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KANADA / ATOMWAFFEN Lücke in der Luft

aus DER SPIEGEL 7/1963

Präsident John F. Kennedy hat Ärger mit den Nachbarn der USA. Kuba

drängte nach Atomwaffen, aber es waren die falschen, nämlich russische. Kanada hingegen sträubt sich, die richtigen zu erwerben, nämlich amerikanische.

Den feindlichen Kubanern trieb der Präsident ihre Eigenwilligkeit aus; er drohte ihrem Schutzherrn in Moskau mit Krieg. Die verbündeten Kanadier ermunterte hingegen Kennedys Außenminister Rusk öffentlich zur Rebellion gegen ihre Regierung, um die nukleare Luftverteidigung des nordamerikanischen Kontinents zu sichern.

Das entsprach jener selbstbewußten Ankündigung, die Kuba-Sieger Kennedy zum Jahreswechsel vor einigen ausgewählten Publizisten gemacht hatte. Die amerikanische Führungsmacht werde notfalls, so philosophierte er, »Konflikte mit empfindlichen Verbündeten nicht scheuen«, wenn es gelte, ihre Politik durchzusetzen.

Diesen neuen Stil im Umgang mit den Alliierten bekamen nicht nur die Europäer, sondern auch die Kanadier zu spüren, freilich aus anderen Gründen. Während sich nämlich einige westeuropäische Verbündete Amerikas danach drängen, mit Atomwaffen ausgerüstet zu werden, hielt es die kanadische Regierung - entgegen gegebenen Versprechungen - bisher für angebracht, auf Nuklearwaffen zu verzichten.

Kanada hatte den »Klub der atomwaffenfreien Länder« proklamiert und befürchtete, wie sein Außenminister Howard Green argumentierte, seinen Einfluß bei den Abrüstungsverhandlungen und bei den Neutralen innerhalb der Uno zu verlieren, wenn es zur atomaren Verteidigung übergehen würde.

Diese Politik stieß nicht nur in Washington auf Widerspruch, sie führte

auch zu heftigen Kontroversen in der kanadischen Öffentlichkeit, denn Kanadas konservativer Premier John Diefenbaker, seit 1957 an der Macht, hatte einen Kompromiß ersonnen, der zwar politisch verständlich schien, aber militärisch grotesk war.

Diefenbakers Regierung hatte sich zwar grundsätzlich für die atomare Verteidigung entschieden und deshalb die von den USA offerierten Kernwaffenträger angenommen. Sie sträubte sich aber, atomare Sprengköpfe oder Atombomben zu übernehmen oder diese von den Amerikanern auf kanadischem Staatsgebiet unter Verschluß halten zu lassen. Das hatte während der Kuba -Krise zum Ärger des Pentagons eine gefährliche Lücke im nordamerikanischen Luftverteidigungssystem entstehen lassen.

Kanada hatte insbesondere für die dem Nordamerikanischen Luftverteidigungskommando (Norad) unterstellten kanadischen Streitkräfte, die mit amerikanischen Abfangjägern vom Typ F-101-B und US-produzierten Bomarc -B-Raketen (Reichweite: 650 Kilometer) ausgerüstet sind, jegliche atomare Bewaffnung verweigert. Im Ernstfall, so erklärten seine Diplomaten in monatelangen Geheimverhandlungen mit den USA, könnten die Atomsprengsätze noch rechtzeitig nachgeliefert werden.

Dieser These trat schließlich US -General Norstad, bis Ende 1962 Nato -Oberbefehlshaber in Europa, im Januar bei einem Abschiedsbesuch in Ottawa scharf entgegen. In öffentlicher Rede enthüllte er, Kanada habe durch die Entgegennahme von Atomwaffenträgern innerhalb von Nato und Norad atomare Verpflichtungen auf sich genommen, denen es sich bisher entzogen habe.

Premier Diefenbaker sah sich daraufhin im kanadischen Parlament heftigen

Angriffen ausgesetzt. Lester Pearson, ehedem Außenminister, jetzt Führer der liberalen Opposition, erklärte: »Als Kanadier schäme ich mich, daß wir Verpflichtungen übernommen haben und uns heute weigern, sie einzuhalten.«

Der zornige Premier erwiderte mit dem vielleicht für Europa, bestimmt nicht für Kanada zutreffenden Argument, daß »nukleare Waffen unsere Verteidigung nicht wesentlich verstärken würden«, weil das Zeitalter des bemannten Bombers ohnehin zu Ende gehe. Konventionelle Streitkräfte seien jetzt wichtiger.

Amerikas Außenminister Dean Rusk schlug massiv zurück. Im State Department wurde eine Note formuliert, die US-Botschafter Butterworth in der vergangenen Woche in Ottawa überreichte. 30 Minuten danach wurde der Text bereits in Washington der Presse ausgehändigt.

Die Rusk-Note gipfelte in der Anschuldigung: »Die kanadische Regierung hat bisher keine Regelung vorgeschlagen, um eine wirksame Verteidigung Nordamerikas zu ermöglichen.« Sie enthielt außerdem die militärische Belehrung, daß Kanadas Flugzeuge und Raketen ohne atomare Sprengkörper wertlos seien und konventionelle Streitkräfte atomare Verteidigungsmaßnahmen von Nato oder Norad nicht ersetzen könnten.

»Eine beispiellose Einmischung in kanadische Angelegenheiten«, erregte sich Diefenbaker im kanadischen Parlament. »Wir sind entschlossen, ein guter Verbündeter zu bleiben, aber ein Satellit werden wir niemals werden.«

Auch als Dean Rusk sich öffentlich für den Ton, nicht aber für den Inhalt der Erklärung des State Department entschuldigte, blieb Diefenbaker hart. »Kanada«, sagte er, auf den Kennedy -Slogan »New Frontier« anspielend, »liegt nicht innerhalb der Neuen Grenze der Vereinigten Staaten.«

Dem kanadischen Premier, der seit den Wahlen von 1962 mit einer konservativen Minderheit regieren mußte, schien die Kontroverse mit den USA durchaus in sein politisches Konzept zu passen. Er nahm deshalb die Abstimmungsniederlage, die ihm die Opposition bereitete, gelassen auf. War er bisher im Parlament von der Gnade der unberechenbaren Social Credit Party abhängig gewesen, deren beherrschende Figur, der stellvertretende Parteiführer Réal Cacuette, ein Bewunderer Hitlers und Mussolinis ist, so hat der gestürzte Premier nun die Chance, seinen Wahlsieg von 1957 zu wiederholen. Damals hatten ihn anti-amerikanische Parolen an die Macht gebracht.

Obschon eine Meinungsumfrage ergeben hat, daß 60 Prozent der Kanadier eine nukleare Bewaffnung befürworten, hofft Diefenbaker, mit einem Appell an patiotsiche Gefühle die Wahlen am 8. April zu gewinnen. Denn viele Kanadier befürchten einen kalten US-Anschluß, seit amerikanisches Kapital tief in Kanadas Wirtschaft eingedrungen ist.

Präsident Kennedy und seine Berater haben so für den Wahlkampf im nördlichen Nachbarland unfreiwillig atomare Munition geliefert. »Unsere Beziehungen zur Sowjet-Union«, kennzeichnete ein hoher Beamter des State Department dieses Ergebnis der neuen Umgangsformen mit den Alliierten, »sind zur Zeit besser als unsere Beziehungen zu Kanada.«

Gestürzter Premier Diefenbaker

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