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RAUMFAHRT / US-ERDSATELLIT Mach Platz, Sputnik!

aus DER SPIEGEL 7/1958

Es war wie an einem Silvesterabend«, berichtete der Korrespondent der »New York Times« aus dem Städtchen Huntsville. In dem Alabama-Flecken, weitab vom Schuß, der am vorletzten Sonnabend den amerikanischen Erdsatelliten »Explorer« in den Weltraum beförderte, tanzten die Bürger durch die Straßen und rotteten sich unter dem Lärm blökender Autohupen zusammen, um die prominentesten Einwohner der Stadt zu feiern: die deutschen und amerikanischen Techniker der örtlichen Heeresraketenanstalt, die Amerikas Satelliten -Rakete gebaut hatten.

Während Feuerwehrautos und Streifenwagen der Polizei mit übermütig heulenden Sirenen ziellos durch die Straßen kurvten, während Feuerglocken schrillten, obwohl es nirgendwo brannte, schwenkten die Bürger von Huntsville eilends verfertigte Spruchbänder, die den vom Whisky angeheizten Gefühlsrausch plakatierten: »Unsere Raketen schießen nie vorbei«, »Das All gehört uns - in Huntsville« und »Mach' Platz, Sputnik!«

Über den Platz vor dem Gerichtsgebäude tönte höhnisches Beifallsgeschrei, als einige Patrioten den technologischen Triumph der Bürger von Huntsville über den bösen Kriegsgott im Pentagon mit einem atavistischen Zauberbrauch auskosteten: Sie verbrannten eine Strohpuppe des einstigen US-Verteidigungsministers Charles E. Wilson, der ein Jahr zuvor die Raketentechniker der Armeeforschungsstätten in Huntsville aus den Raumfahrtprojekten ausgeschaltet hatte. (Grollte Wilson: »Die müssen mich mit dem Ku -Klux-Klan verwechseln!")

119 Tage nach dem Start von Sputnik I war es den Raketentechnikern der Vereinigten Staaten endlich gelungen, der provozierenden Einladung des Nikita Chruschtschew Folge zu leisten. Am 6. November hatte

der Parteichef vor dem Obersten Sowjet mit herablassender Ironie getönt, die russischen Sputniks warteten noch immer darauf, daß amerikanische Satelliten sich ihnen zugesellen und ein »Commonwealth der Satelliten« bilden würden. Mit dem »Explorer« war die Sputnik-Schande getilgt und der nationale Minderwertigkeitskomplex geheilt, den die beiden roten Erdsatelliten dem technisiertesten Volk der Erde zugefügt hatten. »Der Start des 'Explorer'«, leitartikelte die »New York Times«, »ist eine kräftige Spritze in den Arm, die Amerika bitter nötig hatte.«

Am Morgen danach trat vor die in Washington versammelten Zeitungskorrespondenten der Mann, der mit dem Erfolg der von ihm konstruierten Jupiter-C Rakete buchstäblich über Nacht zum amerikanischen Nationalheros aufgestiegen war, obwohl er erst seit zweieinhalb Jahren amerikanischer Bürger ist. Der Erlöser von der Schmach sprach Englisch mit hartem Akzent: Professor Dr. Wernher Freiherr von Braun, 45 Jahre, einst Konstrukteur der deutschen V 2, jetzt technischer Direktor der Raketen-Versuchsanstalt der amerikanischen Armee in Huntsville, ist erst 1945 nach den USA geholt worden. Er genoß den geglückten Start des Satelliten unverkennbar auch als einen ganz persönlichen Triumph. Seine photogenen Gesichtszüge entglitten immer wieder in ein jungenhaft jubilierendes Grinsen, als er mit Matadoren-Geste ein »Explorer«-Modell vor den Photoreportern und Kameramännern schwenkte.

Insgesamt zehnmal hatte er in den vergangenen Jahren dem Verteidigungsministerium vorgeschlagen, die von ihm und seinen deutschen Mitarbeitern entwickelte Armee-Rakete für einen Satellitenstart zu verwenden. Aber Verteidigungsminister Wilson hielt störrisch an der Auffassung fest, daß es nach dem ursprünglichen Plan der Marine vorbehalten bleiben müsse, einen Satelliten mit einer von ihr entwickelten »Vanguard«-Forschungsrakete in den Weltraum zu befördern. Als im November der neuernannte Verteidigungsminister McElroy endlich vom Druck der öffentlichen Meinung, die fast hysterisch hach einem amerikanischen Mond verlangte, die Armee zum Satelliten-Rennen zuließ, waren vier kostbare Jahre verlorengegangen. Durch Meldungen über den bevorstehenden Abschuß eines dritten sowjetischen Sputniks war das Satelliten -Programm überdies in ein Tempo gesteigert worden, das den Armee-Technikern unter Wernher von Braun nur eine Frist von wenigen Wochen ließ, in der sie ihre forschen Versprechungen einlösen konnten.

In aller Eile bastelten sie in Huntsville die Trägerrakete zusammen. Als ersten Treibsatz verwandten sie die »Redstone«, eine erprobte Kurzstreckenrakete, die Wernher von Braun und seine Mitarbeiter aus der deutschen V 2 entwickelt hatten. Auf die Spitze dieses ungefügen, 21 Meter langen Projektils montierten sie einen Treibsatz aus elf kleinen Pulverraketen, der sich in 340 Kilometer Höhe von der »Redstone« lösen und zwei weitere Treibsätze tragen sollte (Zeichnung, Seite 39).

Der zweite Treibsatz sollte die Geschwindigkeit der Raketenspitze in sechs Sekunden weiter erhöhen, bis die beiden letzten Treibsätze den eingebauten Satelliten auf die Endgeschwindigkeit von 29 000 Kilometern je Stunde beschleunigten, die für eine erdumrundende Bahn erforderlich ist. Binnen fünf Wochen - in einer Frist, die sogar den russischen Raketenforschern Respekt abforderte - bewältigten die Raketen-Techniker in Huntsville die Aufgabe, das Projektil zusammenzumontieren, es auf einen neuen »exotischen« Treibstoff umzustellen und mit einer neuen Steuerungseinrichtung auszurüsten. Schon am 20. Dezember wurde die in Papier verpackte Rakete mit einer Sondermaschine zum Startplatz in Cap Canaveral geflogen.

Während die Ingenieure dort in wochenlanger Arbeit noch einmal jedes der rund 50 000 Einzelteile ihres »Vogels« überprüften, bereitete die Marine auf demselben Gelände den Start einer zweiten »Vanguard«-Rakete vor, die einen nur zwei Kilo schweren »Baby-Satelliten« befördern sollte. In einer gewaltigen Anstrengung hatten die Marinetechniker den einzigen existierenden »Vanguard«-Starttisch repariert, der bei der Explosion der ersten »Vanguard« -Rakete am 6. Dezember beschädigt worden war. Sie wollten die Blamage so schnell wie möglich wettmachen.

Am 26. Januar gaben die Leiter des Marine-Projekts Startbefehl, und genau elf Stunden vor der X-Sekunde setzte die jedem Start vorausgehende »Zeitkontrolle« ein. Nach einem sorgfältig ausgetüftelten Minuten- und Sekundenfahrplan werden die für den Start erforderlichen Handgriffe ausgeführt: Sorgfältig wird noch einmal das Funktionieren der einzelnen Aggregate, der elektrischen Meßgeräte, der Pumpen und Ventile überprüft, bis schließlich der Treibstoff und der für die Verbrennung nötige flüssige Sauerstoff in den Raketenrumpf eingefüllt werden können.

In den letzten beiden Stunden tönt die »Zeitkontrolle« weithin hörbar über ein Lautsprechersystem; sie wird ähnlich wie bei der telephonischen Zeitdurchsage ausgerufen, etwa: »X minus 56 Minuten.« Kurz vor dem Start beginnt der Ansager, die einzelnen Sekunden auszusingen. Bei »X minus 0« drückt der Versuchsleiter in der betonierten Kommandozentrale auf den Auslösemechanismus.

Aber die »Vanguard«-Techniker hatten Pech. Insgesamt viermal mußten die Startvorbereitungen wegen zu starker Winde in der oberen Atmosphäre und wegen »mechanischer Defekt« abgebrochen werden - einmal bei »X minus 9 Minuten«, ein anderes Mal bei »X minus 4 1/2 Minuten«, dann bei »X minus 22 Sekunden«. Beim letzten Versuch mußte man den Startbefehl sogar knappe 14 Sekunden vor »X minus 0« zurücknehmen, weil die Kontrollgeräte ein winziges Leck in den Brennstoffbehältern meldeten. Selbst der heroische Einsatz des 34jährigen Ingenieurs Donald Roxby, der sich ohne den hinderlichen Kopfschutz in den schmalen Leib der »Vanguard« zwängte, um den Schaden im Salpetersäuretank möglichst schnell zu beheben und dabei schwere Verbrennungen erlitt, vermochte die Rakete nicht startklar zu machen.

Den übermüdeten Marinetechnikern, die nach den viermaligen zermürbenden Startkontroll-Abläufen einem Nervenkollaps nahe waren, blieb nichts anderes übrig, als die Rakete noch einmal auseinanderzumontieren.

Das Versagen der »Vanguard« gab der Gruppe Wernher von Brauns die Chance, um die sie seit 1954 gekämpft hatte: als erste einen amerikanischen Satelliten zu starten. Am 24. Januar rollten die Techniker aus Huntsville ihre »Jupiter-C« auf den Starttisch. Ursprünglich sollte das Projektil am 29. Januar starten, aber der Raketen-General Medaris entschloß sich, den Abschuß um zwei Tage hinauszuschieben, da die Meteorologen in der oberen Atmosphäre Stürme mit einer Geschwindigkeit von 320 Kilometern je Stunde festgestellt hatten.

Am Morgen des 31. Januar benachrichtigten die Wetterforscher den General, daß die Höhenwinde noch immer mit einer Geschwindigkeit von 160 Kilometer über den Schießplatz tobten. Nach kurzem Zögern gab Medaris dennoch den Startbefehl; er befürchtete, daß die Nervenkraft seiner Mitarbeiter den Beanspruchungen eines weiteren Aufschubs nicht mehr gewachsen sei.

Während in Cap Canaveral die Techniker das in Scheinwerferlicht getauchte Geschoß nach dem »Zeitkontrollplan« überprüften und die aufwallenden Dämpfe des flüssigen Sauerstoffs Zuschauer und Zeitungsleute an den Sandstrand der Bucht lockten, saß Wernher von Braun in der Nachrichtenzentrale des amerikanischen Verteidigungsministeriums in Washington. Er hielt der versammelten Armee-Generalität einen Vortrag über den Ablauf der komplizierten Startvorbereitungen. Dann starrten die Offiziere, unter ihnen der Armee-Minister Brucker, erwartungsvoll auf den Bildschirm, auf dem die Schrift der Fernschreiber-Meldungen aus Cap Canaveral vergrößert erschien. Präsident Eisenhower, der sich zu Bridge- und Golfspielen auf sein Landhaus in Augusta zurückgezogen hatte, saß erwartungsvoll neben seinem Telephon. Der Bürgermeister von Huntsville empfahl den Bürgern, Sirenen bereitzustellen und am nächsten Morgen die Geschäfte geschlossen zu halten, damit man den Start gebührend feiern könne.

Um 21.42 Uhr quäkte ein Horn über dem Schießplatz in Florida. Im Pentagon ratterte der Fernschreiber: »Wenn die Zeitkontrolle Null erreicht, wird der Vogel sich nicht sogleich vom Boden lösen ... Sorgt euch also nicht, wenn wir euch nicht sofort melden, daß er seine Reise angetreten hat ... Die Scheinwerfer bestrahlen das Gefährt ... Ein wunderbarer Anblick.«

Um 22.48 Uhr gab Robert Moser, der Chef der Startvorbereitungen, das Kommando: »Feuer.« Ein Techniker zog einen Metallring und setzte damit den Startmechanismus in Gang, der in genau 15 3/4 Sekunden abläuft. Der Superbrennstoff »Hydyne« und der flüssige Sauerstoff strömten in die Brennkammer und wurden gezündet. Ein orangeroter Feuerstrahl schoß aus der Raketendüse und schob das Projektil in den monderleuchteten Nachthimmel.

Als die Jubelbotschaft in Fernschreiberschrift noch über den Bildschirm im Pentagon flimmerte ("Sie hebt ab ... Sie steigt herrlich ..."), durchstieß die »Jupiter-C« schon eine kleine Wolke und entschwand als heller Lichtpunkt in die Stratosphäre. Der schwierigste Teil der Reise begann: das Einsteuern der Rakete auf die vorausberechnete Satelliten-Bahn.

Während das Projektil dem Scheitelpunkt (englisch: apex) seiner Flugbahn entgegenraste, war Wernher von Brauns engster Mitarbeiter, der Raketen-Techniker Dr. Ernst Stuhlinger, ein 44jähriger gebürtiger Stuttgarter, im Kommandobunker auf dem Startplatz mit der verwickelten mathematischen Aufgabe des Starts beschäftigt. Binnen sechs Minuten hatte er aus den von der Rakete automatisch zurückgefunkten Informationen über den Flugverlauf und aus den Ortungsmeldungen der Beobachtungsstationen exakt den Zeitpunkt zu berechnen, in dem er die zweite Raketen-Stufe in 340 Kilometer Höhe durch einen Druck auf den Knopf fernzünden mußte. Ein winziger Rechenfehler oder ein Irrtum von wenigen Sekunden konnte den Start scheitern lassen, da der Satellit dann in die Lufthülle der Erde eintauchen und verglühen würde.

Stuhlinger - wegen seiner delikaten Aufgabe »Mr. Apex« genannt - fütterte die eintreffenden Informationen so schnell es eben ging in eine Rechenmaschine. Genau 405 Sekunden nach dem Start, so wie es das Ergebnis der rechtzeitig gelösten Aufgabe vorschrieb, betätigte er die Taste, die einen Funkimpuls in den Nachthimmel jagte und hoch über dem Atlantik die elf Pulverraketen der zweiten Stufe sowie kurz darauf in rascher Folge die Treibsätze der dritten und der vierten Stufe auslöste. Sieben Minuten nach dem Start, als der »Explorer« sich in der Kreisbahn etabliert haben mußte, wurde General Medaris von seinem Adjutanten gefragt, ob man nun Washington über den Erfolg informieren könne. Medaris entschied: »Nein, lassen wir sie noch ein bißchen schwitzen!«

Denn noch immer war nicht mit Sicherheit zu sagen, ob der Satellit die Erde wie vorgesehen umrunden würde. Schon Monate vorher hatten amerikanische Wissenschaftler ein erdumspannendes Netz von Beobachtungsstationen aufgebaut, die den künstlichen Mond auf seinem Flug um den Erdball orten sollten. Zehn Minuten nach dem Start meldeten die Techniker einer dieser Stationen auf den Westindischen Inseln, daß sie den heiseren Meßton des Satelliten vernommen hatten. Fünfzehn Minuten später wurde der »Explorer« über Ghana an der Westküste Afrikas gemeldet. Aber erst, wenn der Satellit nach fast einer Erdumkreisung Kalifornien überflog, konnten die Wissenschaftler endgültig sicher sein, daß der Start geglückt war.

Von Braun und seine Mitarbeiter hatten ausgerechnet, daß ihr »Explorer« genau 106 Minuten nach dem Start über der südkalifornischen Stadt San Diego auftauchen müßte. Aber 106 Minuten nach dem Start meldete San Diego an Wernher von Braun, der in der Wartezeit beklommen in den Korridoren des Pentagon auf- und abtrottete: »Wir hören nichts.« Da Satelliten die Erde nach unumstößlichen physikalischen Gesetzen mit der Präzision eines Uhrwerks umrunden, mußte etwas schiefgegangen sein. Drei, vier Minuten tröpfelten dahin.

Wernher von Braun und sein amerikanischer Kollege Pickering überrechneten noch einmal schnell, den »Explorer« -Fahrplan. Von Braun vermutete: »Das Ding muß weiter als geplant in den Weltraum hinausgeflogen sein.« Piekering konnte die Spannung nicht länger ertragen und schrie seinen Assistenten in San Diego durchs Telephon an: »Frank, warum zum Teufel hört ihr nichts?« Endlich, genau 114 Minuten nach dem Start, acht Minuten später als erwartet, jubelte Pickering am Telephon: »Er ist da, wir haben ihn!« Die Raketentreibsätze hatten den »Explorer« ein beträchtliches Stück weiter in das All geschossen, als die Techniker auf Grund ihrer Berechnungen erwarten konnten. Über eine Sonderleitung wurde Eisenhowers Pressesekretär informiert, der die Nachricht sogleich an den Bridge- und Golfurlauber weiterreichte.

Die Armee-Offiziere und Raketen-Techniker in Cap Canaveral betrieben eine Siegesfeier, die bis in die frühen Morgenstunden dauerte. »Die Armeeleute wurden redselig, ihr verklärtes Lächeln erstrahlte über den ganzen Stützpunkt«, berichtete die »New York Times«, »der feixende Gesichtsausdruck des Generalmajors John B. Medaris, des Raketenzars der Armee, kontrastierte merkwürdig mit seiner reichlich dekorierten Uniform.«

Medaris stellte den versammelten Presseleuten seine Mitarbeiter vor. Er nannte sie bei ihren Vornamen, die sogleich die deutsche Abstammung der meisten verrieten, und präsentierte sie wie Schuljungen, die Preise gewonnen hatten - so jedenfalls empfand es der Sonderkorrespondent Milton Brakker. Die Marine-Techniker, die ihr Desaster noch nicht verwunden hatten und an ihrer »Vanguard«-Rakete herumwerkelten, ließen sich nicht blicken. Um sechs Uhr morgens kletterte General Medaris in sein Sonderflugzeug, um in Huntsville triumphalen Einzug zu halten, wo ihn - wie man versicherte - die in den Straßen. tanzenden Bürger ungeduldig erwarteten.

Die Präsentation der Wissenschaftler mit den deutschen Namen vor den Pressekorrespondenten in Cap Canaveral und der Auftritt Wernher von Brauns in Washington demonstrierten vor aller Welt eindringlich ein Faktum, das die »New York Times« noch einmal gewissenhaft notierte: »Die Geschichte des historischen amerikanischen Raketenstarts vom 31. Januar geht direkt auf die Arbeiten der Deutschen an der V-2-Rakete in Peenemünde zurück.«

Bis zu Beginn des Jahres 1945 war Wernher von Braun technischer Direktor der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde gewesen, wo rund 5000 Techniker, Ingenieure und Wissenschaftler an den Fernlenkwaffen des Heeres und der Luftwaffe arbeiteten. Dort entstand das »Aggregat 4«, die erste Großrakete moderner Waffentechnik, die später unter der Propagandabezeichnung »V 2« berühmt wurde. Zu Beginn des letzten Kriegsjahres, als die Rote Armee schon in die deutschen Ostprovinzen eindrang und das Kriegsende abzusehen war, arbeitete eine Ingenieursgruppe noch an dem ehrgeizigen Projekt A 9/A 10, einer gewaltigen Zweistufenrakete zur Beschießung New Yorks.

Je dichter die Spitzen der russischen Armeen heranrückten, desto verwirrter waren die Befehle, die bei dem Peenemünder Kommandanten Dornberger - der übrigens heute für die amerikanische Flugzeugfirma »Bell Aircraft Corporation« tätig ist - und bei Wernher von Braun eintrafen. Dienststellen in Berlin befahlen die sofortige Räumung der Insel und die Verlagerung der gesamten technischen Einrichtung nach Mitteldeutschland; Gauleiter und Küstenbefehlshaber forderten die Raketenleute zur gleichen Zeit auf, die Heimat bis zur letzten Patrone zu verteidigen. Sie drohten, jeden flüchtigen Peenemünder als Deserteur erschießen zu lassen.

Wernher von Braun versammelte schließlich die Abteilungsleiter der Peenemünder Werke zu einer Besprechung in einem harmlosen Bauernhaus in der Nähe der Versuchsanstalt. »Dort fühlten wir uns unbeobachtet«, berichtete er später, »wir konnten in aller Ruhe darüber abstimmen, was geschehen sollte.« Braun verlas die einander widersprechenden Befehle, die sich bei ihm angesammelt hatten, und die Abstimmung ergab das einstimmige Urteil: Absetzen in Richtung Westen.

In den folgenden Wochen zog das Raketenvolk geschlossen nach Thüringen, um sich dort von amerikanischen Truppen überrollen zu lassen. Wernher von Braun und einige Mitarbeiter trampten noch weiter nach Süden und nahmen am 2. Mai 1945 Kontakt mit US-Soldaten auf.

Der Soldat Fred P. Schneiker von der 44. US-Division berichtete darüber: »Auf der Landstraße, wenige Kilometer westlich von Landeck, kam ein junger Mann auf einem Fahrrad auf mich zugefahren und sprach mich in perfektem Englisch an: 'Wir sind eine Gruppe von Raketen-Spezialisten und haben uns in den Bergen versteckt. Wir möchten Ihren Kommandeur sprechen und uns den Amerikanern stellen.'« Der Radfahrer im Ledermantel war Magnus von Braun (damals 26), Wernhers jüngerer Bruder*.

Zur gleichen Zeit saßen bereits in einem Hotel in Bad Kissingen einige Intelligence -Offiziere der US-Armee, die nur darauf warteten, daß ihnen das Auftauchen deutscher Raketen-Spezialisten gemeldet würde. Wichtigste Ausrüstung dieser Offiziere war eine umfangreiche Namenskartei, in der fast sämtliche deutsche Fernlenkwaffen-Ingenieure registriert waren. Mehr als hundert Karteikarten waren mit einer Büroklammer gekennzeichnet worden; darunter beispielsweise die mit den Namen Wernher von Braun, Diplom-Ingenieur Walter Riedel, Generalmajor Walter Dornberger, Dr. Ernst Stuhlinger und Dr. Martin Schilling.

Die Büroklammern besagten: Amerikanische Dienststellen legen Wert darauf, diese Personen zu vernehmen und nach den USA zu verbringen. Die Büroklammern gaben der Suchaktion, die erst beendet wurde, als 120 der wichtigsten Peenemünder Wissenschaftler und Ingenieure in den Dienst der US-Armee eingetreten waren, auch den Namen: »Operation Paperclip« - »Unternehmen Büroklammer«.

Obwohl von Braun die zögernden Amerikaner bedrängte, die Peenemünder Stammgruppe geschlossen zu übernehmen, beeilten sich viele Wissenschaftler, die während des Krieges auf die Raketen-Insel zwangsverpflichtet worden waren, an ihre Hochschulen in Ost- und Westdeutschland zurückzukehren. Die Amerikaner hielten sie nicht zurück.

Später boten amerikanische Unterhändler den deutschen Wissenschaftlern Arbeitsverträge an. Doch die Kontrakte waren nicht generös: Sie sahen vor, daß die Ingenieure kurzfristig von der US-Armee entlassen werden konnten, aber selbst niemals kündigen durften; alle Familienangehörigen - auch Ehefrauen - mußten in Deutschland zurückbleiben. Trotz dieser Klauseln nahmen rund 120 Peenemünder, fast die gesamte Braunsche Stammgruppe, das Angebot an.

Wernher von Braun und ein halbes Dutzend Peenemünder Spitzenkräfte, die bei der »Operation Paperclip« erfaßt worden waren, wurden zuvor noch zwangsweise nach London verfrachtet, wo britische Wissenschaftler und Militärs begierig waren, alle Einzelheiten über die deutschen Wunderwaffen zu erfahren. Erst im September 1945 gaben die englischen und amerikanischen Geheimdienstler die deutschen Raketenkonstrukteure wieder frei, und Wernher von Braun, der sich der amerikanischen Armee verpflichtet hatte, wurde zum Versuchsgelände »White Sands« in New Mexico geflogen, um dort amerikanische Armeeangehörige und Ingenieure der »General Electric« in der Technik des Raketenschießens zu unterweisen.

Nur wenige Spitzenkräfte aus Peenemünde waren - wie der Spezialist für Steuerungsverfahren und stellvertretende Abteilungsleiter Helmut Gröttrup - in das sowjetisch besetzte Gebiet zurückgekehrt. Gröttrup baute im Auftrag der. Roten Armee das einstige »Mittelwerk« bei Nordhausen wieder auf und holte sich dazu die besten Kräfte von den Hochschulen Westdeutschlands. Die Russen ermächtigten ihn, großzügige Angebote zu machen; bald arbeiteten 5000 Leute wieder in der V-2-Fertigung, die dem zum Generaldirektor ernannten Gröttrup unterstand. Aber auch neue Projekte wurden entworfen. Sagt Ehefrau Irmgard Gröttrup: »Mein Mann wollte gleich munter zum Mond.«

Nachdem das »Mittelwerk« mit gewaltigem Aufwand wieder in Betrieb genommen worden war, wurde es plötzlich im Oktober 1946 demontiert. Ein Sammeltransport brachte die 200 wichtigsten deutschen Techniker nach Moskau und auf die Insel Gorodomlja, die in einem See nordöstlich von der sowjetischen Hauptstadt liegt. Dort sollten die Deutschen eine Rakete entwerfen, die eine Nutzlast von drei Tonnen über eine Strecke von 3000 Kilometer tragen konnte. Ende 1950 hatten die deutschen Experten die Aufgabe gelöst. Gröttrup legte den Sowjets die Konstruktionspläne vor. Einem Start durften die Deutschen jedoch nicht beiwohnen.

Gröttrup und seine Leute mußten vielmehr russische Assistenten anlernen, die ihnen dann später als Abteilungsleiter übergeordnet wurden. Von 1950 bis 1953 befaßte sich die deutsche Gruppe um Gröttrup nur noch mit kleinen raketentechnischen Verbesserungen, hauptsächlich arbeitete sie längst an raketenfremden Problemen, wie zum Beispiel elektronischen Rechengeräten.

Als Gröttrup sich immer wieder weigerte, die russische Staatsbürgerschaft anzunehmen, wurde er schließlich im Dezember 1953 entlassen. Auch die meisten anderen Deutschen konnten zu jener Zeit aus der Sowjet-Union ausreisen - was Wernher von Braun auf den Umstand zurückführt, daß die Russen ihre Beutetechniker kaum mit schöpferischen Entwicklungsaufgaben betrauten.

»Wir haben aus den verschiedensten Quellen gehört«, berichtete von Braun, »daß es in Rußland gang und gäbe gewesen ist, den Deutschen zu sagen: 'Schreibt, was Ihr, zu schreiben habt, auf Deutsch, wir übersetzen es dann.' Die russischen Techniker haben dann, nachdem sie die Berichte ins Russische übersetzt hatten, ihre eigenen Namen daruntergesetzt, so daß der deutsche Verfasser dieses Berichtes den russischen Instanzen nie bekannt geworden ist. Das hat aber auf lange Sicht gesehen den Deutschen anscheinend insofern genützt, als immer weniger Leute einsahen, wozu denn die Deutschen immer noch dabehalten wurden. Es hieß mehr und mehr: 'Die wissen ja sowieso nichts', und dann hieß es eben: 'Gut, schickt sie nach Hause.'«

Nach Auffassung des berühmten amerikanischen Atomforschers Eugene Rabinowitsch waren die Sowjets - im Gegensatz zu den Amerikanern - auch nicht unbedingt vom theoretischen Wissen der deutschen Raketenspezialisten abhängig. »Es ist eine Tatsache, daß auf vielen Gebieten der angewandten Mechanik Amerika stets hinter Rußland - dem zaristischen wie dem kommunistischen - zurückgeblieben ist«, schrieb er im »Bulletin of the Atomic Scientists«. »Rußland hat ungebrochene wissenschaftliche Tradition in der Hydrodynamik, der Aerodynamik und der Ballistik. Es ist lächerlich, den Erfolg der sowjetischen Raketen mit dem Einsatz deutscher Spezialisten zu erklären. Wir haben die wichtigsten Experten zu uns nach Amerika geholt, und es war unsere Waffentechnik - nicht die der Russen -, die eine Blut-Transfusion aus dem Ausland benötigte.«

Amerikanische Truppen hatten aus den unterirdischen V-2-Fabriken in Thüringen Einzelteile von ungefähr hundert V-2-Raketen nach White Sands geschafft, ehe die Rote Armee in Mitteldeutschland einrückte. Schon knapp ein Jahr nach Kriegsende konnte Wernher von Brauns neugebildetes Team Raketenversuche für die neuen Auftraggeber beginnen. Am 16. April 1946 stieg die erste Beute-V-2, mit Höhenforschungsgeräten ausgestattet, in den amerikanischen Himmel. »Die Zeit in White Sands von 1946 bis 1950 war die Erfüllung eines Wunsches, von dem wir schon in Peenemünde geträumt hatten«, sagt von Braun. »Wir konnten unsere Dinger endlich mal für wissenschaftliche Zwecke einsetzen.«

Schon in Peenemünde hatte von Braun sich in jeder freien Minute mit Plänen für die Raumfahrt beschäftigt. Selbst in den letzten Kriegsjahren, als das Führerhauptquartier immer dringlicher die »Wunderwaffen« aus Peenemünde forderte, vertrat er vor seinen Mitarbeitern unbekümmert die Auffassung, daß die Arbeiten an der V 2 nur als Vorspiel für die Konstruktion von Raumschiffen zu betrachten seien. Seine Himmelsstürmerbegeisterung brach immer wieder in Monologen hervor: »Der Raumflug ist eine Aufgabe, der man sein Leben widmen kann! Den Mond und die Planeten nicht nur durch das Fernrohr betrachten, sondern selbst durch den Raum stürmen und das geheimnisvolle Universum unmittelbar erforschen!«

Wernher von Brauns Himmelsstürmerpläne wurden jedoch der Gestapo hinterbracht, und in einer Märznacht des Jahres 1944 - von Braun hatte gerade Nachtdienst in seinem Konstruktionsbüro - verbrachten ein paar SS-Männer den technischen Chef der deutschen Raketenentwicklung zum Verhör in Gestapo-Haft. Man warf ihm vor, er betreibe die Raketenentwicklung nur, um Geld für seine privaten und kriegsunwichtigen Raumfahrt-Pläne zu bekommen.

Generalmajor Dornberger hatte Mühe, seinen jungen Professor - von Braun war damals 31 - aus der Gestapo-Zelle zu befreien, Er wurde erst entlassen, nachdem Dornberger im SS-Sicherheitshauptamt vorgesprochen hatte: »Ehe ihr mir den Braun nicht wieder rauslaßt, kriegt ihr keine V 2.«

In Amerika konnten von Braun und die deutschen Wissenschaftler seiner Arbeitsgruppe ihren Raumfahrt-Ambitionen ungestört nachgehen. Bis 1950 gab es in der US-Armee kaum ernsthafte Bestrebungen, Raketen für Kriegszwecke zu entwickeln. Die erbeuteten V 2 wurden ausschließlich zu Forschungszwecken verschossen.

1950 bekundete das amerikanische State Department zum ersten Mal Interesse an den deutschen Wissenschaftlern. Es hatte sich herumgesprochen, daß irgendwo im Süden der Vereinigten Staaten über hundert Deutsche lebten, die zwar der Armee einige nützliche Dinge vorführten, aber nach den Gesetzen des Landes eigentlich gar nicht in Amerika sein durften.

Da gültige Einreise-Visa nur von amerikanischen Konsulaten im Ausland ausgestellt werden können und ein abgekürztes Verfahren für illegale Einwanderer nicht statthaft ist, mußten sich von Braun und seine Mitarbeiter einer umständlichen und grotesken Prozedur unterwerfen. Die Arbeitsgruppe war zu jener Zeit in dem kleinen Ort El Paso, dicht an der mexikanischen Grenze, einquartiert. Die Armee ließ deshalb dem amerikanischen Generalkonsul in dem mexikanischen Grenzort Juarez gültige Einwanderungspapiere für die deutschen Raketentechniken zuschicken.

Jeder illegal eingereiste Techniker des »Unternehmens Büroklammer« mußte dann zu Fuß die Grenze nach Mexiko überschreiten und beim Konsul in Juarez seine Dokumente abholen. Danach erst durfte er, diesmal offiziell, nach den USA »einwandern«, »Das wirkt hierzulande besonders komisch«, berichtete von Braun, »denn die meisten Einwanderer führen in ihren Papieren den Vermerk 'eingewandert mit der Queen Mary oder mit einem anderen großen Schiff oder mit einer transatlantischen Luftlinie'. Bei uns steht dort vermerkt, daß wir mit der El Pasoer Straßenbahn eingewandert sind.«

Im Jahre 1950 zog die deutsche Raketengemeinschaft, zu der nun auch schon zahlreiche Familien gehörten, wieder einmal um - diesmal in die Stadt Huntsville, wo die Armee das neue Raketenzentrum »Redstone« errichtet hatte.

Die deutschen Raketenexperten hatten sich inzwischen weitgehend der amerikanischen Lebensweise angepaßt. Die Techniker sprachen den Slang der amerikanischen GIs, ihre Kinder perfektes Südstaaten-Amerikanisch. In den Laboratorien von Huntsville aber, die zum größten Teil von den Deutschen geleitet werden, entstand eine neue Sprache mit englisch abgewandelten Worten aus dem deutschen technischen Vokabular. Das ulkige Raketen-Pidgin aus deutschen und amerikanischen Fachausdrücken inspirierte sogar Mitarbeiter des Pentagon, ein parodierendes Wörterbuch herauszugeben, dem eine beachtliche Publizität zuteil wurde. Danach war ein

- ferngelenktes Geschoß: Das Skientifiker

Geschtenwerkes Firenkracker;

- Raketenmotor: Firenschpitter mit Smoken-und-Schnorten;

- der Sprengkopf: Das Laudenboomer;

- Atom-Sprengkopf: Das Eargeschplitten

Laudenboomer;

- Wasserstoff-Sprengkopf: Das Eargeschplitten Laudenboomer mit ein große Holengraund und Alles kaput.

Ende 1954 sahen sich die deutschen Wissenschaftler dicht vor dem Ziel, dessentwegen sie ihre Arbeit in Alabama fortgesetzt hatten: einen künstlichen Erdsatelliten in den Raum zu schießen. Von Braun hatte keine publizistischen Mittel gescheut, das Milliarden-Dollar-Projekt dem amerikanischen Kongreß zu verkaufen. Schon 1952 stellte er in Magazin-Artikeln, in Rundfunk- und Fernsehvorträgen den Amerikanern einen künstlichen Himmelskörper in Aussicht, der als Symbol von Amerikas Allmacht im Westen aufgehen sollte und - allen Völkern der Erde sichtbar - den Erdball umrunden würde.

Am 25. Juli 1954 traf er sich mit Offizieren und Technikern der Marine in Washington. Er offerierte seine »Redstone«, die als Waffenrakete bei der US-Armee eingesetzt ist und einen Sprengkopf über 320 Kilometer Entfernung befördern kann, als Trägerrakete. Anstelle eines Sprengkopfes, sagte Wernher von Braun, könne die »Redstone« einen zwei Kilo schweren Satelliten befördern, der von der Marine herzustellen wäre. Man kam überein, daß dieser erste künstliche Erdsatellit im Sommer oder im Herbst 1957 gestartet werden könne. Aber noch ehe die Pläne dem Verteidigungsministerium offiziell vorgelegt wurden, entschloß sich Präsident Eisenhower, das Satelliten-Programm als reines Grundlagenforschungsprojekt betreiben zu lassen. Seine Ratgeber fürchteten ein ungünstiges Echo aus den neutralistischen Ländern, wenn die amerikanischen Wissenschaftler eine Militärrakete für den Satellitenstart benutzen würden.

So kam es, daß ausgerechnet derjenige Wehrmachtsteil mit dem Satellitenprojekt beauftragt wurde, der über die wenigsten Raketenerfahrungen verfügte. Das Forschungsamt der amerikanischen Marine hatte in den voraufgegangenen Jahren zur Erforschung der oberen Schichten der Atmosphäre die »Viking« entwickelt. Sie war eine reine Forschungsrakete, also ein Geschoß, das nicht zur Beförderung von Sprengköpfen bestimmt war. Das Marineforschungsamt erhielt nun den Befehl, auf der »Viking« aufbauend eine neue Forschungsrakete zu entwickeln und mit ihr einen Satelliten als »Beitrag zum Internationalen Geophysikalischen Jahr« in den Weltraum zu entsenden.

Die Techniker der Armee durften zwar an ihrer neuen Mittelstreckenrakete ("Jupiter") weiterbauen, doch sollte auch dieses Geschoß nicht für das Erdsatellitenprojekt verwandt werden. Überdies hatte Verteidigungsminister Wilson mittlerweile der Luftwaffe die Befehlsgewalt über alle Fernraketen übertragen.

Das Raketen-Gemeinwesen Huntsville schien, nach den Worten Wernher von Brauns, zum Aussterben verurteilt: »Man sagte uns immer wieder, daß wir den Laden bald zumachen müßten, weil die Jupiter-Rakete kaum mehr benötigt werden würde.« General Medaris, der sich als militärischer Mäzen beim Pentagon für seinen teutonischen wonder boy einsetzte, beschrieb die Situation später: »Wir waren in der Lage eines Patienten, dem der Doktor bereits das Todesurteil gesprochen hatte - aber wir haben uns einfach geweigert, zu sterben.«

Mit der Energie eines Mannes, »der daran gewöhnt ist, als unentbehrlich zu gelten« - so jedenfalls sah es der amerikanische Journalist Daniel Lang - entfaltete Wernher von Braun mit Unterstützung der Armee einen Wanderpredigerfeldzug, der ihn in den Geruch brachte, ein Walt Disney der Raumfahrt zu sein. Er gab Presse-Interviews, hielt Fernseh-Vorträge und betätigte sich sogar als-Einflußhändler bei den Kongreß-Abgeordneten.

Die Air-Force-Offiziere eröffneten ihrerseits einen propagandistischen Feuerschlag gegen den Baron aus Westpreußen, um seine Pläne als die Phantastereien eines besessenen Weltraum-Faustus zu entlarven, der skrupellos die Ressourcen Amerikas zur Befriedigung seines persönlichen Ehrgeizes anzubohren gedachte. Sie erinnerten daran, daß von Braun für den Barbaren Hitler bedenkenlos die V 2 gebaut hatte, nur um später seine eigenen Weltraumpläne verwirklichen zu können.

Auch die Marine, die mittlerweile die Arbeit an ihrem Satellitenprojekt »Vanguard« begonnen hatte, ermunterte ihre Wissenschaftler, in die Anti-Braun-Kampagne einzusteigen. Der technische Leiter des »Vanguard«-Unternehmens, der Raketen-Konstrukteur Milton Rosen, mühte sich, mit beißender Kritik Mängel an den kühnen Braunschen Konzeptionen bloßzulegen.

Wernher von Braun eilte derweil per Flugzeug zwischen Huntsville und Washington hin und her, um aus den Forschungs - und Entwicklungsfonds Gelder zu erbetteln und zusammenzuborgen, die eine Weiterarbeit ermöglichen würden. Die Führungsgremien in Washington wurden bald des eifernden Reisenden in Weltraumfahrten überdrüssig, der damals noch nicht einmal die amerikanische Staatsbürgerschaft besaß. Wernher von Braun wurde, wie der amerikanische Raketen-Experte Erik Bergaust berichtete, »beinahe zur Tür des Konferenzsaales im US-Verteidigungsministerium hinausgeworfen«. Eindeutig waren die Raketen-Mannschaften der Luftwaffe und der Marine die Favoriten des Verteidigungsministers Charles ("Motoren -Karlchen") Wilson.

Die Situation für die deutsche Forschergruppe in Huntsville änderte sich erst, als Wilson von dem Posten des Verteidigungsministers abgelöst wurde. Kurz zuvor, am 4. Oktober 1957, hatte Wernher von Braun mit dem Seifenindustriellen und designierten Wilson-Nachfolger Neil McElroy im Offiziersklub von Huntsville diniert und ihn für seine Weltraumpläne zu erwärmen versucht. Noch während des Essens wurde von Braun ans Telephon gerufen, mit roten Flecken auf den Wangen kehrte er zurück: Die Russen,hatten den ersten Erdsatelliten gestartet.

Von Braun beschwor McElroy, die von der Armee entwickelte Jupiter-C-Rakete endlich in das Satelliten-Rennen einzuspannen. Einen Monat später - McElroy hatte inzwischen über hundert Vorschläge der drei Wehrmachtsteile für den Start eines amerikanischen Satelliten erhalten - gab der neuernannte Verteidigungsminister endlich Befehl, Wernher von Brauns Rakete für einen Satelliten-Start klarzumachen.

Vorsorglich hatte die Armee schon einige Zeit zuvor das Technologische Institut der Universität von Kalifornien beauftragt, eine Instrumentenladung für die Jupiter-C-Rakete und den »Explorer« zu entwerfen. Das Gewicht der Instrumentierung war durch die Tragfähigkeit der Vierstufenrakete begrenzt: Die Meßgeräte durften insgesamt nicht viel mehr als viereinhalb Kilo wiegen - also etwa achtzehnmal weniger als Sputnik I.

Die amerikanischen Satelliten-Experten machten sich jedoch anheischig, den enormen Gewichtsunterschied zwischen Sputnik I und dem »Explorer« mit raffinierten Meß- und übertragungstechniken wettzumachen. Sie staffierten ihren Satelliten mit ausgeklügelten Miniatur-Instrumenten und Kleinstsendern aus, die bis zu hundertmal weniger wiegen als die entsprechenden klobigen Geräte der Russen. Die Amerikaner verwandten beispielsweise neuartige Schaltelemente - streichholzgroße »Transistoren« - anstelle der üblichen Radioröhren, die von den Russen in ihren Sputnik eingebaut worden waren.

Amerikanische Satelliten-Techniker sind deshalb überzeugt, daß der wissenschaftliche Wert ihres ersten künstlichen Mondes mindestens ebenso hoch einzuschätzen ist wie der des ersten russischen Sputnik. Der Direktor der Satelliten-Werkstatt in der kalifornischen Universität, Dr. J. E. Froelich, behauptete sogar, der leichtgewichtige US-Mond werde wahrscheinlich mehr wissenschaftliche Daten zur Erde funken als die beiden ersten Sowjet-Satelliten«.

Vier Tage nach dem erfolgreichen Abschuß des »Explorer« - der bewies, daß hinter den Versprechungen des zugereisten Ausländers Wernher von Braun nicht nur die himmelstürmende Begeisterung eines Phantasten, sondern verläßliches technisches Können stand - machte der Braun -Gegner Milton Rosen den zweiten Startversuch mit einer »Vanguard«. Das Geschoß zündete einwandfrei, mußte aber dann doch durch Funkbefehl gesprengt werden, weil es von dem vorgeschriebenen Kurs abwich.

Das Versagen des Steuerungssystems und die viermalige Verschiebung des Starttermins offenbarten, daß die »Vanguard« noch immer nicht zuverlässig arbeitet und darüber hinaus - wie alle amerikanischen Ferngeschosse - eine ausgesprochene Schönwetter-Rakete ist, die bei höheren Windgeschwindigkeiten in der oberen Atmosphäre nicht gestartet werden kann. Die Startversuche mit ihren nervenzehrenden, elf Stunden währenden Zeitkontrollen und Überprüfungen legten die Konstruktionsschwächen der amerikanischen Projektile bloß, denn die amerikanischen Waffenraketen, die einen Atom- oder Wasserstoffsprengkörper über Tausende von Kilometern transportieren können, sind mit demselben Antriebssystem ausgestattet wie die »Vanguard«-Forschungsrakete. So gaben die Meldungen von den mehrfachen Startverzögerungen der Satelliten-Rakete »Vanguard« auch Aufschluß über die Einsatzbereitschaft der amerikanischen Waffenraketen vom Typ »Thor«, »Jupiter« oder »Atlas«. Die Berichte über die Startschwierigkeiten in Cap Canaveral entlarvten die Drohung von der »instant retaliation«, dem sofortigen Gegenschlag auf einen sowjetischen Fernraketenangriff, als Bluff.

»Startverzögerungen sind fast unvermeidbar, selbst wenn ein Start schließlich erfolgreich vonstatten geht«, berichtete die amerikanische Zeitschrift »US News & World Report«. »Es ist so, als ob man bei seinem Auto ein dutzendmal die Kurbelwelle durchdreht, den Motor auseinandernimmt, den Benzintank mehrere Male leert und wieder einfüllt, ein Paar Reifen auswechselt und dann einsteigt, falls es so aussieht, als sei alles in Ordnung. Mit einem Unterschied: Das Auto wird vielleicht beim Anfahren explodieren.«

Verzögerungen können durch ein ganzes Register möglicher Fehlerquellen entstehen

- beispielsweise durch blockierte Ventile,

die von dem enorm kalten flüssigen Sauerstoff (minus 200 Grad) eingefroren werden, durch einen Defekt an einem der 50 000 Einzelteile, aber auch schon durch ein loses Kabel. Selbst bei den interkontinentalen Raketen vom Typ »Atlas«, die theoretisch in 35 Minuten von Florida nach Moskau fliegen können, dauert die Zeitkontrolle vor dem Start sechs bis acht Stunden. Sie kann auch nicht etwa dadurch verkürzt werden, daß einige Raketen stets in Bereitschaft gehalten werden. Denn der flüssige Sauerstoff in den Tanks würde schnell verdampfen und die Metallwände brüchig machen.

Die Radar-Experten der amerikanischen Armee haben errechnet, daß sie einen feindlichen Raketenangriff frühestens fünfzehn Minuten vor dem Eintreffen der Geschosse melden könnten. Diese Zeitspanne würde nicht ausreichen, um eine Vergeltungssalve mit »Jupiter«-, »Thor«- oder »Atlas«-Raketen abzufeuern, und da die amerikanischen Raketenstützpunkte zu den wichtigsten Zielen eines Überfalls zählen würden, müssen die Planer des Pentagon ein Raketen-Pearl-Harbor einkalkulieren. Noch immer gilt, was der amerikanische Senator Lyndon W. Johnston vor sieben Jahren sagte: »Für einen Druckknopfkrieg haben die USA weder den Druck noch den Knopf.«

Deswegen haben sich die amerikanischen Raketen-Konstrukteure in den letzten Monaten auf die Entwicklung eines robusteren Raketentyps konzentriert, der sogenannten Pulverrakete, die den Anforderungen nach mechanischer Zuverlässigkeit und sofortiger Einsatzbereitschaft entspricht. Die Treibsätze dieser Raketen bestehen aus einer simplen Pulverladung; das Antriebssystem des Geschosses benötigt keine Pumpen, Rohrleitungen, Ventile und Druckkessel. Vor allem: Pulverraketen sind in startklarem Zustand unbegrenzt lagerfähig.

Bis vor kurzem hatte man die Entwicklung derartiger Projektile bewußt vernachlässigt, da die Leistung der festen Treibsätze verhältnismäßig gering war. In den letzten Jahren ist es jedoch den Chemikern gelungen, die Leistung der Pulver-Treibsätze entscheidend zu steigern und eine Fehlerquelle auszumerzen: Die Pulver -Treibsätze enthielten häufig haarfeine Risse, die zu einer ungleichmäßigen Verbrennung des Treibsatzes und oft auch zur Katastrophe führten. Die Raketen wichen dann vom Kurs ab, zerbrachen in der Luft oder explodierten. Vor wenigen Monaten gab nun ein kalifornisches Chemiewerk bekannt, es sei seinen Wissenschaftlern gelungen, ein neuartiges »Gummipulver« zu entwickeln, das den Bau gigantischer Pulver-Raketen ermögliche.

Die Fortschritte bei der Entwicklung der ersten amerikanischen Pulver-Rakete mit mittlerer Reichweite ("Polaris"), die von Technikern der amerikanischen Marine entworfen wurde, sind so ermutigend, daß selbst die Deutschen in Huntsville beeindruckt waren. Die Techniker unter Wernher von Braun, bisher die eifrigsten Apostel der Flüssigkeitsrakete, begannen daraufhin ebenfalls die Arbeiten an einer Pulver-Rakete ("Pershing").

Darüber hinaus haben die Raketen-Techniker der amerikanischen Armee im Vertrauen auf ihr neugewonnenes Prestige die Mittel für den Bau einer Riesenrakete gefordert, deren Schubkraft zwölfmal so groß sein soll wie die ihrer Satelliten-Rakete. Ein solches Projektil würde fast die Ausmaße eines kleinen Raumschiffes haben.

Bereits am Dienstag der vergangenen Woche berichtete die »New York Herald Tribune« aus Washington, daß sich »ein Schuß zum Mond als das nächste mögliche Großprojekt der Vereinigten Staaten abzeichnet«. Senator Henry M. Jackson, ein Mitglied des neugegründeten Kongreß -Ausschusses für Raumfahrt, erklärte vor den Fernseh-Kameras, daß eine amerikanische Mondrakete schon »in wenigen Monaten« abgefeuert werden könne.

Dennoch befürchten die amerikanischen Raketen-Techniker, daß die Sowjets den Wettlauf zum Mond gewinnen werden. Berichte aus der UdSSR besagen, daß die sowjetischen Techniker bereits eine Mondrakete von der Höhe eines 20stöckigen Hauses ausrüsten. In Washington bemühte sich Wernher von Braun in der vergangenen Woche, alle hochgespannten Erwartungen, die durch den »Explorer«-Erfolg in Amerika ausgelöst worden waren, auf ein vertretbares Maß zurückzudrängen.

»Es wird mindestens noch fünf Jahre dauern, bis wir die Russen eingeholt haben«, sagte er. »Vorerst kann nur unser Unternehmungsgeist mit ihnen konkurrieren.«

* Magnus von Braun, ein Chemie-Ingenieur, ist, heute für die amerikanische Flugzeugfirma »Bell Aircraft« tätig. Der ältere Bruder Wernher von Brauns, Sigismund, 46, der zur Zeit Botschaftsrat an der deutschen Botschaft in London ist, soll demnächst zum Chef des Protokolls im Bonner Auswärtigen Amt ernannt werden.

Satelliten-Rakete »Jupiter C": Ein Deutscher druckte auf den Knopf

Raketen-Konstrukteur von Braun

»Das All gehört uns!«

»Daily Express«, London

»Die Deutschen wieder an der Front - Das Eiserne Kreuz 1. Klasse für Wernher von Braun!«

Raketenforscher Stuhlinger

Das Firenkracker der Deutschen ...

Peenemünde-Kommandant Dornberger

... tilgte die Sputnik-Schmach

US-Verteidigungsminister McElroy

»Motoren-Karlchen« wurde verbrannt

Raketen-General Medaris mit Wissenschaftlern* in Cap Canaveral: Tanz in den Straßen

* Links: Dr. Kurt Debus, Mitte: Dr. J. E. Froelich.

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