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BERLIN / BAADER Macht kaputt

aus DER SPIEGEL 21/1970

Vergewaltigt die Wachtmeister«, verkündeten im Oktober 1968 die vier Frankfurter Kaufhaus-Brandstifter Thorwald Proll, Gudrun Ensslin, Horst Söhnlein und Andreas Baader in ihrem Schlußwort vor Gericht. Sie postulierten: »Einer solchen Justiz muß der revolutionäre Prozeß gemacht werden.

Der Prozeß begann, 18 Monate nach dem Zuchthaus-Urteil gegen die vier anarchistischen Polit-Pyromanen (je drei Jahre), am Donnerstag letzter Woche in Berlin: Andreas Baader, 27, Häftling in der Strafanstalt Tegel, ließ sich von zwei bewaffneten Gesinnungsfreunden freischießen.

West-Berlins Kriminalpolizei rekonstruierte: Baader, der sich wie seine Genossin Ensslin 1969 dem Straf antritt entzogen hatte, am 4. April dieses Jahres nur durch Zufall in West-Berlin gefaßt worden war und seither in der Strafanstalt Tegel einsaß, schrieb dort für den Berliner Wagenbach-Verlag an einem Buch über die Organisation sozial geschädigter Jugendlicher. Ko-Autorin und Betreuerin des Häftlings: Ulrike Meinhof, ehedem Kolumuistin der Hamburger Links-Illustrierten »Konkret«.

Für diese Arbeit erhielt Baader Anfang letzter Woche die Genehmigung der Anstaltsleitung, im Deutschen Zentralinstitut für soziale Fragen in der Dahlemer Miquelstraße 83 Quellenstudium zu betreiben. Als der Häftling in Begleitung zweier Justizwachtmeister am Donnerstag um 9.45 Uhr das Lesezimmer des Instituts betrat, wartete Freundin Ulrike bereits auf ihn.

Gegen elf Uhr stürmten zwei durch Perücken getarnte Personen ungeklärten Geschlechts aus der düster getäfelten Halle der Instituts-Villa in das Lesezimmer und feuerten aus einem Tränengas-Revolver und einer Pistole Kaliber 7,65 mm auf die Justizbeamten Karl-Heinz Wegener und Günter Wetter. Den Instituts-Angestellten Georg Linke, der hinter den beiden Perücken-Trägern her in den Arbeitsraum gelaufen war, nahm an der Tür ein grün maskierter Dritter der nach Zeugenaussagen insgesamt vier Baader-Befreier mit einer Schalldämpfer-Beretta Kaliber 6,35 ins Visier.

Einer der Justizbeamten erwiderte das Feuer mit einem Schuß aus seiner 9-mm-Dienstwaffe. Doch Befreiter wie Befreier -- mit ihnen Ulrike Meinhof -- entkamen nach einem Handgemenge durch ein Fenster in den Garten und flohen vorbei am Theaterwissenschaftlichen Institut der Freien Universität zur benachbarten Bernadottestraße. Dort sprangen sie in einen zuvor gestohlenen Alfa Romeo Giulia Sprint, Kennzeichen B-ST 92, den die Polizei Stunden später in Wilmersdorf verlassen wiederfand.

Bewacher Wegener kam mit Schlagverletzungen davon, den Bewacher Wetter traf ein Tränengasschuß ins Gesicht. Instituts-Mann Linke aber mußte lebensgefährlich getroffen auf den Operationstisch. Die beiden Oberärzte der Chirurgischen Abteilung des Martin-Luther-Krankenhauses behandelten einen Oberarm-Durchschuß und entfernten aus seiner Leber ein 6,35-mm-Projektil.

Die Tat von Dahlem verdeutlicht die Eskalation in der Serie politisch-ideologisch motivierter Gewalttaten, die am 2. Juni 1967 mit dem Scharfschuß des West-Berliner Polizisten Karl-Heinz Kurras auf den Anti-Schah-Demonstranten Benno Ohnesorg begonnen hatten -- zu einer Zeit, als unter Linksradikalen noch das Wort des SDS-Ideologen Rudi Dutschke galt: »Die terroristische Gewalt gegen Menschen ist in den Metropolen nicht mehr notwendig.«

Noch im April 1968, als Baader und Genossen ein Frankfurter Kaufhaus angezündet hatten, zeigte sich der SDS-Bundesvorstand über die Tat »zutiefst bestürzt«. Doch spätestens nach dem Anschlag, den am Gründonnerstag 1968 der Anstreicher Josef Bachmann auf Dutschke verübte, und nach den Oster -- Demonstrationen gegen Axel Springer, bei denen in München der Photoreporter Klaus Frings und der Student Rüdiger Schreck ums Leben kamen, besannen sich Anarchisten auf die These des Apo-Propheten Herbert Marcuse, daß es »für unterdrückte und überwältigte Minderheiten ein »Naturrecht' auf Widerstand« gebe.

Im Herbst desselben Jahres erklärte der Berliner SDS-Stratege Christian Semler die »alte Unterscheidung« zwischen »Gewalt gegen Sachen« und »Gewalt gegen Personen« für »überholt« und führte Studenten und Rocker auf einer »neuen Ebene der Militanz« in eine Pflasterstein -- Schlacht gegen die Polizei. Resultat: 130 verletzte Beamte -- sechsmal mehr als bei den Angreifern.

Nach diesem »Wendepunkt« (Semler) kannten jene Linksextremisten, die zur »Propaganda der Tat« des russischen Anarchisten Michail Bakunin neigten, kaum noch Gewalt-Skrupel.

Die Chronik der Gewalt allein seit Anfang dieses Jahres in West-Berlin:

* 26. Januar: Unbekannte stecken nachts den Personenwagen des Tegeler Zuchthausdirektors' Wilhelm Glaubrecht, mit zwei Molotow-Cocktails in Brand und kündigen in einem anonymen Brief an der Haustür »Bambule« (Krawall) an.

* 7. März: Vor dem Haus von Springers »BZ«-Chefredakteur, Malte-Till Kogge, explodiert nachts ein Brandsatz; zwei weitere zünden nicht. Die Täter in einem Brief: »Keine Amnestie für Springer und die Justiz!«

* 28. April: Das Arbeitszimmer des West-Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann und Filialräume der gewerkschaftseigenen »Bank für Gemeinwirtschaft« gehen in Flammen auf. Die Brandstifter hinterlassen im Gericht Photos von Baader und des unter dem Verdacht von Sprengstoffanschlägen inhaftierten Michael Baumann. Auf einem Plakat verkünden sie: »Befreit Bommi (Baumann)«, und: »Macht kaputt, was Euch kaputt macht.«

* 3. Mai: Unbekannte zünden im Berliner Arbeitsamt Nord drei Molotow -- Cocktails und hinterlassen einen Zettel am Tatort: »Die Kinder des Märkischen Viertels.«

* 4. Mai: Um drei Uhr nachts fahren am Amerika-Haus etwa 20 junge Leute vor und schleudern Brandsätze durch die zerklirrenden Fen-

* Oben: am 31. Oktober 1968 im Frankfurter Brandstifter-Prozeß; unten: Fluchtfenster im Zentralinstitut für soziale Fragen in West-Berlin.

sterscheiben. Erstmals nimmt die Polizei kurz nach der Tat drei Verdächtige fest.

Am 9. Mai fielen in Berlin wieder Schüsse aus einer Polizeipistole. Bei einer Kambodscha-Demonstration hatte die Berliner Polizei, obwohl frühere Zwischenfälle bedenkliche Erfahrungen gezeitigt hatten, Zivilfahnder eingesetzt. Einer von ihnen, Polizeimeister Wolfgang Dallwitz, 35, wurde von Demonstranten erkannt ("Ein Bulle!"), zu Boden geworfen und verprügelt. Dallwitz feuerte aus seiner Pistole, die er trotz Verbots bei sich trug, »un-beabsichtigt« (Dallwitz) drei Schüsse ab, traf eine Passantin am Bein und einen Kollegen an Hals und Hüfte.

Und nach dem 9. Mai vollzog sich wiederum, was in West-Berlin schon immer geschah, wenn Polizisten und Demonstranten aufeinandertrafen: Die Polizei stellte sich hinter ihren Beamten. Die Demonstranten, obschon vor dem Amerika-Haus von ihren Laut-Sprechern daran erinnert, daß »Steine keine Argumente« seien, solidarisierten sich in Bausch und Bogen mit ihrer militanten Minderheit. Der Republikanische Club verlautbarte, der Berliner Senat habe »in bekannter Weise durch seine Bürgerkriegspolizei die Politik der USA verteidigt und die Demonstranten bekämpfen lassen«. Und die Revoluzzer-Postille »883« drohte gar: »Die vier Popos (Politische Polizei), die am Samstag fertiggemacht wurden, sind nur ein Anfang.«

Angesichts dieser Einheitsfront der sonst so zerstrittenen Apo-Sekten -- mit ihren politischen Mini-Gruppen maoistischer, stalinistischer, leninistischer oder trotzkistischer Prägung, mit ihren Kommunen und Hippie-Zirkeln, von den »umherschweifenden Hasch-Rebellen« bis zur »brother and sister fuck company«, mit den aktivistischen »Roten Zellen« an den Universitäten auf der einen und dem eher besinnlichen Kneipen-Kollektiv der »Wermut-Rebellen« auf der anderen Seite -- gelang es West-Berlins Kriminalisten bislang nur durch Zufall, des einen oder anderen tatverdächtigen Bombenlegers oder Steinewerfers habhaft zu werden.

Aber gerade an der anarchistischen Peripherie dieses linken Berliner Mikrokosmos -- Isoliert von der gesellschaftlichen Realität, fasziniert von der Chance eines raschen Wandels durch Gewalt -- gedeihen die Pläne, Gewalt zu üben, Bomben zu werfen, Brände zu legen oder Genossen gewaltsam zu befreien: um so ein Zeichen zu setzen für den Anbruch irgendeiner neuen Zeit.

Und daß es auch den Baader-Befreiern eher um ein Zeichen als um Baader selbst ging, beweist ein Rechen-Exempel. Baader hatte am Donnerstag letzter Woche gut 15 Monate seiner Drei-Jahres-Strafe hinter sich gebracht -- 14 Monate in Frankfurt, fünf Wochen in Berlin. In drei Monaten bereits, nach Verbüßung der Hälfte seiner Haftzelt, hätte er einen Antrag auf bedingte Entlassung aus der Haft stellen können.

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