»Machtlos gegen Jungfrauen«
Für seinen Roman »Red Mercury«, der ein Attentat auf die Olympischen Spiele in Atlanta beschreibt, recherchierte Sherwood, 32, ein Jahr lang die Arbeit von Polizei und FBI. Bei den Olympia-Organisatoren war der Kalifornier als Sicherheitsbeobachter akkreditiert.
SPIEGEL: In Ihrem Roman beschreiben Sie gleich zwei Horrorszenarien, die seit Wochen die Welt beschäftigen: ein Attentat auf ein Passagierflugzeug und eine Bombenexplosion im Centennial Olympic Park von Atlanta*. Sind Sie ein Hellseher?
Sherwood: Dazu bedurfte es keiner besonderen Fähigkeiten. Alle Experten waren sich einig, daß ein Olympia-Attentat im Park oder in der U-Bahn passieren würde. Die Bombe hat keinen Insider überrascht. Und Flugzeuge waren schon immer beliebte Ziele für Terroristen. Das FBI fürchtet inzwischen ganz andere Terrorvarianten, die sogenannte Cruise-Missile des armen Mannes beispielsweise. Ein kleines Propellerflugzeug wird mit Sprengstoff vollgestopft. Ferngesteuert durch Autopilot und Satellitennavigationssystem, kann es dann auf ein beliebiges Gebäude stürzen.
SPIEGEL: Wäre ein solcher Anschlag nicht viel zu aufwendig und kostspielig?
Sherwood: So etwas kostet vielleicht 25 000 Dollar und wird nach Ansicht von Fachleuten in den nächsten fünf Jahren Wirklichkeit werden. Noch größere Angst haben Experten allerdings vor primitiv zusammengebauten Nuklearsprengsätzen.
SPIEGEL: Während der Spiele sollen sechs scharfe Bomben gefunden worden sein. Wurden die Olympia-Besucher über die wahren Gefahren im unklaren gelassen?
Sherwood: Es geschieht vieles, von dem die Öffentlichkeit nie erfährt. So gab es die Morddrohung gegen den indischen Hockeytrainer und mehrere Drohungen einer Bande von Skinheads.
SPIEGEL: Warum werden selbst solche Sachen wie Staatsgeheimnisse behandelt?
Sherwood: Olympia ist eine riesige Propagandamaschine. Der Cheforganisator Billy Payne wollte sich die Spiele nicht kaputtmachen lassen. Deshalb wiederholt er immer nur sein Mantra: Wir haben eine tolle Party hier, wir haben eine tolle Party hier.
SPIEGEL: Wo lagen die größten Schwächen im Sicherheitssystem dieser Trauerspiele?
Sherwood: Ganz eindeutig in der Vielzahl der beteiligten Behörden: 57 verschiedene Ämter mit 57 Chefs. Weil in den USA seit jeher Vorbehalte gegen eine zentrale Polizeigewalt bestehen, erhielt die als unfähig bekannte Stadtpolizei von Atlanta die oberste Befehlsgewalt. Und vor lauter Unsicherheit holte sie alle weiteren Behörden hinzu, die in den USA etwas zu sagen haben.
SPIEGEL: Sollte denn das nicht gewährleisten, daß nur die Besten für die Sicherheit sorgen?
Sherwood: Zweifellos. Nur, bei echten Katastrophen ist dieses System nicht ideal. Die Leute am Notruftelefon alarmieren die Polizei von Atlanta, die wieder ruft die Staatspolizei von Georgia an, die benachrichtigt dann die Sprengstoffexperten und schließlich die Wachhabenden im Olympia-Park. Um die Explosion zu verhindern, hätte der Anrufer sich eine Stunde früher melden müssen. Der australische Polizeichef, der sich wegen der Spiele von Sydney in Atlanta umschaute, war völlig verwirrt, weil niemand die alleinige Befehlsgewalt und damit die Verantwortung hatte.
SPIEGEL: Die übernimmt doch wie selbstverständlich die Bundespolizei FBI.
Sherwood: Aber erst nach der Explosion. Da haben FBI-Profis den Olympia-Organisatoren gesagt: Jetzt ist Schluß. Dann haben sie die Macht in Atlanta übernommen. Olympischer Frieden ist offenbar nur noch mit Maschinengewehren zu sichern.
SPIEGEL: Warum gab es nicht von Anfang an eine striktere Kommandostruktur?
Sherwood: Nicht in Atlanta. Hier herrschen Rivalität und Eifersucht. Die Stadtpolizei besteht überwiegend aus schwarzen Beamten und streitet mit der von Weißen dominierten Polizei des Staates Georgia. Beide sind sich aber einig, daß sie mit den Yankees, der Bundespolizei aus Washington, nichts zu tun haben wollen. Als Nordstaatler das letzte Mal ungebeten nach Atlanta kamen, haben sie die Stadt niedergebrannt - das war im Bürgerkrieg und wirkt bis heute nach.
SPIEGEL: Ein solches Durcheinander war doch eine Einladung für Terroristen. Wer konnte die imposante Aufmachung der Sicherheitskräfte denn überhaupt noch ernst nehmen?
Sherwood: Im Prinzip halte ich die Abschreckungsstrategie von Atlanta für wirkungsvoll. Sie sollte Verbrechern signalisieren: Bleibt zu Hause, sonst geht es euch an den Kragen. Zumindest in der ersten Woche gehörte die Sicherheit zu den wenigen Bereichen, die bei den Pannen-Spielen funktionierten.
SPIEGEL: Offenbar dient der ganze Aufwand vornehmlich zur Beruhigung der Veranstalter. Was soll ein Spionagesatellit, der aus dem All eine Zeitung erkennen kann, was sollen Kameras selbst in den Umkleideräumen der Schwimmerinnen, wenn ein Niemand einen Rucksack abstellen und ein Sicherheitssystem ad absurdum führen kann, das angeblich 300 Millionen Dollar kostete?
Sherwood: Internationale oder nationale Terrorgruppen sind den Ermittlern meistens bekannt. Die haben ihre V-Leute, die ihnen Informationen liefern. Gegen Einzeltäter, sogenannte Jungfrauen, sind auch die besten Polizisten machtlos. Diese unscheinbaren Leute haben keine Vorstrafen, sind aber gleichzeitig unberechenbar. Professionelle Terroristen haben einen Auftrag und ein Ziel. Verwirrte Einzeltäter bomben zufällig und wahllos, weil sie hassen oder einfach mal in die Zeitung wollen.
SPIEGEL: Welche Chancen gibt es, solche Täter aufzuhalten?
Sherwood: Keine. Sie sind ein Phänomen, mit dem Olympische Spiele auch in Zukunft leben müssen. Die Spiele leben davon, daß sie von Regierungen, Sponsoren und den Medien unendlich aufgeblasen werden. Dadurch hat dann jeder Idiot die perfekte Bühne für seine Inszenierung des Schreckens.
SPIEGEL: Wie sehen die Olympischen Spiele der Zukunft angesichts solcher Bedrohungen aus?
Sherwood: Vielleicht finden sie in einem Hochsicherheitstrakt statt oder in einer Festung, die mit einem elektrischen Zaun umgeben ist.
SPIEGEL: Oder man vergibt die Spiele an Nordkorea.
Sherwood: Jedenfalls nicht noch einmal an die USA. New York interessiert sich für die Spiele im Jahr 2008, doch das wird mit Sicherheit nicht klappen. Nicht nach Atlanta.
* Max Barclay (d. i. Ben Sherwood): »Red Mercury«. DoveBooks, West Hollywood; 404 Seiten; 22,95 Dollar. Eine deutscheAusgabe ist geplant.