BILDUNG »Macht die Kröten locker!«
Die Studenten im Hörsaal 1a der Berliner Freien Universität (FU) jubelten. Ihre Demonstrationen seien noch viel »zu zahm«, feuerte ein Redner die rund 600 Jungakademiker an. Die Streiks und Demonstrationen sollten »mehr weh tun«, gefordert sei nun auch eine »Belagerung von Institutionen«.
Außerdem müsse der Aufruhr endlich in die Wohnviertel der Reichen getragen werden, nach Dahlem etwa oder nach Grunewald. Selbst diese Forderung quittierten die Kommilitonen mit Ovationen.
Doch der Redner, der da am Mittwoch vergangener Woche die Studenten zu neuen Aktionen aufrütteln wollte, war weder Asta-Vorsitzender noch einer der Streikorganisatoren.
Das große Wort führte ein Alt-Kader: der Politologie-Professor und 68er Peter Grottian, 55. Der Sozialwissenschaftler, der seit fast 20 Jahren immer wieder mit undogmatischen Ideen wie dem Jobsharing für Professoren oder Leistungskontrollen für Hochschullehrer auffällt, möchte höchstselbst die Studenten auf Trab bringen.
Anders als vor 30 Jahren hat sich diesmal eine Einheitsfront von Studenten und Professoren formiert. Hunderttausende Jungakademiker - so viele wie seit der Studentenrevolte 1968 nicht mehr - protestierten vergangene Woche gegen den Sparkurs an Deutschlands Hochschulen. Die Professoren applaudierten, stellten sich zuweilen selbst an die Spitze der Demonstrationen.
Vorlesungen und Seminare an mehr als 100 deutschen Hochschulen wurden bestreikt. Allein in Düsseldorf zogen 40 000 Studenten vor den Landtag. In Hannover, Würzburg und Hamburg gingen jeweils 20 000 auf die Straße. In München waren es immerhin noch 18 000 Studiosi. Lautstark forderten sie: »Macht die Kröten locker!«
Tatsächlich geht es vielen Demonstranten nicht um eine grundlegende Hochschulreform, sondern schlicht um mehr Geld - für die Einstellung von Tutoren und Professoren, für den Bau neuer Hörsäle, Bibliotheken und Labore.
Und es geht um ihren eigenen Geldbeutel: Auf fast allen Demos wird gegen die Einführung von Studiengebühren protestiert, aber auch gegen die von Jahr zu Jahr sinkende Zahl der Bafög-Empfänger.
Doch ausgerechnet jetzt, auf dem Höhepunkt der Studentenproteste, droht die längst überfällige Reform des Bundesausbildungsförderungsgesetzes endgültig zu scheitern: Am Freitag vergangener Woche konnten sich die Unterhändler der Staatskanzleien aus Hannover, Düsseldorf, Stuttgart und München erneut nicht auf ein endgültiges Konzept verständigen. Der für nächste Woche geplante Bildungsgipfel der Ministerpräsidenten mit dem Bundeskanzler droht zu platzen.
Seit beinahe zwei Jahren schon sind sich die Wissenschaftsminister der 16 Länder prinzipiell darin einig, daß »eine grundlegende Reform der Ausbildungsförderung« mit dem Ziel größerer »Verteilungsgerechtigkeit«, so ihr einstimmiger Beschluß, »dringend erforderlich« sei.
Auch der Bafög-Bericht der Bundesregierung, den Bildungsminister Jürgen Rüttgers (CDU) in dieser Woche dem Bonner Kabinett präsentiert, belegt den Reformbedarf nach Meinung des Ministers »in alarmierender Weise": Das bisherige Fördersystem werde seiner sozialen Aufgabe »nicht mehr gerecht«.
So sank die Zahl der Bafög-Empfänger unter den West-Studenten von 37 Prozent im Jahre 1982 auf heute nur noch gut 15 Prozent. Bund und Länder sparten allein in den letzten fünf Jahren 2,7 Milliarden Mark bei der Ausbildungsförderung - aus Bafög wurde Sparfög.
Anspruch auf monatliche Bafög-Zahlungen haben all jene Studenten, deren Eltern eine bestimmte Einkommensgrenze nicht überschreiten. Und da diese Grenze in den letzten 15 Jahren kaum angehoben wurde, die Gehälter und Lebenshaltungskosten dagegen kräftig stiegen, fallen immer mehr Jungakademiker aus der Förderung heraus.
Viele Studenten sind seither aufs Jobben angewiesen, entsprechend legten die Studienzeiten zu: von durchschnittlich 11 Semestern im Jahre 1980 auf 13 Semester heute.
Eine schlichte Anhebung der Einkommensgrenzen beim Bafög ist den Ländern zu teuer. Mehrheitlich favorisieren sie das sogenannte Drei-Körbe-Modell für die Ausbildungsförderung. Finanziert werden könnte das aus Kindergeld, Kinderfreibeträgen und den bisher für das Bafög bereitgestellten Millionen.
* Aus dem ersten Korb würden alle Studenten, unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern, zunächst ein einheitliches Ausbildungsgeld von 350 bis 400 Mark erhalten.
* Der zweite Korb ist für jene gedacht, deren Eltern nur wenig verdienen. Diese Studenten dürfen eine zusätzliche Ausbildungshilfe - pro Monat bis zu 750 Mark - bis zum Abschluß der Regelstudienzeit in Anspruch nehmen, müssen sie aber später, unverzinst, zurückzahlen.
* Der dritte Korb enthält für Sonderfälle eine sogenannte Studienabschlußförderung, also einen Nachschlag für den Schlußspurt im Studium, für den aber Zinsen gezahlt werden müssen.
Das »durchgerechnete Zukunftsmodell«, so Christine Hohmann-Dennhardt, sozialdemokratische Wissenschaftsministerin in Hessen, wurde zunächst von allen 16 Bundesländern unterstützt, hätte allerdings weitreichende Auswirkungen auf das Einkommensteuer- und Unterhaltsrecht.
Nun jedoch hat Bayern ein eigenes Modell vorgestellt. Und das hält im wesentlichen an einer einkommensabhängigen Förderung fest. Das Bayern-Bafög, das auch Bundesbildungsminister Rüttgers und sein baden-württembergischer Unionskollege Klaus von Trotha favorisieren, soll teilweise als verzinster Kredit gezahlt werden. Das Geld fließt zudem nur, wenn Leistungsnachweise erbracht und die Regelstudienzeiten eingehalten werden - aus Sicht der Studenten eine Horrorvision.
Etliche Kommilitonen schwärmen da schon eher für einen Vorschlag der Grünen: »Baff« heißt das Modell, das allen Studenten die gleiche Förderungssumme zubilligt. Nach Ausbildungsende sollen die Akademiker dann ihre Unterstützung, je nach Gehalt, in Raten 20 bis 25 Jahre lang zurückzahlen.
Die Grünen würden freilich, um überhaupt etwas zu bewegen, auch das Drei-Körbe-Modell mittragen. Doch den zehn sozialdemokratischen Wissenschaftsministern und -senatoren steht die geschlossene Front der Landesfinanzminister gegenüber, davon wiederum elf Sozialdemokraten. Und die lehnen vorerst alle Modelle kategorisch ab: Sie überstiegen den »vorgegebenen Finanzrahmen einer kostenneutralen Lösung«, heißt es im Protokoll einer Sitzung vom Donnerstag vergangener Woche.
Es sei »offensichtlich«, ärgerte sich der Mainzer Wissenschaftsminister Jürgen Zöllner über die eigenen Genossen, »daß Reden und Handeln noch nicht in Einklang stehen«.
Nachdem auch die Unterhändler der Staatskanzleien am letzten Freitag keine Lösung finden konnten, sollen nun die einzelnen Landeskabinette in dieser Woche erst noch einmal ihre Linie bestimmen. Vor allem müssen die Differenzen zwischen den Wissenschafts- und Finanzministern beigelegt werden. Eine bundesweite Einigung rechtzeitig vor den Wahlkämpfen des nächsten Jahres scheint damit wenig wahrscheinlich.
Bildungsminister Rüttgers droht bereits damit, daß der Kanzler das Thema Bafög beim Bildungsgipfel in der kommenden Woche ganz von der Tagesordnung nehmen könnte - ein verheerendes Signal, wie die parteilose niedersächsische Wissenschaftsministerin Helga Schuchardt meint. Die Regierungschefs sollten »gerade angesichts der aktuellen Studentenproteste abwägen, ob sie sich ein Scheitern der Reform leisten können«.
Noch ist der Massenprotest nicht durchorganisiert, noch ruft niemand zur Revolte. Die Aktionen breiten sich unkoordiniert wie ein Flächenbrand aus.
Die Politiker könnten die Geduld der Studenten aber überschätzen. Am vergangenen Freitag kam es nach den so friedfertigen Protesten der letzten Wochen zu ersten Ausschreitungen. In Frankfurt am Main warfen Studenten und Schüler Eier auf Polizisten, die das Hauptgebäude der Deutschen Bank schützten. Einige Beamte hatten vorsorglich schußsichere Westen angelegt.
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Studenten an deutschen Hochschulen
Bafög-Empfänger
Gremienchaos bei der Genehmigung von Lehrveranstaltungen am
Beispiel des Englischen Seminars an der Universität Hamburg
Personal an den deutschen Hochschulen
[GrafiktextEnde]
* Am Dienstag vergangener Woche.