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Lustgefühl beim Lernen

Der internationale Schultest Pisa und sein innerdeutsches Pendant Pisa-E beweisen, dass ganz verschiedene Wege zum Lernerfolg führen. Aber eines ist allen erfolgreichen Pisa-Ländern gemeinsam: Nur wer auf Leistung und klare Verantwortungen setzt, trimmt seine Schüler fit fürs Leben.
aus DER SPIEGEL 27/2002

Im Bio-Unterricht an der Matteus-Schule in Stockholm ist das Thema Gentechnik dran. Doch die schwedischen Kinder sitzen nicht brav in ihren Sitzreihen und starren auf die Tafel - die Szene im Klassenzimmer erinnert eher an Fernsehen. Eine Schülerin interviewt mit dem Mikrofon zwei Klassenkameradinnen: Was sagen sie zu genmanipulierten Tomaten?

Bei der gespielten Meinungsumfrage tragen die Schüler Argumente für und wider die Gentechnik zusammen - eloquent auf Englisch.

Fächerübergreifender Unterricht heißt das, was an schwedischen Schulen inzwischen die Regel ist. Nach der Veröffentlichung der internationalen Pisa-Studie wanderten deutsche Bildungsverantwortliche, soweit nicht gerade beim Sieger Finnland unterwegs, in Scharen durch schwedische Schulen, um das Geheimnis des Lernerfolgs zu erkunden. Die Skandinavier landeten im Lesen immerhin auf Rang neun, zwölf Plätze vor den Deutschen.

Nach Pisa-E, dem innerdeutschen Leistungsvergleich, könnten die Schulverbesserer auch nach Bayern reisen, denn der Freistaat und das Land im hohen Norden erreichen auf der Leistungsskala ähnlich gute Platzierungen. Und das, obwohl die beiden Schulsysteme in ihrer Organisation kaum unterschiedlicher sein könnten. Von wem also lernen?

Immerhin zeigen die Beispiele Bayern und Schweden sehr deutlich: Den idealen Weg zu guten Leistungen, den es nur zu übernehmen gilt, gibt es nicht.

Für bayerische Kinder entscheidet sich nach der vierten Klasse, wohin die Reise durch das dreigliedrige Schulsystem geht. Ist der Grundschulschnitt nicht schlechter als 2,33, dürfen die Kinder aufs Gymnasium wechseln; ein Durchschnitt bis 2,66 bedeutet Realschule.

35 Prozent der Schüler schaffen in Bayern den Sprung auf die Oberschule, die Allgemeine Hochschulreife erlangen im Freistaat nur rund 20 Prozent eines Jahrgangs. Viel zu wenig, nörgeln sozialdemokratische Schulpolitiker - die niedrige Abiturientenquote ist denn auch eines der spärlichen Argumente der abgeschlagenen Bundesländer gegen den bayerischen Erfolg.

Rund 900 Kilometer weiter nördlich - ein Mekka sozialdemokratischer Gleichheitsideologie. Wenn in Bayern die Zehnjährigen leistungsabhängig in die Schulformen einsortiert werden, haben ihre schwedischen Altersgenossen noch nie ein Zeugnis zu Gesicht bekommen: Noten gibt es in Schweden erstmals in der achten Klasse.

Die »Grundskola«, die schwedische Gesamtschule mit Ganztagsunterricht, dauert neun Jahre - sie ist für alle Kinder Pflicht, gesiebt wird nicht, Sitzenbleiben ist nahezu unbekannt. Dann erst folgt für die meisten Jugendlichen die »Gymnasialschule« mit der Hochschulreife als Abschluss, den über 70 Prozent schaffen.

Früher mal hatte auch Schweden ein gegliedertes Schulsystem. Doch in den sechziger Jahren erschien den Skandinaviern die frühe Trennung nach Leistung einfach nicht mehr zeitgemäß.

Die Einführung der Gesamtschule begann mit einem rigorosen Experiment. Die Hauptstadt Stockholm wurde kurzerhand geteilt: Die eine Hälfte behielt das traditionelle Schulsystem bei, die andere Hälfte bekam die Gesamtschule, Schul-Tourismus gab es nicht. Als sich zeigte, dass die Gesamtschule die insgesamt besseren Leistungen hervorbrachte, vor allem aber die schwachen Schüler erfolgreicher wurden, votierte der schwedische Reichstag für die radikale Umstellung.

Im föderalen Bildungssystem der Bundesrepublik dagegen ist die Gesamtschulidee, ohnehin nie wirklich konsequent umgesetzt, spätestens seit Pisa mausetot. Wollten besonders verwegene Bildungspolitiker den Deutschen die Gesamtschule aufdrücken, es käme zu »bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen«, vermutet Hans-Günter Rolff, Bildungsforscher am Dortmunder Institut für Schulentwicklungsforschung (IFS).

Der Unterricht in Schweden orientiert sich an den Bedürfnissen der einzelnen Schüler. In der Modellschule »Futurum« in Bålsta nordwestlich von Stockholm hat jedes Kind ein individuelles »Logbuch«, in dem die Lernziele für eine Woche festgeschrieben werden. Was wann drankommt, ist nicht von vornherein festgelegt, doch am Ende der Woche muss der Lehrer die Erfolge abzeichnen. Auch deutsche Grundschüler arbeiten gelegentlich mit Wochenplänen. Der entscheidende Unterschied: Hier zu Lande gilt der Plan für die ganze Klasse.

Den 45-Minuten-Unterrichtstakt gibt es nicht an schwedischen Schulen, manche experimentieren gar mit Gleitzeitmodellen: Wer früher kommt, darf auch früher gehen.

Anarchie oder hochmoderne Wissensvermittlung? Die weitgehend selbständigen Lernkonzepte, wie sie in Schweden verfolgt werden, bieten nach neuesten Erkenntnissen aus der Hirnforschung den größeren Anreiz zum Lernen. Das Lustgefühl, das sich nach dem eigenständigen Lösen einer Aufgabe einstelle, sei »nachhaltiger als jede Belohnung von außen«, erläutert der Magdeburger Neurobiologe Henning Scheich.

Anders als Bayern erzielen die Schweden ihre guten Ergebnisse auch nicht zu Lasten der Schwachen. In Bayern schlägt die Herkunft eines Schülers stärker auf die Schullaufbahn durch als in jedem anderen Bundesland. Die Chancen eines Oberschicht-Kindes, auf dem Gymnasium zu landen, sind in Bayern etwa zehnmal so hoch wie die eines Grundschülers aus dem Arbeitermilieu.

Bei aller freundlichen Pädagogik arbeiten die schwedischen Lehrer nicht losgelöst von staatlichen Vorgaben. Die nationalen Leistungsstandards, die nun in Deutschland eingefordert werden, gibt es in Schweden längst. Die Resultate des landesweiten Leistungstests unter Neuntklässlern werden nach Schulen aufgeschlüsselt und veröffentlicht - brisantes Datenmaterial, da die Eltern die Schulen für ihre Kinder frei wählen können.

Ob Schweden oder Bayern: Alle Länder, die bei Pisa gut abgeschnitten haben, teilen nach Ansicht des Frankfurter Schulforschers Eckhard Klieme ein Erfolgsgeheimnis: das Prinzip Verantwortung. In Schweden wie in Finnland, aber auch beim fernöstlichen Spitzenreiter Südkorea gilt laut Klieme: »Es gibt klare Leistungsanforderungen an den Unterricht - und klare Verantwortlichkeiten dafür, dass die auch erfüllt werden.«

Außerdem spielt das Lernumfeld eine wichtige Rolle. Ob Leistung in einer Gesellschaft etwas gilt, entscheidet mit über den Erfolg in der Schule. »Lernerfolg entsteht ja nicht nur im Unterricht«, sagt Schulforscher Rolff, »die Familie und das soziale Umfeld sind genauso wichtig.« Und in Bayern, glaubt Rolff, herrsche eben eine leistungsfreundliche Stimmung. Auch die Schweden legen laut Rolff viel Wert auf Leistung - »sie definieren sie nur weniger eng, in Schweden werden auch soziale Kompetenzen als Leistungen gesehen«.

Rolffs IFS-Kollege Ernst Rösner hat beobachtet, »dass Länder, in denen gewisse Sekundärtugenden einen hohen Stellenwert haben - etwa Pünktlichkeit, Anwesenheitspflicht, Leistungsbereitschaft - bei Pisa generell besser dastehen«.

Dass die Schule Verantwortung für den Output des Unterrichts übernimmt, zählt nicht eben zur deutschen Bildungstradition. Schlechte Noten in Deutsch oder Mathe werden hier zu Lande als Versagen der Schüler betrachtet, nicht der Schule. Die Schulaufsicht ist nur dafür da, auf den Input zu achten, also die Einhaltung der Lehrpläne zu überwachen.

In so einem System weiß niemand genau, was Schule bringt und wozu sie gut ist. »Schulen verteilen Noten, die nichts aussagen über die tatsächlich erreichten Kompetenzen«, kritisiert der Züricher Bildungsforscher Jürgen Oelkers.

In Finnland wird alle vier Jahre ein nationaler Bildungsplan aufgelegt. Was sollen Schüler können? Da steht''s. In Großbritannien wirkte die Einführung nationaler Bildungsstandards geradezu Wunder. Das britische Schulsystem, jahrelang in Verruf wegen seines miesen Unterrichts, erreichte bei Pisa einen vorderen Platz weit vor den Deutschen. Klieme: »Der Erfolg der Briten ist geradezu beispielhaft für den Nutzen klarer Zielvorgaben für die Sc hule.«

Je strikter die Leistungsziele definiert werden, und je pingeliger ihre Einhaltung überprüft wird, desto größer offenbar der Erfolg. Diese Lehre ist so neu nicht. Seit Jahrzehnten vertrauen Bayern und Baden-Württemberg auf das Zentralabitur, das nun als eines der Erfolgsrezepte für Schulorganisation gilt. Auch in Niedersachsen, Brandenburg und Berlin müssen sich die Abiturienten künftig auf zentrale Prüfungen einstellen, in Hessen sollen zumindest einige der Abi-Aufgaben zentral vorgegeben werden.

»Lehrern und Schülern muss klar sein, was das Ziel ihrer Arbeit ist«, verlangte schon vor Jahren die Stuttgarter Kultusministerin Annette Schavan (CDU): »Niemand soll sich unter Leistungsanforderungen wegducken können.«

Ein solches System setzt allerdings voraus, dass Problemschüler, aber auch Problemlehrer beizeiten erkannt werden. Das nennen die Schulexperten Qualitätssicherung. »Die Lehrer selbst sind für die Qualitätssicherung nicht geeignet«, sagt Forscher Klieme, »oft haben sie dafür gar nicht das Know-how.« Manche neigen auch dazu, die Misserfolge ihres Unterrichts eher zu vertuschen als zu analysieren - Schule als organisierte Verantwortungslosigkeit.

Die Schulen können sich nicht selbst kontrollieren: Dieses Problem der Qualitätssicherung ist in den Bundesländern besser gelöst, die einen externen Vergleich des Erfolgs von Schul-Arbeit ermöglichen. Am weitesten geht da Sachsen, auf Platz drei im nationalen Pisa-Test, das ähnlich wie Schweden die Abiturergebnisse seiner Schulen im Internet veröffentlicht. Matthias Rößler (CDU), langjähriger Bildungsminister und heute Minister für Wissenschaft und Kunst, der den Vergleich einst gegen den heftigen Widerstand der Schulen einführte, sieht sich bestätigt: »Nichts ist besser als Wettbewerb.«

Als einziges neues Bundesland schaffte es der Freistaat in die innerdeutsche Spitzengruppe, einheimische Bildungspolitiker sehen auch das sächsische Modell schon als Exportschlager. Die Qualität der sächsischen Lehranstalten hat ihren Ursprung in den Anfangsjahren nach der Wiedervereinigung, als Aufbauhelfer aus dem Westen das sozialistische Schulsystem grundlegend erneuerten.

Es entstand eine zweigliedrige Schulform, die zu jener Zeit einmalig in der Bundesrepublik war: Nach der Grundschule spaltet sich das sächsische System in eine Mittelschule, die Real- und Hauptschulabschlüsse ermöglicht, und den gymnasialen Teil. Dabei wurde auch Bewährtes aus alten DDR-Tagen in die neue Zeit gerettet: Sächsische Schüler machen das Abitur nach zwölf Jahren, und es gibt ein weit verzweigtes Netz an Spezialgymnasien.

Lange vor Pisa setzten die Sachsen auf das Leistungsprinzip - bei Schülern wie Lehrern. »Schon in der Grundschule muss Leistung bewertet werden«, findet Minister Rößler. Der Christdemokrat baut auf Kopfnoten; eine überwältigende Mehrheit der Eltern stimmt ihm dabei zu. Auch die Lehrer, in Sachsen grundsätzlich keine Beamten, werden vom Kultusministerium nach Leistung beurteilt und bei Bestnoten belohnt. Anreize bietet hier ein ausgefeiltes Prämiensystem.

Das rigide System von Verantwortung, Vorgaben und Kontrolle kann in netter Form verfolgt werden wie in Schweden oder Finnland, oder es kann so rabiat gehandhabt werden wie im Pisa-Siegerland Südkorea. Dort stehen Schüler und Lehrer unter permanenter Leistungskontrolle der Obrigkeit. Damit das auch richtig funktioniert, werden Dossiers angelegt, die die Betroffenen ihre Schulkarriere lang begleiten: physische Entwicklung, Ergebnisse psychologischer Tests, spezielle Talente. Wer nicht spurt, ist schnell erkannt und wird - Lehrer wie Schüler - speziellen Schulungsmaßnahmen wie Förderunterricht oder Fortbildungsseminaren anvertraut.

Ein bisschen Südkorea wollen Bildungsforscher auch in den erfolgreicheren deutschen Südstaaten entdeckt haben. »Klare Vorgaben, stringenter Unterricht, konsequente Erfolgskontrolle«, sagt Schulforscher Klieme, zeichnen auch den Unterricht in München und Stuttgart aus.

THOMAS DARNSTÄDT, JULIA KOCH,

STEFFEN WINTER

Im nächsten Heft(Folge 9 der Bildungsserie):Wie viel Bildung braucht der Mensch?Persönlichkeit ist wichtiger als Fachwissen - Personalchefs:Was Bewerber können müssen - Studenten, die erst eine Lehre machen,haben bessere Chancen.

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