»Makarios, wir schenken dir unser Blut«
Die Griechen waren von überall hergekommen, wo es noch keine türkischen Soldaten gab. Aus Dörfern wie Moutoullas, Pedhoulas und Kakopetria, aus den Städten Limassol, Paphos und Larnaka, aus den Lagern Xylotympos, Dassakion und Lefkaritis; zu Pferd, zu Rad, zu Maultier, mit Iraktoren, Autos und klapprigen Bussen.
Mit Liedern des griechischen Komponisten Theodorakis, die auf Zypern verbreiteter sind als in Griechenland, mit Rosen und Olivenzweigen wollten sie den Mann empfangen, der mit Gottes Hilfe zum drittenmal seinen Mördern entkommen war. Mit dem Teufel mußte es zugehen, wenn dieser Wundermann ihnen nicht sofort Hilfe bringen würde.
Über 200 000 Griechen-Zyprioten. Kopf an Kopf, schwarzlockig wie ein überdimensionales Persianerfell, standen Stunden um Stunden auf dem Platz vor dem Erzbischofpalast des Heimkehrers Makarios, auf Dächern, Straßen und Balkonen, sie hingen in Glockentürmen und Bäumen.
Ein unbeschreiblicher Jubel brach los, als Makarios, Ethnarch der Griechen und Präsident der Republik Zypern, endlich, kurz vor der Mittagsstunde des 7. Dezember, auf den von Nationalgardisten zerschossenen Balkon seiner Residenz trat. Eine Stunde später herrschte Ernüchterung.
Sichtbar eingeschüchtert von vorangegangenen Gesprächen in Athen mit seinem Statthalter Glavkos Klerides und dem Griechenpremier Konstantin Karamanlis, setzte Makarios an die Stelle von lindernder Verheißung nur das Pathos der griechisch-orthodoxen Kirche. Vergeblich wartete das Volk auf ein Programm, eine Strategie, eine Vision -- nichts davon geschah.
Das erwartete Volksfest in Nikosia blieb aus. Denn allzu vielen war klargeworden, daß selbst Makarios, wie durch ein Wunder dem kombinierten Mordanschlag von CIA und Griechenjunta am 15. Juli entkommen, keinesfalls immer Wunder vollbringen kann.
Freilich, politischer Moral war Genüge getan. Selten genug ist es schließlich, daß gewählte, von Putschisten verjagte Staatsoberhäupter in ihr Land zurückkehren. Und das bös gebeutelte Volk der Zyperngriechen, von dem jede Familie zumindest einen Toten seit Junta-Putsch und folgender Türken-Invasion, jede dritte Familie den Verlust ihres Eigentums beklagt, hatte seinen Führer und damit die Hoffnung wieder.
Den Verhandlungen um eine friedliche Lösung des Zypern-Problems hat die Heimkehr des Inselfürsten jedoch eher geschadet. Die Gespräche zwischen dem Führer der türkischen Minderheit, Rauf Denktas, und dem damals amtierenden Präsidenten Klerides, die nach monatelangen Mini-Erfolgen über humanitäre Fragen endlich in konkretere Bahnen zu kommen schienen, waren bis kurz vor Weihnachten unterbrochen -- und dies in einer Zeit, in der die Türken auf den von ihnen gehaltenen 40 Prozent des Inselterritoriums jeden Tag neue Faits accomplis schaffen.
Zyperns einst solide Wirtschaft ist heute zerstört, wie lange Wiederaufbau und Konsolidierung brauchen, ist umstritten: zwei bis drei Jahre nach Ansicht einiger griechischer Zweckoptimisten, die auf den gesunden Erwerbssinn der Zyperngriechen bauen und auf eine schnelle politische Lösung zu ihren Gunsten; 45 Jahre nach Berechnung des zypriotischen Planungsamts, falls die Türken in etwa auf dem beharren, was sie jetzt besetzt halten.
Die Aufstellung aller Posten, die von den Inseltürken ins Verteilungs-Spiel eingebracht werden, macht klar, in welch jämmerlicher Verhandlungsposition sich die Griechen befinden: Die Türken halten mit dem gesamten Norden jene Gebiete, in denen 70 Prozent des Volkseinkommens erwirtschaftet wurden. Aufgeschlüsselt bedeutet das:
* die zwei Haupttouristenzentren, das idyllische, von den britischen Exkolonialisten geschätzte Kyrenia und das Miami-ähnliche, von den Deutschen bevorzugte Famagusta, insgesamt 80 Prozent der touristischen Kapazität Zyperns mit 13 000 Betten;
* die zwei fruchtbarsten Ebenen der Insel, Morphou und Mesaoria, auf denen der größte Teil des Gemüses, der Zitrusfrüchte und der Oliven gedeiht;
* die Quellen von Kythrea und Lapithos, das sind 60 Prozent der Wasserversorgung für die Landwirtschaft;
* die wichtigste Kupfermine in Mavrovouni, 60 Prozent aller Mineralvorkommen;
* die Steinbrüche am Berg Pentadaktylos, die zu hundert Prozent den Insel-Griechen gehörten;
* den Haupt-Tiefwasserhafen Famagusta, über den 83 Prozent des Seehandels abgewickelt wurde, sowie den Kupferhafen Karavostasi, über den 76 Prozent aller Mineralexporte liefen;
* 60 Prozent der gesamten Industrieproduktion des Landes um Nikosia und Famagusta.
Selbst wenn sich die Türken von ihren jetzigen Posten wieder bis zur sogenannten Attila-Linie zurückzögen -- sie grenzt ein gutes Drittel der Insel im Norden gegen den Süden ab --, wäre die Wirtschaftsverteilung zwischen den 18 Prozent Türken und den 80 Prozent Griechen (der Rest sind Armenier und Maroniten) nach wie vor auf den Kopf gestellt. Umsiedlungen von Griechen und Türken, die bis zum 15. Juli relativ gleichmäßig verstreut über die Insel lebten, würden zudem bedeuten, daß in der türkischen Zone die Bevölkerungsdichte von 71 auf 30 Personen pro Quadratkilometer sinken, in der griechischen hingegen von 70 auf 78 steigen würde.
Welch segensreichen Effekt die türkische »Friedensmission«. die Invasion vom 20. Juli, für Griechenland auch gehabt haben mag -- die Athener Junta gab damals auf -, für die unabhängige Republik Zypern, an Fläche halb so klein wie Rheinland-Pfalz, hat sie ein Chaos gebracht, dessen Ausmaß erst heute ganz sichtbar wird. In den Flüchtlingslagern gedeiht Haß.
Die Kriegsschäden liegen nach türkischer Schätzung bei 1,25 Milliarden Mark. Häuser. Straßen. Felder, Fabriken. Häfen und Flughäfen sind zerstört. Die Touristen. die 1973 fast 172 Millionen Mark auf der Insel ließen. haben Zypern bei Ausbruch der Kriegswirren in Panik verlassen, und kaum jemand rechnet damit, daß es sie. von denen 215 Millionen Mark im Jahr 1974 erwartet wurden, rasch wieder ins Reich der Aphrodite ziehen wird.
Landwirtschaftliche Produkte werden kaum mehr exportiert, außer von den Inseltürken. die Zitronen, Apfelsinen und Pampelmusen über das Mutterland Türkei auf die europäischen Märkte schleusen.
Die Arbeitslosigkeit steigt. Rechnet man die Flüchtlinge mit, dürfte sie in beiden Teilen der Insel bei 50 Prozent liegen.
Der tägliche Produktionsausfall wird auf 14 Millionen Mark geschätzt, und auf einem Kongreß des griechisch-zypriotischen Farmer-Verbandes meldeten vertriebene Viehbauern ihre Verluste an: 37 Prozent aller Schweine, 40 Prozent aller Schafe und Ziegen. 47 Prozent des Geflügels. 56 Prozent des Rindviehs seien verhungert, verdurstet oder in türkischen Besitz gekommen. Wert: 126 Millionen Mark.
Was Wunder, daß besonders in den Lagern der Vertriebenen, die all ihre Habe verloren haben, Haß gedeiht. Wohl hatte Makarios Frieden gepredigt -- auch mit den türkischen Zyprioten -, aber was ihm, bei einem Besuch der Flüchtlingscamps am Tag nach seiner Ankunft aus Tausenden von Hälsen, aus den Mündern sogar von Kindern, die eben erst sprechen gelernt hatten. entgegenschallte. klang wenig versöhnlich: »Makarie polema, sou dhinoume to aima« (Makarios, mach« Krieg, wir schenken dir unser Blut). Und als er wenig später Episkopi besuchte, warfen die dort internierten Türken mit Steinen nach ihm.
Die Menschen in den Flüchtlingslagern gehören meist zu jenen 194 000 Griechen-Zyprioten, die nach der ersten türkischen Invasion am 20. Juli und nach der zweiten Mitte August oft nur mit dem Hemd am Leib geflohen waren. Sie leben nicht minder bedrückend als die im griechischen Teil eingeschlossenen Türken, von denen etwa 8000 in Episkopi, einem Teil der Briten-Basis Akrotiri, in Camps auf Linderung warten, als die im Nordzipfel der Halbinsel Karpass eingeschlossenen 20 000 Griechen oder als die Türken, die aus dem Süden in den türkisch besetzten Norden flohen. »Sie verwechseln Zypern mit Mallorca.«
Zwar hat die internationale humanitäre Hilfe jedem Flüchtling ein Zeltdach über dem Kopf verschafft. Aber bei den ersten schweren Stürmen und Wolkenbrüchen rissen Zelte aus ihren Verankerungen, wurden die Camps in Sümpfe von Dreck und Lehm verwandelt, in denen Kinder, schwangere Frauen wie Greise barfuß oder in Turnschuhen herumstapften -- ein Vorgeschmack auf die Wintermonate Januar und Februar. Eine Sendung von 15 000 Paar Gummistiefeln für Kinder neben Lebensmitteln, zusätzlichen Decken und Gasöfen -- Spende der Bundesrepublik -- war im Nu vergeben. »Die internationale Hilfe«, so klagte
* Oben: Gerolakkos nordwestlich von Nikosia. Unten: In einem Behelfskrankenhaus, einer ehemaligen griechisch-orthodoxen Kirche, in Famagusta.
ein Diplomat, »verfiel einer einzigen Fehlkalkulation: Sie verwechselte den rauhen Zypern-Winter mit Mallorcas Sommer.«
Niemand muß hungern. Aber diese Flüchtlinge, die keinen auszehrenden Krieg hinter sich haben, sondern jählings aus ihrem vollen Wohlstand gerissen wurden (Pro-Kopf-Einkommen: 3348 Mark), können sich nicht leicht mit der ungewohnten Kost von Haferflocken, Dosenfisch und Trockenmilch abfinden. Frisches Fleisch gibt es alle zwei Wochen.
Wildeste Gerüchte über Plünderungen machen die Runde, auch, daß die Türken im Norden des Landes Opium anbauen. Oder, daß 250 000 Abkömmlinge türkischer Zyprioten, die vor längerer Zeit nach Anatolien geflohen waren, auf die Insel verfrachtet werden sollen.
Manche der Ängste scheinen nicht unbegründet. Im türkisch besetzten Kyrenia etwa sind Geschäftsstraßen zerstört und gefleddert, die schattigen Wälder der bergigen Umgebung zu zwei Dritteln abgebrannt, die Felder in der Mesaoria-Ebene großenteils von Panzern zerwalzt.
In den Trümmern der Häuser ist keine Spur mehr zu finden von Möbeln, Geschirr, Kühlschränken, Radios, Fernsehern. »Die Türken machen sich eine Art Wochenendsport daraus«, berichtete ein in Kyrenia ausharrender Brite, »mit ihren Wagen vor Griechenhäusern vorzufahren und mitgehen zu lassen, was nicht niet- und nagelfest ist. Manches Haus hat bereits seine zehnte Plünderungswelle hinter sich.«
Er weiß allerdings auch von Türken zu berichten, die das Eigentum ihrer griechischen Nachbarn vor Marodeuren der türkisch-zypriotischen Miliz schützten, oder von einem 72 Jahre alten britischen Pensionär in Kyrenia, der kurzerhand einen ganzen Straßenzug zu seinem Eigentum erklärte und damit die Plünderer abschreckte.
Überhaupt erleichtern die Ausländer das Leben, indem sie Lebensmittel, Post und Zeitungen zwischen Griechen hüben und drüben transportieren. Einem der wenigen Flüchtlinge, der viel Geld hatte, gelang es sogar mit Hilfe eines deutschen Veterinärs, im Tausch gegen eine Apotheken-Ausrüstung für einen in den Norden geflohenen türkischen Pharmazeuten sein geliebtes Rennpferd aus türkischer Gefangenschaft zu befreien.
Die türkisch-zypriotische Verwaltung versucht krampfhaft, den besetzten Teil mit Inseltürken zu bevölkern. 20 000 sind bereits aus dem Süden gekommen, teils heimlich, teils unter Druck, wie die Griechen wissen wollen.
Die Umsiedlungspolitik des Türkenführers Denktas zeigt wenig Erfolg. Die Inseltürken scheuen sich, griechische Häuser zu beziehen, geschweige denn zu renovieren -- die Zukunft scheint ihnen zu unsicher. Wer es dennoch tut, hat eine Miete an die türkische Verwaltung abzuführen -- zusätzliche Belastung zu den zehn Prozent Sonder-Einkommenssteuer für die Militärkasse.
Friede -- ein Vorsatz, der Generationen braucht.
Nur zögernd machen sie sich an die Bewässerung, kultivieren sie die Landwirtschaftsflächen. »Dafür«, meint Türkenführer Denktas gegenüber dem SPIEGEL, »hätten wir wohl ein Recht auf die Ernte.« Die überlebenden Tiere würden versorgt, nur 8000 Schweine, mit denen die Moslems aus religiösen Gründen nichts anfangen dürfen, wären sie gern gegen Bezahlung an die Griechen los.
Die türkische Lira wurde inzwischen als offizielle Währung eingeführt. (Dessenungeachtet halten Taxifahrer und Händler ihre Hand wesentlich lieber für Zyperngeld auf.) Der gesamte Post-, Fernsprech- und Schiffsverkehr ist an das türkische Festland gekoppelt, ein Telephondraht vom Griechen- zum Türkenteil Nikosias existiert nur noch zum Denktas-Hauptquartier.
Eine neu gegründete türkisch-zypriotische Mineralöl-Gesellschaft soll für die Deckung des Ölbedarfs sorgen, die Landwirtschaftsbank von Ankara gewährt Bauern wie Kleinindustrie auf Zypern Aufbaukredite.
Um den Tourismus wieder anzukurbeln, wurde eine Fremdenverkehrs-AG gegründet, die zu je 50 Prozent Ankara und der türkisch-zypriotischen Verwaltung gehört. In diesen Wochen sollen die ersten Flugzeuge aus Adana mit Festlandgästen auf dem provisorisch ausgebauten Flughafen Tymbou landen, der zum ersten Zypern-Besuch des ehemaligen Türken-Premiers Ecevit in der vergangenen Woche nicht betriebsfertig wurde. Die türkischen Touristen sollen in kleinen, eiligst renovierten Griechen-Hotels wohnen und sich von 260 Mann hastig ausgebildeten Personals in Girne (Kyrenia) oder Magossa (Famagusta) bedienen lassen.
Angeblich verhandeln die türkischzypriotischen Tourismusmanager bereits mit Reisegesellschaften aus Skandinavien, England und der Bundesrepublik: gegen den Protest der Inselgriechen, denn keiner der eventuell abgeschlossenen Verträge habe Gültigkeit. Auf das Argument, die Hotels seien gestohlen, erwidern die Türken: »Bleiben diese Betriebe leer, bedeutet das schließlich einen Verlust für Zyperns Sozialprodukt.«
All diese Aktionen, den Türkenteil wirtschaftlich autark zu machen, sehen die Griechen mit Besorgnis. »Eine Föderation zweier autonomer, wirtschaftlich getrennter Systeme wäre das Ende der unabhängigen Republik Zypern«, schließt Alexis Ghalonas, Bankdirektor aus Famagusta. Und: »Die türkische Invasion hat uns Gelegenheit gegeben, umzudenken, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und endlich ein friedliches Zusammenleben mit den Türken anzustreben.«
Das ist ein Vorsatz, der Generationen braucht, bevor er ausgeführt sein dürfte. Denn bis heute sind die Gelegenheiten, bei denen Zypern-Türken freundschaftlich auf Zypern-Griechen treffen, so begrenzt wie zwischen Deutschen-Ost und Deutschen-West. Abgesehen davon, daß jede Gemeinschaft ihre eigene Polizei, eigene Rechtsprechung und Gefängnisse, eigenes Steuerwesen, eigene Armee, Genossenschaften, Banken, Handelskammern, Gewerkschaften, Bauern-Verbände hat, gibt es für die Jugend keine Chance, zusammenzukommen. Freundschaften zwischen beiden Gruppen werden, wenn überhaupt, meist erst im Ausland auf Universitäten geschlossen, wie zwischen Denktas und Klerides.
Und bedrohlich für den künftigen Frieden auf Zypern ist schließlich auch die Tatsache, daß die Volksgruppen nicht nur gegeneinander stehen, sondern auch intern nicht geschlossen sind. Türkenführer Denktas wird von der türkischen Opposition der Korruption und autoritärer Handlungsweise geziehen. Gefährlicher sind die Flügelkämpfe in der griechischen Gemeinschaft zwischen Makarios-Anhängern einerseits und den »palikars« (tapferen Männern) der Eoka-B-Bewegung. die, wie in den fünfziger Jahren die ursprüngliche Eoka des Generals Grivas. die Union (Enosis) mit Griechenland anstreben. Immer noch gibt es die Mitarbeiter von Nikolaos Sampson, dem berüchtigten Türken-Killer von 1963 und Acht-Tage-Präsidenten von 1974. Sie wollen nicht wahrhaben, daß der aus Griechenland gesteuerte Putsch. der Sampson vorübergehend an die Macht trug, Hunderten von griechischen Zyprioten das Lehen kostete.
Am ersten Tag, als er wieder zypriotische Heimaterde betrat, hat Makarios sie alle amnestiert. Ein kluger Schachzug, denn sechs von zehn Zyprioten sind schwer bewaffnet, und die Eoka-Kämpfer warten. Daß sie, wie von Makarios gefordert, ihre Waffen abliefern. ist wenig wahrscheinlich. »Für die«, so vertraute ein ehemaliger Eoka-Mann dem SPiEGEL in einer Hafenkneipe in Paphos an, »stellt sich nur die Frage, wie weit die Konzessionen an die Türken gehen. So lange halten sie still.«