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DEUTSCHLAND-POLITIK Mal anrufen

Trotz der Krise um die westdeutsche Mission wollen Bonn und Ost-Berlin die deutsch-deutschen Beziehungen stabil halten. Die DDR bot Straffreiheit für alle Flüchtlinge in der Ständigen Vertretung an. *
aus DER SPIEGEL 27/1984

Es blieb erstaunlich ruhig in den Reihen der Union, als Bonns Ständige Vertretung in Ost-Berlin am vergangenen Mittwoch in Absprache mit dem Kanzleramt erst einmal dichtmachte. Nur ein Christsozialer ließ ahnen, welch ein Gezeter losgebrochen wäre, hätte eine sozialdemokratisch geführte Regierung die Mission geschlossen.

Hans Graf Huyn, außen- und deutschlandpolitischer Sprecher der CSU-Landesgruppe im Bundestag, nahm Niedersachsens Wirtschaftsministerin Birgit Breuel an. Die CDU-Dame hatte nach einem Gespräch mit SED-Politbüromitglied Günter Mittag die Bundesregierung aufgefordert, DDR-Bürger vor der Flucht in die Vertretung zu warnen.

Für Huyn ein Unding: Schließlich genössen »alle Deutschen Freizügigkeit im ganzen Bundesgebiet«, und dieses Grundrecht garantiere »auch den Deutschen aus der DDR das Recht, in das Bundesgebiet einzureisen«.

Hätten Unionsrechte wie Huyn das Sagen, liefe bald nichts mehr zwischen den beiden Deutschland. Und die mehr als 50 DDR-Bürger, die sich zum Zeitpunkt der Schließung in der Ost-Berliner Vertretung drängten, könnten wohl die Hoffnung begraben, wenigstens straffrei in ihre Heimatorte zurückzukehren.

Daß Ostdeutsche durch die Flucht in westdeutsche Botschaften auch im sozialistischen Ausland ihre Ausreise zu erzwingen suchen, ist nicht neu. In früheren Jahren wurden solche Fälle diskret gelöst: Bonn zahlte, die Flüchtlinge zogen nach Westen.

Das änderte sich erst im vergangenen Januar, als die Flucht von sechs DDR-Bürgern in die Ost-Berliner US-Botschaft bekannt und von den West-Medien prompt ins andere Deutschland transportiert wurde. Wenig später schon machten sich Nachahmer auf den Weg: Zahlreiche Ausreisewillige, voran die Nichte des DDR-Ministerpräsidenten Willi Stoph nebst Familie, flüchteten in die Bonner Mission in Prag, weitere versammelten sich nach und nach in der Ost-Berliner Vertretung.

Zeitweilig fürchteten die Bonner, die von kräftigem Presse-Rummel begleiteten Botschaftsfälle könnten die DDR-Oberen veranlassen, die gerade anlaufende Ausreisewelle vorzeitig zu stoppen. Doch SED-Chef Erich Honecker zeigte sich großzügig: Bis Ende Mai durften 29 000 Ostdeutsche in den Westen übersiedeln - und die Botschaftsflüchtlinge dazu. Allerdings ließ Ost-Berlin ausrichten, auf diesem Wege laufe fortan nichts mehr.

Doch die Botschaft kam nicht an: Als die SED die Ausreisewelle auslaufen ließ und die strengen Kontrollen vor der Vertretung in der Ost-Berliner Hannoverschen Straße lockerte, sickerten erneut nach und nach mehr als 50 DDR-Bürger in die Mission ein. Die letzten zehn nahm Bonns Ständiger Vertreter Hans-Otto Bräutigam am letzten Dienstag ins Haus, nachdem sie bis zu 30 Stunden in dem engen Windfang vor der Eingangstür ausgeharrt hatten. Dann gingen die Rollgitter erst einmal auf unbestimmte Zeit herunter.

Unter den Asylanten in der Vertretung sind einige, die von den Behörden für Inneres brutal hinausgeworfen und auch sonst schikaniert worden waren, als sie ihren Ausreiseantrag stellten. Höher als früher ist diesmal allerdings auch der Anteil von Problemfällen - erheblich Vorbestrafte sowie ein desertierter Matrose _(Am Mittwoch letzter Woche am Fenster der ) _(Bonner Vertretung. )

der Nationalen Volksarmee (NVA), ein Ex-Offizier der NVA und ein Mann, der in der DDR ebenfalls als Geheimnisträger eingestuft ist.

Außerdem organisierte Grüppchen, die Bonns Diplomaten regelrecht zu erpressen versuchten. Das reichte von der Mitteilung, sie hätten die westdeutsche Presse schon vorab informiert - Springers »Bild« berichtete auffallend prompt über Neuzugänge -, bis hin zu der Drohung: Wenn sich nicht bald etwas tue, würde ein Kind aus dem Fenster fliegen.

Es ist vor allem der publizistische Wirbel, der es der DDR schwermacht, das Problem zu lösen. Einmal glaubten sich die Bonner schon nahe dran, »aber dann kam das in der Presse«, so ein Regierungsmitglied, »und alles ging von vorn los unter sehr viel schwierigeren Bedingungen«. Auch Kanzler Helmut Kohl goß Öl ins Feuer, als er die Existenz der Flüchtlinge öffentlich bestätigte und seine Hoffnung auf deren baldige Ausreise bekundete.

Ohnehin argwöhnt der SED-Chef, Kohl bringe wohl doch nicht das rechte Verständnis für die Deutschlandpolitik auf. Erst unlängst habe Honecker, berichtete einer seiner Vertrauten einem Westbesucher, eine pessimistische Bilanz der deutsch-deutschen Beziehungen seit der Bonner Wende gezogen: Abgesehen vom Milliarden-Kredit und bei aller Anerkennung der professionellen Bemühungen des Kanzleramts-Staatsministers Philipp Jenninger und des Innerdeutschen Staatssekretärs Ludwig Rehlinger sei für die DDR bisher kaum etwas rumgekommen.

Womöglich habe Kohl, fügte der DDR-Vorsteher hinzu, den Ernst der Lage in der Vertretung noch gar nicht begriffen, sonst hätte er doch in Ost-Berlin längst einmal anrufen können.

Noch glauben die Bonner, daß die derzeitigen Querelen die Beziehungen zu Ost-Berlin nicht dauerhaft beschädigen werden und daß Erich Honecker, wie geplant, Ende September in die Bundesrepublik kommt. Mit ihrer Zusage, den Berliner Übergang Staaken für weitere drei Jahre offenzuhalten, hat die DDR letzte Woche, mitten in der Aufregung um die Flüchtlinge, in der Tat ein Zeichen gegeben, daß sie keine neue Eiszeit will.

Und auch beim Problem der Vertretung ist Ost-Berlin offenbar kompromißbereit. Jenninger: »Nur lautlos muß das gehen, sonst sind morgen wieder 50 da.«

Seit Mittwochnachmittag letzter Woche verhandelte Rehlinger in Ost-Berlin mit Honeckers Spezialisten für humanitäre Fragen, dem Anwalt Wolfgang Vogel. Am Freitag zeichnete sich folgende Lösung ab: Die DDR garantiert allen Flüchtlingen, auch dem desertierten Matrosen und dem Ex-Offizier, Straffreiheit, wenn sie freiwillig die Vertretung verlassen und nach Hause zurückkehren. Dort könnten sie dann einen normalen Ausreiseantrag stellen.

Eine Ausreisegarantie freilich lehnte die DDR ab. Sie war nur bereit, die Anträge in jedem Einzelfall wohlwollend zu prüfen und mit Vorrang zu behandeln.

Im Gegenzug sollte die Bundesregierung offiziell erklären, daß sich ihre Ständige Vertretung nicht in der Lage sieht, DDR-Bürgern die Ausreise zu ermöglichen. Das sei allein in das Ermessen der DDR gestellt.

Um Wiederholungsfälle soweit wie möglich zu reduzieren, möchte Ost-Berlin wohl noch etwas mehr. Seit Wochen schon drängen DDR-Offizielle ihre westdeutschen Gesprächspartner, es doch wie die Amerikaner zu machen.

Die haben in ihrer Mission einen großen Vorraum. DDR-Bürger, die in Ausreiseangelegenheiten kommen, werden seit der Fluchtaktion vom Januar gar nicht erst in die eigentlichen Botschaftsräume vorgelassen.

Am Mittwoch letzter Woche am Fenster der Bonner Vertretung.

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