Männer fürs Unbequeme
Auf seinen Auftritt bereitet sich der Stargast mit besonderer Akribie vor. Erst studiert Udo Lattek den Sportteil einer Boulevardzeitung, dann greift er zu einem Weizenbier. Es ist 10.45 Uhr, in einer Viertelstunde beginnt die Sendung. Doch das ist kein Problem. Nach vier kräftigen Zügen ist das Glas fast geleert.
Dann kann es losgehen. Beim Fußball-Stammtisch »Doppelpass«, den der Sportsender DSF täglich im Amsterdamer Museum New Metropolis abhält, geht es - natürlich - auch um die Frage, wo das alles hinführen soll mit Erich und seinen Kickern. Lattek, als erfolgreichster deutscher Trainer so was wie die Autorität der Runde, lauscht regungslos den Ausführungen der anderen Diskutanten und versinkt dabei immer weiter in den roten Sessel. Zu einem Statement aufgefordert, schockt er mit dem Bekenntnis: »Ich weiß es doch auch nicht.«
Im Kern trifft das jene Inhaltsleere, mit der deutsche Fernsehkanäle derzeit einen gut Teil ihrer Berichterstattung von der Euro 2000 bestreiten - indem sie vor und nach den Spielen so genannte TV-Experten über den Lauf des Balls fachsimpeln lassen. Ob morgens zum Frühstück oder abends kurz vor den Spätnachrichten - man muss schon ein begnadeter Zapper sein, um den Ergüssen der Schlaumeier zu entkommen. Waren einstmals die fest angestellten Kommentatoren die Stars der Sender, sind mittlerweile die Honorar-Fachkräfte deren neue Imageträger.
Vorbild der Riege der neuen Quotenhelden ist ein Mann, der über Spielkultur und Raumdeckung ebenso tragend zu sprechen vermag wie Bernhard Jagoda über die neue Arbeitslosenquote. »Ich sehe da in der Tat ein Problem«, so leitet Günter Netzer gern seine Diagnosen ein, die dem einstigen Mittelfeldstrategen im März zu unverhofftem Ruhm verhalfen: Gemeinsam mit seinem jovialen Stichwortgeber Gerhard Delling erhielt Netzer den Grimme-Preis.
Um den Rückstand auf das Vorzeige-Duo einzuholen, setzt das ZDF bei der Euro 2000 auf Manpower. Für jede der 16 Teilnehmernationen hat der Sender einen Experten aufgeboten. Die Europa-Auswahl soll, so hat es sich Programmchef Dieter Gruschwitz ausgedacht, »Fachlichkeit und Unterhaltung« vereinen.
Tatsächlich mutierte das Zweite mit seiner EM-Truppe zu einer Art Esperanto-Sender. Syntaktisch passten sich Gastredner wie der Bosnier Aleksandar Ristic (Experte Jugoslawien!) schnell dem Spielniveau der deutschen Elf an - oder lieferten wie Giovanni Trapattoni, mit Anmerkungen zu den Schiedsrichtern ("Die Pfeife ware alle gut"), Steilvorlagen für Harald Schmidt. Bernd Krauss, Westfale, wollte gleich witzig sein: Nach der Niederlage der Spanier gegen Norwegen kalauerte der ehemals in San Sebastian tätige Trainer, die Iberer hätten »den Elchtest nicht bestanden«.
Die Strategie, Klasse mit Masse wettzumachen, deutet Rüdiger Oppers, Unternehmenssprecher beim WDR, bereits spöttisch als Versuch des ZDF, im Verlauf des Turniers einen neuen Netzer ausfindig zu machen: »Die betreiben Casting auf dem Sender.« Für Thomas Skulski, Sportmoderator des ZDF-Frühstücksfernsehens, ein Kardinalfehler: Man dürfe Fußballern »keine Entertainerqualitäten« abverlangen, »die sollen sachlich über den Sport reden, Schluss«.
Dabei haben die Experten für die ZDF-Frühschicht den härtesten Job. Schon um kurz nach sieben muss sich Ex-Nationaltorhüter Toni Schumacher in einem Pavillon neben dem DFB-Hotel in Vaals Gedanken zur Lage der Fußballnation aus dem Kopf schütteln.
Schumacher, zuletzt bei Fortuna Köln als Trainer gefeuert, betreibt seine neue Tätigkeit dennoch mit einem Elan, als gehe es um einen Posten im DFB-Trainerstab. Dass der Europameister von 1980 zuletzt punktgenau das Dilemma des Lothar Matthäus analysierte ("In seiner jetzigen Form kann er mehr kaputtmachen als helfen"), schürte in der Zunft den Verdacht, der Toni nutze Insiderwissen aus, das er sich bei gelegentlichen Abendessen im Teamquartier verschafft. »Alles Unsinn«, sagt Schumacher. Seine Deutungen seien Folge jahrelanger Konditionierung: »Ich fühle wie ein Fußballer.«
Fest steht, dass Schumachers Ausführungen jenen Zweck erfüllen, den sich die Öffentlich-Rechtlichen von der Expertenshow erhoffen. Weil sie knapp 30 Millionen Mark für die Übertragungsrechte zahlten, möchte man die teure Ware nicht mit kritischen Bemerkungen beschädigen - und bei der nächsten Rechtevergabe womöglich abgestraft werden.
Netzer und Co. schlagen die Brücke zwischen Journalismus und Geschäft, dienen als Männer fürs Unbequeme. Für jene Sender ohne Bilder vom rollenden Ball ist ein querulatorischer Experte oft die einzige Chance, sich bemerkbar zu machen. RTL bringt zu diesem Behufe Ex-Bundestrainer Berti Vogts in Stellung, Sat 1 gelang vorige Woche sogar der Sprung in die Nachrichtenspalten der Zeitungen: Paul Breitner, bisweilen übermotivierter Fachmann in Diensten des Kirch-Kanals, hatte den konditionellen Zustand der DFB-Elf gerügt: »Selten war eine Nationalelf so platt.«
Wie weit der Einfluss der medialen Minenleger bereits reicht, gestand Teamchef Erich Ribbeck unlängst: Er fühle sich bei der Mannschaftsaufstellung wegen »einiger Fachleute« regelrecht »unter Druck gesetzt«. GERHARD PFEIL