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»LÜBKE WAR EINER UNTER VIELEN«

aus DER SPIEGEL 46/1966

SPIEGEL: Herr Speer, welche Partei würden Sie heute wählen?

SPEER: SPD oder CDU, alles andere zählt nicht. Meine Familie tendiert mehr zur SPD - ich habe da mal 'rumgefragt.

SPIEGEL: Von welchen Politikern sind Sie beeindruckt?

SPEER: Es gibt da welche, die mir gefallen, zum Beispiel Stoltenberg, ganz ausgezeichnet; er ist noch frisch. Aber eins fällt mir auf: daß die führenden Politiker in beiden großen politischen Parteien abgenutzt erscheinen. Das geht auf meine alte Theorie zurück: Wenn einer über 55 Jahre ist, dann müßte er einen Vertreter unter 40 haben, der ihn boxt und nach einiger Zeit ersetzt.

SPIEGEL: Wie behagt Ihnen dieses Deutschland von heute?

SPEER: Na ja, ich bin durch die Zeltungslektüre gut vorbereitet. Sie wissen, daß ich vier Zeitungen lesen durfte - obwohl es eine besondere Sache ist, die Welt nur aus Zeitungen kennenzulernen. Das müßte eigentlich einen Zeitungswissenschaftler interessieren, wie einem die Welt erscheint, wenn man 15 Jahre nur Zeitungen liest.

SPIEGEL: Haben Sie an diesem Weltbild seit Ihrer Freilassung schon Korrekturen anbringen müssen?

SPEER: Ja, man wird überregnet mit Nachrichten von Unglücksfällen, dramatischen Ereignissen und unliebsamen Dingen - seien es Scheidungen, Wolkenbrüche oder Erdbeben, vor allem auch Autounfälle. Wenn meine Kinder oder meine Frau mir mitteilten, sie wollten eine Autofahrt nach Berlin oder so machen, dann sagte ich immer gleich: Um Himmels willen, fahrt vorsichtig, es passiert zu viel. Ich hatte mir nach der Zeitungslektüre vorgestellt, daß man auf 300 Fahrtkilometern mindestens drei schwere Unfälle erleben müsse. In Wirklichkeit war ich überrascht, wie glatt der Verkehr sich abwickelt.

SPIEGEL: Dabei haben Sie in erster Linie politische Zeitungen gelesen.

SPEER: Ich muß zugeben, daß ich kein guter Zeitungsleser bin. Ich habe

die Zeitungen meistens nur durchgeblättert. Statt dessen habe ich in diesen 20 Jahren rund 5000 Bücher gelesen, vor allem Literatur über die Architektur. Ich glaube, daß ich theoretisch besser orientiert bin als viele Architekten.

SPIEGEL: Beeindruckt Sie die architektonische Silhouette Westdeutschlands?

SPEER: Sie erscheint mir ein bißchen schablonenhaft. Aber es gibt viele wunderschöne Gebäude. Allerdings habe ich noch nicht so viel mit eigenen Augen gesehen. Sehr gut zum Beispiel: Eiermanns Gedächtniskirche in Berlin und das Phoenix-Rheinrohr-Haus in Düsseldorf.

SPIEGEL: Würden Sie auch so bauen wollen?

SPEER: Mich reizen die vielen neuen Materialien und die modernen technischen Möglichkeiten. Im Geiste dieser modernen Welt zu bauen, muß schön sein.

SPIEGEL: Glauben Sie, daß in Deutschland städtebauliche Chancen ungenutzt blieben?

SPEER: Das ist schwer zu sagen. Theoretisch: Wenn ich die Leitung gehabt hätte, wäre es auch nicht besser geworden. Was Städtebauer wie Hebebrand in Hamburg, Hillebrecht in Hannover oder Tamms in Düsseldorf vollbracht haben, sind schon hervorragende Leistungen.

SPIEGEL: Sagt Ihnen das demokratische Regierungssystem zu?

SPEER: Ein ideales Regierungssystem gibt es nicht, und das demokratische ist für mich das beste.

SPIEGEL: Haben Sie den heutigen Bundespräsidenten Lübke gekannt, als er während des Krieges in Ihrem Baustab Schlempp tätig war?

SPEER: Wenn in den Sitzungen in Peenemünde, wo jeweils etwa zehn, fünfzehn Leute dabei waren, im Hintergrund einer mit dem Schild gesessen hätte »Ich werde 1959 Bundespräsident«, wäre ich auf ihn aufmerksam geworden. Aber so blieb er eben dort einer unter vielen

Ehepaar Speer 1966: In 20 Jahren 5000 Bücher gelesen

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