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WAHLKAMPF Lust zum Chatten

Die Parteien entdecken das Internet. Sie wollen auf den Homepages zehn Prozent aller Wähler erreichen.
aus DER SPIEGEL 30/1998

Im Musikkanal Viva hieße das »Retro-Look« und wäre kultverdächtig: der Kanzler mit Strickjoppe beim Lesen im Ohrensessel; der Kanzler am Schreibtisch mit seiner Münzsammlung, seiner Gesteinssammlung - Fotos wie aus dem Familienalbum, für jedermann abrufbar. Helmut Kohl präsentiert sich im Internet, mal als Staatsmann, mal als »Kanzler for Kids« (www.bundeskanzler.de/kids).

Die Wahlkämpfer entdecken das Internet als Zugang zu einer Klientel, die kaum freiwillig bei politischen Veranstaltungen auftaucht. Vor allem das Jungvolk, so hoffen die Strategen in den Parteizentralen, ist mit einer Mischung aus ausgeklügelter Technik und guten Argumenten zu überzeugen.

Etwa 30 Parteien werben mit eigenen Homepages um die Gunst der Netzbürger, der Netizens. Die gelten als politisch interessiert und informiert, aber auch als anspruchsvoll - als »klassische Wechselwähler«, urteilt der Passauer Politikwissenschaftler Winand Gellner.

Bis zu zehn Prozent aller Wähler, rechnet die SPD, sind bis zum 27. September per Internet erreichbar. »Eine Zahl, die man nicht mehr vernachlässigen kann«, meint Web-Redakteur Stefan Lennardt.

Auf der »Piazza« der Sozialdemokraten (www.spd.de) wird eifrig debattiert, ob Wirtschaftsminister in spe Jost Stollmann (www.jost-stollmann.de) eine Geheimwaffe oder eine Flachpfeife ist. Das Programm-Angebot ist mit Gag-Einlagen wie Karikaturen zur Fußball-WM ("Satanische Fersen") aufgepeppt. Computer-Fachmann Stollmann hat sich allerdings zunächst in den Urlaub abgemeldet und läßt Anfragen auf seiner Homepage unbeantwortet.

Bei der FDP (www.liberale.de) führt eine geheimnisvolle Türklinke in die virtuelle Wahlkampfwerkstatt, in der sich neben Infos auch unveröffentlichte Werbeplakate finden ("Protestarier aller Länder, beruhigt Euch"). Als Gegner von Netzregulierungen wie Verschlüsselungsverboten sei die FDP der natürliche Verbündete der Netizens, meint Bundesgeschäftsführer Hans-Jürgen Beerfeltz.

Computer-Hackern reicht das nicht. Sie drangen in den FDP-Server ein und stellten unter anderem das Partei-Logo auf den Kopf. Ärger haben die Freidemokraten auch mit ihrem Diskussionsforum. Zunehmend tummeln sich dort - wie auf den Webseiten des Koalitionspartners CDU - Rechtsradikale mit ausländerfeindlichen und antisemitischen Texten.

200 000 Mark investieren die Liberalen pro Jahr in das Netz. Seit kurzem tourt außerdem ein 250 000 Mark teurer Truck als mobiles Internet-Café quer durch die Republik.

Bei der CDU (www.cdu.de) lächelt schon mal Generalsekretär Peter Hintze in die virtuelle Landschaft und erklärt in ellenlangen Politikersätzen, warum »unser Kurs richtig ist« - so richtig hip ist das nicht. Rund zwei Millionen Treffer zählt die CDU inzwischen monatlich auf ihrer Homepage, dito die SPD. Bei der FDP sind es rund 1,2 Millionen, bei den Grünen nur 30 000.

Auch als internes Informations- und Kommunikationsmittel ist das Web auf dem Vormarsch. Insbesondere den kleineren Parteien ersetzt das schnelle und direkte Medium Personal und teure Büros auf Länder- und Kreisebene. Was früher tagelang auf dem Postweg unterwegs war, kann heute binnen Sekunden abgerufen werden.

Die beiden Volksparteien haben seit Anfang des Jahres zusätzlich ein nichtöffentliches Intranet, in dem die Landes- und Kreisverbände mit Wahlkampfmunition versorgt werden: Musterreden, Argumentationshilfen für die eigene Politik, aber auch nützliche Infos über Schwächen der Gegner. Bei der SPD werden CDU-Abgeordnete, die sich über das SPD-PDS-Verhältnis in Sachsen-Anhalt echauffieren, als alte SED-Blockflöten entlarvt. Die CDU hält dagegen mit verunglückten Zitaten von SPD-Kanzlerkandidat Gerhard Schröder über die Ostdeutschen ("Wir können die ja schließlich nicht an Polen abtreten") und Zahlen über das finanzschwache Niedersachsen. Feindbeobachtung heißt das im Parteijargon.

Nur wer drin ist im Netz, ist auch »in« bei den Wählern, glauben die Öffentlichkeitsarbeiter der Parteien. Und so absolvieren die Spitzenpolitiker aller Parteien brav eine Online-Konferenz nach der anderen, auch wenn das Gros der zumeist älteren Herren einen Browser kaum von einem Duschkopf unterscheiden kann.

FDP-Fraktionschef Hermann Otto Solms etwa preist zwar den praktischen Nutzen des Internet, gesteht jedoch, er verspüre »keinen großen Lustgenuß« beim Chatten. Als Netz-Muffel zeigte sich auch Unionsfraktionschef Wolfgang Schäuble bei der Bundestags-Online-Konferenz (www.bundestag.de).

Gut für ihn, daß der Bundestag noch keine Webcam hat. Sonst hätten die Frager sehen können, wie Schäuble, der kurz vorher noch bei einer Buchvorstellung über Innovation und Aufbruch schwärmte, nervös mit den Fingern trommelte und entnervt über die überlastete Leitung maulte: »Mann, isch des öde.«

Es ist ja auch wahr, die Netizens sind eine schwierige Kundschaft. Bei der Online-Wahl (über www.wahlkampf98.de) vom Juni kam die FDP auf 10,4, die Grünen kamen sogar auf 13,3 Prozent. Nur 18,1 Prozent wählten SPD, 14,3 Prozent die Union. Der Rest verteilte sich auf Exoten wie die »Monarchiefreunde« oder »Die Unregierbaren«.

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