AFRIKA / GEHEIMDIENST Mach die Tür zu, Kleine!
Der 54jährige General Lorillot, Oberbefehlshaber der französischen Streitkräfte in Algerien, ist der Urheber eines Piratenstücks, das die gaullistische Wochenzeitung »Carrefour« triumphierend »eine der tapfersten und loyalsten Kriegslisten« der französischen Geschichte nannte. »Frankreich«, schrieb das Blatt, »kann endlich wieder den Kopf hochheben.«
Der General, der sich für seine Aktion die Zustimmung des Staatssekretärs für die bewaffneten Streitkräfte, Lejeune, geholt hatte, beauftragte den militärischen Sicherheitsdienst seines Generalstabes, eine Dakota der marokkanischen Luftfahrt-Gesellschaft, die von Rabat nach Tunis flog und in Palma auf Mallorca zwischenlandete, nach Maison-Blanche bei Algier, einem Militärflughafen, zu dirigieren. Das war möglich, weil das Flugpersonal aus französischen Staatsangehörigen bestand, die bei der marokkanischen Gesellschaft Dienst taten. »Ich konnte als Franzose nicht anders handeln«, erklärte hinterher der Pilot.
Unter den Passagieren befanden sich fünf Führer der algerischen »Nationalen Befreiungsfront« und vier ihrer Leibwächter. Zwei der algerischen Rebellenführer, der 41jährige frühere Hauptfeldwebel der französischen Armee Ben Bella und der 45jährige ehemalige algerische Abgeordnete im französischen Parlament Mohammed Khider, waren den Franzosen ein besonders wertvoller Fang. Ben Bella
gilt als der militärische Chef der algerischen Aufstandsbewegung, Mohammed Khider als ihr politischer Führer. Beide gehören zu der obersten Kommandostelle der Rebellenarmee, dem algerischen Komitee in Kairo.
Die fünf Algerier waren kurz zuvor, aus Kairo kommend, als offizielle Gäste des Sultans von Marokko in Rabat eingetroffen, wohin sie Mohammed V. mit Kenntnis der französischen Regierung zu einem Vermittlungsgespräch gebeten hatte. Der betont offizielle Charakter ihres Empfangs am scherifischen Hof und die Bemerkung Mohammeds V., daß sich die Rebellenführer »in Marokko ganz wie zu Hause fühlen« möchten, wurden in Paris als Provokationen empfunden. Die französische Regierung veröffentlichte ein Kommuniqué, in dem sie verkündete, daß die Verhandlungen über die geplante Wirtschaftsbeihilfe Frankreichs an Marokko vorläufig abgebrochen worden seien.
Über die Vermittlungsaktion des Sultans sprach sich das Kommuniqué jedoch lobend aus: »Die französische Regierung begreift das Interesse, das Marokko der Zukunft Algeriens entgegenbringt. Der Sultan könnte sogar seine große moralische Autorität nützlich verwenden, um den Interessierten begreiflich zu machen, daß die französischen Angebote zur Einstellung des Feuers (in Algerien) loyal sind und daß es notwendig ist, darauf einzugehen, damit eine Lösung herbeigeführt werden kann.«
Das Treffen in Rabat war allerdings nur das Vorspiel zu einer »historischen Begegnung«, die Anfang letzter Woche zwischen dem Sultan von Marokko und dem tunesischen Ministerpräsidenten Burgiba in Tunis stattfand. In dieser Konferenz, zu der auch die fünf gekidnapten algerischen Rebellenführer unterwegs waren, sollte Burgibas Projekt einer »nordafrikanischen Union« diskutiert werden, das sich im Grunde weniger gegen die Franzosen als gegen die pan-arabischen Diktaturgelüste des Obersten Nasser richtet. Auch ein »befreites Algerien«, gab Burgiba zu verstehen, müsse in dieser geplanten Allianz der nordafrikanischen Länder seinen Platz einnehmen.
Die Franzosen verdanken die Verhaftung der fünf algerischen Unterhändler, durch die sie die Dreier-Konferenz von Tunis sprengen und der algerischen Aufstandsbewegung einen schmerzhaften Schlag versetzen konnten, einem besonders günstigen Zufall: Mohammed V. hatte es sich nicht verkneifen können, einen Teil seiner Haremsfrauen in dem Privatflugzeug unterzubringen, das ihn nach Tunis bringen sollte. Seine algerischen Gäste sahen sich gezwungen, eine der auf dem Flugplatz wartenden Maschinen der Route Rabat-Tunis zu benutzen, die von der marokkanischen Luftfahrtgesellschaft beflogen wird. Ein Beamter des scherifischen Protokolls führte die Algerier irrtümliche zu einer Maschine, deren Reiseziel zwar Tunis war, die aber in Oran und Algier zwischenlanden sollte.
Wenige Minuten vor dem Start entdeckten die Rebellenführer ihren fatalen Irrtum und verließen fluchtartig die Maschine. Sie bestiegen mit ihren vier Leibwächtern eine Dakota, deren Route über Mallorca ging. An Bord des Flugzeugs befanden sich außer der französischen Besatzung noch drei Journalisten: der Vertreter der »New York Times« Brady, die Korrespondentin des »France Observateur« Eve Dechamps und eine marokkanische Reporterin.
Bevor der französische Pilot der Maschine zur Zwischenlandung auf Palmade Mallorca ansetzte, erhielt er von der Funkstation des Militärflughafens Algier die Weisung, seine Route später zu ändern und statt Tunis Algier anzufliegen. Der Pilot soll diese Order zwar befolgt, aber zugleich seine vorgesetzte marokkanische Behörde von seinem Vorhaben unterrichtet haben.
Anders nämlich können es sich die Franzosen nicht erklären, daß die marokkanische Regierung, noch bevor die Dakota aus Palma wieder abflog, verzweifelte Anstrengungen unternahm, mit dem Piloten in Verbindung zu treten und ihm den Weiterflug zu verbieten. Auch der Sultan von Marokko, den man nach seiner Ankunft in Tunis von dem listigen Anschlag der Franzosen unterrichtete, setzte sich unverzüglich mit dem dortigen französischen Botschafter in Verbindung und verlangte Aufklärung. Vergeblich soll sich der französische Minister für die tunesischen und marokkanischen Angelegenheiten, Savary, darum bemüht haben, die Fortsetzung der Aktion des militärischen Geheimdienstes zu unterbinden.
Während Mohammed V. die Franzosen beschwor, die Algerier, die als Gäste des souveränen Marokko auf seinen persönlichen Schutz vertraut hatten, ungeschoren nach Tunis weiterfliegen zu lassen, saßen die fünf Rebellenführer mit ihren Leibwächtern und den mitreisenden Journalisten in einer kleinen Bar des Flughafens von Palma und tranken Cognac. In aufgeräumter Stimmung bestiegen sie nach diesem fröhlichen Bar-Intermezzo wieder die Maschine und machten es sich dort für ein Nickerchen bequem.
Mehrere französische Düsenjäger folgten der Dakota in respektvollem Abstand auf ihrem Flug zur algerischen Küste. Der Pilot unternahm über dem Meer noch einen ausgedehnten Spazierflug, um seine Passagiere auf eben die Minute genau, in der sie in Tunis zu landen gedachten, auf dem Militärflugplatz von Algier abzusetzen. Zehn Minuten vor der Landung rief der Pilot die Stewardeß zu sich in die Kanzel: »Mach die Tür zu, Kleine!« flüsterte er. »Du wirst dich jetzt wie eine Erwachsene benehmen. Wir fliegen nicht nach Tunis, sondern nach Algier. Niemand darf etwas merken. Sei nett zu den Leuten, sehr nett!'
Als die Maschine auslief, vernahmen die schläfrigen Algerier-Rebellen die charmante Stimme der Bordstewardeß, die ihnen mitteilte: »Der Pilot und die Besatzung wünschen den Fluggästen einen angenehmen Aufenthalt in Tunis.« Erst als sie beim Halten des Flugzeugs in die Läufe der Maschinenpistolen französischer Militärpolizisten blickten, ging den Algeriern ein Licht auf. Sie machten gar nicht erst den Versuch, in ihre Aktentaschen zu greifen, um die Pistolen hervorzuziehen, die jeder der fünf Emissäre aus Kairo zu seiner persönlichen Sicherheit mitgenommen hatte. Apathisch ließen sich die algerischen Widerständler Handfesseln anlegen und in ein wartendes Polizeiauto verfrachten.
Sultan Mohammed V. äußerte sich zu der »Kriegslist« des französischen Geheimdienstes, ein marokkanisches Flugzeug zu kapern und es unter Verletzung der Hoheitsrechte Marokkos zur Landung zu zwingen, mit bitteren Worten. »Es handelt sich um den grausamsten Anschlag, der jemals auf meine Ehre als regierender Fürst und als Mensch geführt worden ist«, sagte der Sultan. In moralischer Beziehung ist dieser Schlag noch verhängnisvoller als der Staatsstreich vom August 1953. Damals handelte es sich um einen politischen Konflikt mit Frankreich. Aber niemals, selbst in den dunkelsten Stunden, hatte ich mein Vertrauen zu Frankreich verloren.«
Tunesiens Ministerpräsident Burgiba äußerte sich nicht weniger erbost über das »hinterhältige« Manöver der Franzosen, durch das sie die algerischen Unterhändler in eine Falle gelockt hatten. »Alle ehrenhaften Leute in der ganzen Welt«, entrüstete sich Burgiba pathetisch in einer Pressekonferenz, »werden sich gegen Frankreich wenden. Sie werden kein Vertrauen mehr zu seinem Wort haben.«
Entführte Algerien-Rebellen: »Alle ehrenhaften Leute sind empört«
Algerien-Befehlshaber Lorillo
»Kopf hoch, Frankreich!«