ich konnte, zu tun, um das gegen Deutschland arbeitende Netz wieder in Betrieb zu setzen. Vorsätzlich die Arbeit zu verlassen, wäre in meinen Augen gleichbedeutend mit Fahnenflucht vor dem Feind gewesen.
Am 6. Januar 1945 um neun Uhr morgens startete ic h in dem ersten sowjetischen Flugzeug, das Frankreich nach der Befreiung verließ, in Richtung Moskau. Angeblich transportierte das Flugzeug sowjetische Kriegsgefangene, die in die Heimat zurückgeführt wurden; das war jedoch nur eine bequeme Legende, was man auch aus der Tatsache entnehmen konnte, daß in dem Flugzeug vier Plätze leer geblieben waren, obwohl es ebenso unbestreitbar war, daß zahllose sowjetische Kriegsgefangene in Frankreich auf ihre Heimbeförderung warteten. Vielleicht ist auch die Feststellung nicht ohne Interesse, daß sich auf unserer Passagierliste in Wirklichkeit nur ein einziger echter sowjetischer Kriegsgefangener befand.
Alle Passagiere waren im Besitz sowjetischer Repatriierungsausweise. Den Ausweis Nr. 2 besaß Alfred Fedorowitsch Lapidus, ehemaliger estnischer Staatsangehöriger, jetziger Sowjetbürger, der aus Tallin von den Deutschen nach Frankreich deportiert worden war - in Wirklichkeit niemand anders als ich selbst. Für die wirklichen Kriegsgefangenen gab es nicht den Luxus einer Luftreise in die Heimat.
Die Reise bis Kairo verlief ereignislos und langweilig wie die meisten Luftreisen. Wir sollten zwei Nächte in Kairo verbringen und blieben infolgedessen nicht auf dem Flugplatz, sondern gingen in die Stadt, wo wir im Luna-Park untergebracht wurden. Unterkünfte waren in Kairo, wie immer während des Krieges, knapp; der Hoteldirektor sagte, wir müßten zu mehreren ein Zimmer nehmen. Zu meiner Überraschung ergriff Rado das Wort; es war sozusagen das erstemal, daß er seinen Mund aufmachte, seit wir Le Bourget verlassen hatten; er sagte, er würde ein Zimmer mit mir teilen, wenn es mir angenehm sei.
Ich kann nicht behaupten, daß er ein lebhafter Zimmergenosse war. In der ersten Nacht sprach er kaum ein Wort und lehnte es ab, mit mir einen letzten Bummel durch Kairo zu machen. Bei meiner Rückkehr von einem vergnüglichen und unterhaltsamen Abend schlief er bereits - oder tat wenigstens so. Am zweiten Abend war er, wenn das überhaupt möglich war, noch niedergeschlagener, wurde dann aber etwas gesprächiger. Uns stehe in Moskau eine schwere Zeit bevor, meinte er, und verglich unsere Situation mit der eines Kapitäns, der sein Schiff verloren hat. Keine Erklärungen würden den Direktor davon überzeugen, daß es nicht unsere Schuld gewesen sei, wenn wir die für die Zentrale so wertvollen Quellen verloren hätten.
Ich versuchte, ihn eines Besseren zu belehren und ihm seine Befürchtungen auszureden. Ich wies darauf hin, daß meine Verhaftung und der darauf folgende Zusammenbruch der Verbindungen ausschließlich die Schuld der Zentrale gewesen seien. Die Zentrale habe befohlen, nach der Verhaftung der Hamels und »Rosas« die Funksendungen fortzusetzen, obwohl sie wußte, daß der Teufel los war. Außerdem hatte sie uns nie mit ausreichenden Geldmitteln versorgt, um eine angemessene Reserve an ausgebildeten Funkern und Ersatzgeräten bereitzustellen. Endlich sei ja auch die Zentrale nicht gänzlich von den Schweizer Quellen abgeschnitten worden. Ich hätte eine Menge Material nach Paris mitgenommen, das von dort nach Moskau gefunkt worden sei, so daß die Zentrale die wichtigsten Teile des Materials besitze, das seit dem Abreißen der Verbindung mit dem Schweizer Netz dort angefallen sei.
Diese Information bestürzte Rado erst recht, und er wurde noch deprimierter als zuvor. Er beklagte die Tatsache, daß er sich mit mir in Paris darüber nicht ausgesprochen habe. Ziemlich unfreundlich bemerkte ich, das sei nur seine eigene Schuld, da ich ihm nach unserem ersten Treffen bei dem Abendessen meine Adresse gegeben, er sich aber nicht die Zeit genommen habe, mich aufzusuchen. Es sei ganz seine eigene Schuld, daß er jetzt nach Moskau fahre, ohne die wirkliche Lage der Dinge zu kennen, und als alter Nachrichten-Mann müsse er eigentlich die Gefahr einschätzen können, die darin liegt, Berichte einzureichen, ohne sich zu vergewissern, daß sie den Tatsachen entsprechen.
Es folgte ein langes Schweigen, währenddessen Rado mit seinen Fingern auf den kleinen Hoteltisch trommelte, ganz in Gedanken versunken. Dann stand er auf und verließ, ohne ein Wort zu sagen, das Zimmer.
Ich habe ihn nie wiedergesehen.
Das Flugzeug startete am nächsten Morgen ohne ihn. Sein Gepäck blieb unabgeholt in dem Hotelzimmer, als stummes Zeugnis eines Spions, der die Nerven verlor.
Um 4 Uhr nachmitags, am 14. Januar 1945, landete die Maschine auf dem Flughafen von Moskau. Ich wurde von zwei Leuten, einem Mann und einer Frau, begrüßt. Der Mann war ein unscheinbares Individuum, das ich nie wieder zu Gesicht bekommen sollte. Die Frau, die ich als »Vera« kennenlernte, trug die Uniform eines Majors der Roten Armee. Sie sprach fließend
Englisch, Französisch und Deutsch. so daß es überhaupt keine Sprachschwierigkeiten gab.
Mit ihr und ihrem Begleiter - oder besser ihrer Anstandsperson, da er keine anderen Aufgaben zu haben schien - fuhren wir in die 2. Iswosnja Uliza Nr. 29, wo ich die nächsten achtzehn Monate wohnen sollte. Es handelte sich um einen verhältnismäßig modernen Wohnblock, der sonst nur von Generalsfrauen bewohnt war, deren Männer an der Front standen. In meiner Wohnung, die aus einem Schlaf- und einem Wohnzimmer bestand. wurde ich Olga Pugatschowa, meiner Haushälterin, ihrer acht Jahre alten Tochter Ludmilla und Iwan, meinem ständigen Dolmetscher, vorgestellt; Iwan würde, wie man mir sagte, auch bei mir wohnen - Dolmetscher, Begleiter, Wache, alles in einer Person.
Dann ließ mich Vera schließlich mit einer Liste von Fragen allein. Nachdem ich sie aufmerksam durchgelesen hatte, war ich, gelinde gesagt, alles andere als glücklich. Aus dem Ton der Fragen ging klar hervor, daß die Zentrale mich als agent provocateur, der durch die Briten eingeschleust war, betrachtete. Es wurde ebenso deutlich, daß Rados Bericht (der an die Zentrale ungefähr vierzehn Tage nach dem meinigen gekabelt worden war) eine ganz andere Darstellung unserer Erlebnisse enthielt. Er hatte offenbar behauptet, daß alle unsere Schweizer Quellen entweder liquidiert oder enttarnt seien und daß es mindestens zwei Jahre dauern würde, bevor man darangehen könne, sie wieder zu aktivieren.
Nach Ansicht des Direktors war ich offenbar von der Schweizer Polizei auf eine britische Intervention hin entlassen worden, wobei die Briten zur Bedingung gemacht hatten, daß ich an die Zentrale nur solche Informationen weitergeben solle, die die Briten liefern würden; dabei sollte ich jedoch so tun, als ob diese Informationen von den verschiedenen Quellen stammten, die Moskau kannte. Das Ziel der Briten wäre gewesen, den Vormarsch der Roten Armee dadurch aufzuhalten, daß sie die Sowjets mit falschen Nachrichten versorgten. Ebenso war es für den Direktor klar, daß Rado in Kairo von den Briten auf bequeme Art »liquidiert« worden war, damit er nicht in Moskau eine andere Geschichte erzählte. Ich hatte mich zwar inzwischen einigermaßen an die sowjetische Vorstellung von interalliierter Zusammenarbeit gewöhnt, dies aber verschlug mir wirklich den Atem.
So phantastisch die ganze Sache war, die Zentrale glaubte offenbar ganz ernsthaft, daß die Briten mitten im Kriege darangingen, einen derartig komplizierten Plan auszuhecken, nur um ihre Verbündeten zu hintergehen. Die ganze Konzeption konnte nur in Gehirnen ausgebrütet worden sein, denen Verrat, Doppelspiel und Betrug zur zweiten Natur geworden waren. Es war, abstrakt genommen, das reinste Possenspiel, aber es grenzte, wie so oft in solchen Fällen, ganz konkret an das ausgesprochen Tragische, soweit ich selbst betroffen war. Falls ich mich nicht reinwaschen konnte, stand mir offenbar eine sehr schwierige Zeit bevor, und ich konnte nur zu leicht als britischer Spion zum Tode verurteilt werden, was, ganz unpersönlich betrachtet, eine interessante Schicksalsfügung gewesen wäre, was ich aber persönlich nur mit äußerster Abneigung betrachten konnte. Wenn Rado jetzt die Dinge noch auf die Spitze trieb und vielleicht Selbstmord beging und man seine Leiche aus dem Nil herauszog oder in einer Seitenstraße in Kairo fand, so würde damit dem phantasievollen Gedankengebäude der Zentrale endgültig und folgerichtig die Krone aufgesetzt worden sein.
In der Zwischenzeit gab es für mich offensichtlich nichts anderes zu tun, als Fragebogen auszufüllen und alle Fragen ausführlich und wahrheitsgemäß zu beantworten. Glücklicherweise hatte ich ein vollkommen reines Gewissen und konnte infolgedessen die langen Listen von Fragen ganz genau beantworten Das System war fein ausgeklügelt und, obwohl zeitraubend, außerordentlich wirkungsvoll Ich wurde keinerlei Druck, welcher Art auch immer, ausgesetzt. Mit äußerster Freundlichkeit und Höflichkeit gab man mir wochenlang verschiedene Listen von Fragen zur Beantwortung. Viele dieser Fragen überschnitten sich mit anderen, die man vielleicht Tage oder Wochen vorher gestellt hatte. Scheinbar ganz willkürlich gestellte Fragen dienten in Wirklichkeit der Überprüfung anderer Punkte, die vielleicht nur gelegentlich einmal im Laufe einer Unterhaltung erwähnt worden waren. Das führte dazu, daß meine Vernehmer - wenn ich sie so nennen darf, kannte ich sie doch nur auf dem Papier - am Ende dieser Zeit nicht nur die ganze Geschichte, sondern eine komplizierte, sich gegenseitig überlappende und überschneidende Serie von Fragen und Antworten besaßen. Es hätte schon ein sehr kluger Mann mit einer wohlerwogenen und auf das Wort genau festgelegten Legende dazu gehört, um solch eine Prüfung mit falschen Angaben durchzustehen, denn der kleinste Widerspruch wäre sofort zutage getreten und hätte den unsichtbaren Vernehmern Material geliefert, um die ganze Legende aus den Angeln zu heben.
Während dieser Periode des Fragens und Antwortens wurde ich keineswegs als Gefangener behandelt. Vera sagte, es sei mir
völlig freigestellt, nach Belieben in den Straßen spazierenzugehen, vorausgesetzt natürlich, daß mich Iwan begleitete. Sie empfahl mir allerdings, mich an die Seitenstraßen zu halten, denn wenn ich in den Hauptstraßen spazierenginge, könnte ich leicht von der Polizei als Ausländer angehalten werden, was Unannehmlichkeiten zur Folge haben könnte.
An mehreren Abenden wurde ich ins Theater geführt. Eintrittskarten waren nur auf Dringlichkeitsbescheinigung erhältlich, und so waren nicht nur die Zuschauer, sondern auch die Verteilung der Sitze von der Regierung kontrolliert. Es war kein Zufall, daß ich bei mehreren Gelegenheiten, als ich ins Theater ging, zwischen englischen und amerikanischen Offizieren saß. Es war auch kein Zufall, daß ich auf den Plätzen hinter mir ein paar grimmig aussehende Leute bemerkte, die mehr Interesse an der Reihe vor sich als an dem Bühnenstück selber zeigten.
Ich kann auch kaum glauben, daß es eine Kundgebung interalliierter Freundschaft war, die Iwan dazu veranlaßte, mich eines Tages auf einen Spaziergang mitzunehmen und mir die britische Botschaft zu zeigen. Man war sichtlich immer noch überzeugt, daß ich ein britischer Doppelagent war, und gab mir jede nur mögliche Gelegenheit, es zu beweisen. Man reichte mir den Strick, damit ich mich selber daran aufhänge. Ich überlegte mir oft, daß es, wenn ich tatsächlich ein britischer Agent gewesen wäre, für mich das Letzte auf der Welt gewesen wäre, mit irgend jemand im Theater darüber zu sprechen oder zur britischen Botschaft zu gehen. Die Zentrale hätte mir und dem britischen Nachrichtendienst eigentlich ein etwas besseres Zeugnis ausstellen können.
Der einzige Lichtpunkt in diesen ziemlich dunklen Tagen war die einen Monat nach meiner Ankunft eintreffende Nachricht, daß die ägyptische Polizei Rado ausfindig gemacht und die Zentrale jemand entsandt habe, um ihn zu verhören. Ich glaube nicht, daß man mir diese Nachricht aus reiner Freundlichkeit mitteilte; man wollte nur meine Reaktion darauf sehen. Später erfuhr ich, daß er von einem Emissär der Zentrale vernommen worden sei, sich aber geweigert habe, die Reise fortzusetzen, ohne seine Ablehnung irgendwie zu begründen.
Etwa vierzehn Tage danach, ungefähr sechs Wochen nach meiner Ankunft, sagte mir Vera, daß der Direktor und einige andere Herren mich am nächsten Tage besuchen würden. Punkt sechs Uhr am folgenden Abend erschien der Direktor. In seiner Begleitung befanden sich zwei finster dreinblickende Leute, die entweder untergeordnete Mitglieder der Zentrale oder Angehörige des NKWD waren. Jedenfalls spielten sie bei den Ereignissen dieses Abends kaum eine Rolle und verbrachten die meiste Zeit damit, mir dauernd scharf ins Gesicht zu schauen, damit sie sehen konnten, wie ich auf die Fragen reagierte, die man auf mich abschoß.
Man sagte mir, daß der Direktor im Range eines Generalleutnants stehe. Daß er einen hohen Rang in der sowjetischen Hierarchie bekleidete, konnte man an seinem Auto erkennen. Der einfachste und bei weitem beste Prüfstein in bezug auf die Bedeutung eines Menschen in der Sowjet-Union ist die Größe und Eleganz seines Automobils. Wenn jemand, wie in diesem Fall der Direktor, eine ganz neue schwarze Limousine besitzt, dann kann man sicher sein, daß er recht bedeutend ist. Wenn er außerdem noch über eine Leibwache verfügt, dann ist er noch bedeutender. Wenn er nicht nur eine schöne neue Limousine, sondern noch ein Auto für die Leibwache hat, dann kann man sicher sein, daß er wirklich ein ganz »großes Tier« ist. Der Direktor gehörte in die letzte Kategorie, und ich war entsprechend beeindruckt.
Er war ein charmanter Mensch, Anfang Vierzig, intelligent und intellektuell. Er sprach ein fließendes, fast fehlerloses Englisch und hatte anscheinend einige Zeit im Vereinigten Königreich zugebracht; ein gelegentliches Abrutschen ins Amerikanische deutete darauf hin, daß er auch in den Vereinigten Staaten gedient haben mochte.
Ich erfuhr im Laufe des Abends, daß er ebenso gut Deutsch und Französisch sprach. Der einzige Grund zur Beanstandung, den ich finden konnte, war sein Geschmack in Krawatten, die außerordentlich schreiend in den Farben waren; dies mag ein Überbleibsel aus seinen amerikanischen Tagen gewesen sein.
Er war ein erstklassiger Vernehmer. Die Befragung dauerte von sechs Uhr abends bis nächsten Morgen um zwei Uhr und wurde während und nach dem Essen geführt. Die vier Personen - der Direktor, Vera und die beiden anderen - hatten etwas vor sich liegen, das ich für meine Akte hielt. Sie entnahmen gelegentlich einen Funkspruch, den ich abgeschickt hatte, befragten mich über seinen Inhalt und wie er in meine Hände gelangt war. Sie gingen meine ganze Laufbahn sorgfältig durch und befragten mich peinlichst genau über die verschiedenen Quellen, die wir hatten. Sie waren besonders an »Lucy« interessiert und wollten wissen, wer »Lucys« Unterquellen waren und auf welche Weise die Nachrichten das Netz so schnell erreichten. Über diesen Punkt wußte ich natürlich genau so wenig wie sie.
Fortsetzung folgt