POLIZEI »Machen Sie das!«
Der Raum 410 wirkt wie ein Mahnmal. Es hängt kein Bild an der Wand, es gibt überhaupt keine persönliche Spur von dem Mann, der hier an der Evaluierung der hessischen Polizeireform des Jahres 2000 arbeitet, selbst das Namensschild an der Tür ist leer. Hier sitzt Wolfgang Daschner, der frühere Polizeivizepräsident von Frankfurt am Main. Seit neun Monaten ist er nun schon in diesen Büroklotz des Wiesbadener Innenministeriums abgeordnet. Die Ringe unter seinen Augen sind tiefer geworden, die Falten offensichtlicher.
Daschner, schon immer ein sehr beherrschter, sehr förmlicher Mensch, wollte nie hier sitzen, mit Blick auf den Hinterhof. Er wurde versetzt, weil er einem Entführer Gewalt androhen ließ. Er sei verbittert und unzugänglich, heißt es im Ministerium, »der ist fertig«. Er fühle sich als Opfer.
Daschner hat, das ist die vorläufige politische Entscheidung, seinen Posten im Polizeipräsidium verloren, weil er im Oktober 2002 Magnus Gäfgen, den Entführer des elfjährigen Bankierssohns Jakob von Metzler, so lange hatte quälen lassen wollen, bis dieser sagen würde, wo das Kind sei. Von dieser Woche an müssen nun die Richter des Frankfurter Landgerichts die strafrechtliche Seite beurteilen. Daschner und ein Untergebener, der die Drohung ausgesprochen haben soll, sind wegen Verleitung zur schweren Nötigung und schwerer Nötigung angeklagt. Aber es geht auch um die Frage, ob ein bisschen Folter wenigstens in bestimmten Situationen nicht doch ohne Strafe bleiben kann.
Erwartet wird ein Prozess Recht gegen Moral, ein Verfahren, in dem Daschner das Recht gegen sich hat, weil Folter verboten ist, die Moral der Verzweifelten aber für sich, weil er ein Kind retten wollte. Die Wahrheit aber könnte für alle, die mit Daschner bisher Mitleid hatten und ihn auch für ein Opfer, nicht für einen Täter hielten, irritierend sein. Im Prozess dürften erstmals Fakten bekannt werden, die nahe legen, dass Daschner zu seiner Verteidigung wenig anführen kann. Der so preußisch wirkende Beamte hat offensichtlich andere, erlaubte Wege, den Täter zum Reden zu bringen, ausgelassen.
Und auch für das Innenministerium könnte der Prozess mit einem Fiasko enden: Daschner, der sich jetzt allein gelassen fühlt, behauptet inzwischen in einer Erklärung gegenüber der Staatsanwaltschaft, er habe sich dort rückversichert; bei wem, will er nicht sagen, zumindest nicht bis zum Prozess. Aber an die Antwort will er sich noch genau erinnern können: »Machen Sie das! Instrumente zeigen!« Er sei geradezu ermutigt worden. Stimmt das, hätten Mitwisser auch im Ministerium gesessen - was dort bestritten wird.
Für viele Bundesbürger, das wurde nach dem Bekanntwerden der Verhörmethoden im Februar vergangenen Jahres klar, ist Gewaltanwendung - wie für Daschner - kein Tabu. In einer Umfrage des »Stern« sprachen sich über 60 Prozent der Befragten dafür aus, Daschner nicht zu bestrafen. Auch Politiker und Polizeichefs stellten sich hinter ihn.
Nur: Im konkreten Fall war die Gewaltandrohung weder »Ultima Ratio«, wie Daschner behauptete ("Wir hatten in der Nacht nach Gäfgens Festnahme alles versucht"), noch lag ein so »extremer Ausnahmefall« (Daschner) vor, dass er seine Handlung durch einen so genannten übergesetzlichen Notstand eventuell entschuldigen könnte. Darunter verstehen die meisten Juristen eher Horrorszenarien von drohenden Attentaten, bei denen ganze Stadtteile ausgelöscht werden könnten. Und Daschner ("Wenn ich 10 Leute um Rat gefragt hätte, hätte ich 20 Meinungen gehört") war nach eigener Aussage gar nicht jener einsame Entscheidungsträger, zu dem er sich zunächst stilisierte.
Schon als an jenem 27. September 2002 der Hinweis einging, dass ein elfjähriger Junge entführt worden sei, war schnell klar, dass dies keine normale Polizeiermittlung werden würde. Es ging um den Sohn eines vermögenden Bankiers, eines Kunstmäzens und stillen Wohltäters der Stadt Frankfurt. Der Hinweis auf die Entführung kam nicht direkt von der Familie, er hatte erst einen Umweg über die Politik, über den damaligen Innenstaatssekretär Udo Corts, genommen.
»Das kam von oben. Der Druck war immens«, sagt ein Frankfurter Kripo-Mann. Als dann nach ein paar Stunden Verhör Gäfgen, von dessen Täterschaft alle ausgingen, das Versteck des Kindes immer noch nicht benannt hatte, machte Daschner seinen Vorschlag, und er meinte ihn ernst: Gäfgen solle unter »Anwendung unmittelbaren Zwanges« dazu gebracht werden, das Versteck zu verraten, wenn andere Mittel nicht mehr hülfen.
Die Runde, allesamt erfahrene Polizeibeamte, war perplex. Einzelne Beamte begannen zwar noch zu ventilieren, ob man Gäfgen vielleicht mit Medikamenten zum Reden bringen könnte - ebenso eine verbotene Vernehmungsmethode. Doch die Androhung von Gewalt wurde vorerst verworfen, mehr oder weniger deutlich.
Im Laufe der Nacht schlug ein Wiesbadener Polizeipsychologe stattdessen vor, Gäfgen mit Elena, der älteren Schwester von Jakob von Metzler, zu konfrontieren. Gäfgen kannte Elena. Vielleicht, so der
Psychologe, könne man ihn auf diese Weise endlich zum Sprechen bringen.
Daschner soll von dem Vorschlag nichts gehalten haben, schließlich akzeptierte er ihn aber doch. Elena von Metzler war zu einem Gespräch mit dem mutmaßlichen Entführer ihres Bruders bereit, schon bald erschien sie im Polizeipräsidium. Die 16-Jährige wartete dann die ganze Nacht auf ihren Einsatz - vergebens.
Als der Vernehmungsbeamte gegen vier Uhr früh völlig erschöpft nach Hause ging, hatte auch Daschner eine kurze Auszeit genommen. Der Polizist beschied Gäfgen, die Befragung werde erst am nächsten Morgen fortgesetzt. Er hatte in dem Verhör »immer mehr den Eindruck gewonnen, dass Jakob nicht mehr am Leben ist«.
Am nächsten Morgen erschien der Vernehmungsbeamte eine Stunde später als sonst im Präsidium, und da war schon alles passiert.
Daschner war früh ins Büro gekommen. Ein Versuch, Gäfgen mit Hilfe seiner Mutter zum Reden zu bringen, war gescheitert. Und der Anruf des renommierten Strafverteidigers Hans Ulrich Endres, er komme, so schnell er könne, um mit Gäfgen über das Kind zu sprechen, fand offenbar keine Beachtung. Oder ist Daschner nicht informiert worden? Weder sein Anwalt noch der des ausführenden Polizeibeamten wollten zu dem Verfahren Stellung beziehen. In der Morgenrunde um acht Uhr gab Daschner die Anweisung, Gäfgen mit Gewalt zu drohen.
Für den Fall, dass der nicht sofort redete, hatte Daschner einen erstaunlich genauen Plan im Kopf: Die »Maßnahme« solle in Anwesenheit eines Arztes ausgeführt werden; es müsse »sichergestellt sein«, dass der Beschuldigte »keine bleibenden Schäden davonträgt«. In Bild und Ton wollte er festhalten lassen, wie ein Kollege durch »einfache körperliche Einwirkung, zum Beispiel durch Überdehnen eines Handgelenkes«, oder durch Druck auf »bestimmte Stellen«, etwa am Ohr - dort tue es »weh, sehr weh« -, Gäfgen zum Reden bringt. Es genüge, so sein Kalkül, »wenn ein relativ geringer Schmerz für eine bestimmte Dauer aufrechterhalten wird«. Irgendwann, das glaubte Daschner zu wissen, würde Gäfgen nicht mehr schweigen, »innerhalb sehr kurzer Zeit«.
Zumindest einer der anwesenden Beamten widersprach offen und forderte, dass sein Widerspruch zu den Akten genommen werde. Remonstrieren heißt das im Beamten-Deutsch. Daschner willigte ein, doch von seiner Position wich er nicht ab. Selbst der Hinweis, man habe noch nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft, wie etwa die Konfrontation mit Jakobs Schwester Elena, beeindruckte den Vize nicht.
»Wieso«, fragt auch Endres, »ist nicht einmal der Versuch gemacht worden, ihn mit Elena von Metzler zu konfrontieren, die schließlich schon vor Ort war?«
Er sei sich heute sicher, schreibt Gäfgen aus dem Gefängnis, dass er Elenas »Gegenwart nicht standgehalten hätte und ihr sofort erzählt hätte, wo Jakob ist« - aber wer weiß, ob der Kindsmörder diesmal die Wahrheit sagt?
In der Morgenrunde soll sich ein Profi mit mehrjähriger Erfahrung im Umgang mit schweren und schwierigen Jungs bereit erklärt haben, den Befehl auszuführen. Was dann geschehen sein soll, schildert Gäfgen so:
Er sagte, dass ich genau zuhören solle und dies kein Spaß und kein Spiel sei. Ein Spezialist sei mit einem Hubschrauber unterwegs, welcher ein Fachmann auf diesem Gebiet sei und mir große Schmerzen zufügen würde. Er könne mir Schmerzen zufügen, wie ich sie nie zuvor verspürt hätte. Die Behandlung würde keine Spuren hinterlassen. Der Beamte verdeutlichte die Situation, indem er die Rotorengeräusche eines Hubschraubers nachahmte. Der Beamte kam weiter näher, machte das Rotorengeräusch weiter nach und drohte, dass ich mit zwei großen, fetten Negern in eine Zelle gesperrt würde, welche sich an mir sexuell vergehen würden.
Diese Darstellung bestreitet Daschner vehement: Seine Leute hätten Gäfgen lediglich »sehr deutlich gemacht, dass wir ihm wehtun würden, bis er den Aufenthaltsort des Kindes nennt«.
Daschners Glaube, richtig gehandelt zu haben, und seine Korrektheit zwangen ihn dazu, sein Vorgehen noch am selben Abend schriftlich festzuhalten. In seinem Vermerk ("nur für die Handakte der Polizei/StA") notierte er, der Kriminalhauptkommissar habe schon bald mitgeteilt, dass Gäfgen »im Konjunktiv« eingeräumt habe, Jakob von Metzler sei tot. Das Geständnis habe die »Maßnahme entbehrlich« gemacht. Ein Hinweis darauf, dass ein Beamter sogar remonstriert hatte, findet sich nur verschlüsselt.
Als Oberstaatsanwalt Rainer Schilling noch am selben Tag vom umstrittenen Verhör erfuhr, habe er Daschner sogleich vorgehalten, wie er in einem Vermerk festhielt, dass er »allergrößte Bedenken wegen dieser Vorgehensweise« habe. Doch mit seinem Behördenleiter verständigte sich Schilling darauf, die prekäre Angelegenheit so lange auf sich beruhen zu lassen, bis die Ermittlungen im Entführungsfall abgeschlossen seien. Erst als der Daschner-Vermerk etwa vier Monate später eintraf, leiteten die Staatsanwälte ein Ermittlungsverfahren ein, im Februar dieses Jahres erhoben sie Anklage.
Die neue Situation sorgte für neue Erinnerungen. Der Kriminalhauptkommissar gab an, den Befehl zwar erhalten, aber nicht ausgeführt zu haben. Er habe Gäfgen nur mitgeteilt, dass die Polizeiführung darüber nachdenke, Zwang gegen ihn anzuwenden, aber nicht, dass man ihm Schmerzen zufügen wolle. Da es keine Zeugen gibt, steht jetzt Aussage gegen Aussage.
Damit könnte Daschner nun ganz allein stehen, was ihm angesichts der früheren Sympathiebekundungen wie eine doppelte Bestrafung, ja wie eine Vorverurteilung vorkommen muss.
Auch er schickte einen Nachtrag, in dem er darauf hinwies, dass er sein Vorgehen mit dem Innenministerium abgestimmt habe. Ein Schreiben mit politischer Sprengkraft, das dem Prozess womöglich eine ganz neue Dimension verleiht. Schließlich sind bei der Frankfurter Staatsanwaltschaft diskrete Hinweise aus Berlin eingegangen: Die Ankläger sollten genau und überkorrekt prüfen - ein Land wie die Bundesrepublik, das die Verfehlungen in anderen Staaten anprangere, dürfe sich selbst keine Nachlässigkeit erlauben.
JÜRGEN DAHLKAMP, GISELA FRIEDRICHSEN, FELIX KURZ, CAROLINE SCHMIDT, ANDREAS WASSERMANN