»Mal mit dem Hammer zuschlagen«
Für Bonns DDR-Botschafter Günter Gaus war es eigentlich ein Routineprotest -- politisch notwendig, aber ohne Aussicht auf Erfolg. Es sollte anders kommen: Ein Bundesminister war im Anmarsch.
Pflichtgemäß hatte der Staatssekretär am Montag letzter Woche um 11.30 Uhr im Leipziger Prominenten-Hotel »Astoria« bei Karl Seidel, dem Leiter der Abteilung Bundesrepublik im DDR-Außenministerium,seinen »scharfen Protest gegen die Nicht-Akkreditierung« dreier bundesdeutscher Rundfunkjournalisten bei der Leipziger Messe überbracht.
In der Beletage der Messe-Herberge verlangte der Bonner Vertreter Unvorstellbares: Die DDR-Oberen sollten eine einmal getroffene Entscheidung gegenüber der Bundesrepublik wieder rückgängig machen.
Gaus, nach einem internen Bericht des Bundeskanzleramtes: »Die Bundesregierung erwarte die Akkreditierung, und allgemein erwarte sie, daß die DDR sich künftig konstruktiv verhalten werde«.
Barsch wies Seidel den Protest zurück. Die DDR »als souveräner Staat« entscheide selbst, wen sie einreisen lasse und als Korrespondenten akkreditiere. Der Ost-Berliner Beamte: »Dies wird bei uns entschieden, nicht in Bonn, und schon gar nicht durch Herrn Bölling.« Und: »Ein Nervenkrieg und eine Kampagne« änderten daran nichts.
Zwei Stunden später war der Krach da. Fast sieben Jahre nachdem die Sozialliberalen begonnen hatten, das Verhältnis zur DDR zu entkrampfen, nach mühseligem Feilschen und verbissenem Gezerre um ein vertraglich geregeltes Nebeneinander der beiden deutschen Staaten bahnte sich eine Auseinandersetzung mit der DDR an, wie sie nach Berlin-Abkommen und Grundvertrag kaum mehr möglich schien.
Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs, von DDR-Außenhandelsminister Horst Sölle nicht anders beschieden als vorher schon Gaus von Seidel. brach seinen Besuch, kaum in Leipzig angekommen, wieder ab. Die erste offizielle Visite eines Bonner Wirtschaftsministers in der DDR, als Zeichen zunehmender Normalisierung gedacht, schlug ins Gegenteil um -- eine neue Phase der Konfrontation zeichnete sich ab.
Der deutsch-deutsche Zwist paßt gut in eine internationale Szene, in der die Erfolgschancen der Entspannung zwischen Ost und West zusehends geringer werden. Und der Fall Leipzig liefert ein weiteres Symptom. Ende der Entspannung, wie der Westen sie versteht? Ende auch der Hoffnung auf Wandel durch Annäherung, Rückfall in den Kalten Krieg?
Genausowenig wie die Kreml-Astrologen bisher eine bündige Erklärung für den härteren Kurs Moskaus gegenüber den Amerikanern und ihren Verbündeten gefunden haben, genausowenig haben die Bonner eine schlüssige Deutung für das DDR-Manöver um die drei Korrespondenten parat. Sie bieten nur verschiedene Lesarten an.
»Journalisten-Austausch ist die kritischste Sache.«
Einmal: Die Falken in der DDR-Führung wollten durch Kraftakte gegenüber der Bundesrepublik ihre Startchancen für die Politbürowahlen im Mai verbessern. Oder: Ost-Berlin möchte die DDR-Berichterstattung westdeutscher Korrespondenten, von den eigenen Bürgern als korrekt geschätzt, soweit wie möglich einschränken. Ein DDR-Kenner in Bonn: »Für Ost-Berlin ist der Journalisten-Austausch die kritischste Sache.«
Und schließlich: Das Regime des SED-Chefs Erich Honecker habe mit seiner Entscheidung, die just an dem Tag bekannt wurde, an dem die Polen-Verträge den Bundesrat passierten, eine doppelte Demonstration beabsichtigt. Den Polen, die sich für Honeckers Geschmack allzu konzessionsbereit gezeigt hatten, sollte vorgeführt werden, wie man mit dem Klassenfeind umspringt; und Bonn sollte lernen, daß in der DDR nicht solche Kompromißler an der Macht seien wie in Warschau.
Für die an gedämpftere Bonner Einreden gewöhnte DDR-Führung einigermaßen überraschend reagierten die Bundesdeutschen diesmal freilich zunächst so, als ob auch für sie die Zeit für Kompromisse vorbei sei. Nicht nur daß Hans Friderichs in Leipzig auf dem Fuße kehrtmachte -- die Sozialliberalen setzten auch noch eins drauf: Sie verweigerten der DDR die Landeerlaubnis für ein Sonderflugzeug, das die SED-Politbüromitglieder Paul Verner und Günter Mittag samt Gefolge zum Parteitag der DKP nach Bonn bringen sollte.
Wenngleich die Entscheidung schon vor dem Korrespondenten-Spektakel gefallen war, deklarierte sie Kanzler Helmut Schmidts Pressesprecher Klaus Bölling hinterher noch als Strafaktion um. Man hätte, so Bölling, erst recht so entschieden, wenn die Leipziger Affäre bereits bekannt gewesen wäre. Bonns Berlin-Bevollmächtigter, Staatssekretär Dietrich Spangenberg (SPD), freute sich: »Der Zeitpunkt war erreicht, wo wir mal mit dem Hammer zuschlagen mußten.«
Die christdemokratische Opposition, der die ganze Richtung der Ostpolitik noch nie gepaßt hatte, gab jegliche Zurückhaltung auf. Der Berliner CDU-Abgeordnete Jürgen Wohlrabe bediente sich eines Begriffs aus der atomaren Strategie und empfahl im Bundestag für die innerdeutsche Politik ein »Konzept der abgestuften Vergeltung«.
Im heraufziehenden Bundestagswahlkampf mochte sich keine Partei an Härte gegenüber den ostdeutschen Kommunisten übertreffen lassen -- mit der Folge, daß der innerdeutsche Streit das wachsende Mißtrauen zwischen den sozialliberalen Koalitionspartnern noch verstärkte. Was sich schon beim dubiosen Gezerre um die Polen-Verträge abgezeichnet hatte, wurde auch beim Krach mit der DDR wieder deutlich: Die FDP läßt keine Gelegenheit aus, um sich vom Bündnispartner abzusetzen und als Hartmacher gegenüber östlichen Pressionsversuchen aufzutreten.
Vertrauter Umgang mit dem CDU-Lockvogel.
Mißmutig beobachteten führende Sozialdemokraten. wie zwei Liberale das Stück von Leipzig allein spielten: FDP-Chef Außenminister Hans-Dietrich Genscher und sein Partei-Vize, Wirtschaftsminister Hans Friderichs, beide von Amts wegen für die Deutschlandpolitik nicht zuständig.
Als Friderichs während seiner Reise nach Leipzig, in Weimar, von der Korrespondenten-Affäre erfuhr, rief er am Sonntagabend um zehn Uhr nicht etwa im Kanzleramt an, in dem die Deutschlandpolitik gemanagt wird, sondern beim Parteifreund. Damit, so kritisieren die Sozialdemokraten, sei bewiesen, daß der Freidemokrat bei seiner Besuchs-Strategie weniger an Deutschland und mehr an die FDP gedacht habe.
In diesem Gespräch bereits, so glauben informierte Sozialdemokraten zu wissen, verabredeten die liberalen Parteiführer, ohne den Kanzler vorher zu konsultieren, Friderichs« Protest-Umkehr (siehe Interview Seite 24).
Auch in Leipzig hielt Friderichs zunächst nur Kontakt zum Außenminister. Vor seinem Gespräch mit DDR-Außenhandelsminister Sölle, das formal die Entscheidung über Verbleib oder Abreise bringen sollte, telephonierte er von der Halle des »Astoria« wieder mit dem AA-Chef. Erst als die Entscheidung gefallen war, verlangte der Freidemokrat nach dem Bundeskanzler. Und Helmut Schmidt blieb nur noch die Zustimmung.
Zusätzlichen SPD-Argwohn erregte Friderichs« vertrauter Umgang mit Niedersachsens neuem Finanzminister Walther Leisler Kiep, dem christdemokratischen Lockvogel für eine Koalition zwischen FDP und CDU. Kiep und Friderichs waren mit ihren Frauen bereits am Wochenende gemeinsam im historischen Weimarer Hotel »Elephant« abgestiegen. Dort, wo einst die FDP und die Liberal-Demokratische Partei (Ost-)Deutschlands über Wiedervereinigung beratschlagt hatten, trafen sich am Sonntagmittag die beiden Familien zum Enten-Schmaus. Ein Kiep-Mitarbeiter juxte: »Da fand jetzt das Wiedervereinigungsgespräch zwischen CDU und FDP statt.«
In Leipzig bestand Friderichs darauf, daß Kiep bei den internen Gesprächen der Bonner Offiziellen stets dabei war. Ein Kanzlerberater ärgerte sich über die demonstrative Einigkeit zwischen dem Liberalen und dem Christdemokraten, die dem bundesdeutschen Volk vom Fernsehen vermittelt wurde: »Friderichs und Kiep lustwandelten wie Marquis Posa und Don Carlos auf dem Bildschirm.«
Auch die Bonner Sozialdemokraten trommelten -- zunächst wenigstens -- fleißig mit. Noch am Dienstag voriger Woche versicherte der Kanzler vor der SPD-Fraktion: »Ich selbst habe Friderichs geraten abzureisen.«
Die DDR-Führung nutzte das Bonner Durcheinander, um den kopflosen Klassenfeind weiter zu verunsichern. Mitten hinein in Koalitionsgerangel und Oppositionsgeschrei, in den Ministerstreit um ostpolitische Kompetenzen und die Interpretations-Widersprüche bei der Fahndung nach den politischen Motiven Ost-Berlins gab die SED-Spitze ihrem Zentralblatt »Neues Deutschland« Feuer frei.
»Kampagnen gegen die DDR«, so drohte der vom Politbüro inspirierte »ND«-Kommentator« hätten sich allemal »als Bumerang erwiesen«. Wenn die Bundesregierung »gegen den Strom« schwimmen wolle, dann müsse sie bedenken, daß dies »bei der Stärke der Strömung ein gefährliches, um nicht zu sagen selbstmörderisches Unterfangen« sei.
Der ostdeutsche Staatsrundfunk fühlte sich durch die westdeutschen Reaktionen auf die Nichtzulassung der drei Rundfunkjournalisten »sehr an die fünfziger Jahre erinnert«, und das »Neue Deutschland« holte bereits das Vokabular jener Zeit aus dem Agitations-Arsenal: »Lügen«, »politische Brunnenvergiftung«, »antikommunistische Hetze« -- Töne, die wenn auch kaum Kalten Krieg, so doch empfindliche Abkühlung signalisieren.
Noch im letzten Sommer, beim Gipfeltreffen von Helsinki zum Abschluß der KSZE-Verhandlungen« verbreiteten der Bonner Kanzler und der Ost-Berliner SED-Chef Erich Honecker deutsch-deutschen Optimismus. Der Ost-Berliner rühmte die »Wandlungen zum Positiven«, plauderte wenig später auf der Leipziger Herbstmesse freundschaftlich mit westdeutschen Ausstellern und versprach dem Bonn-Vertreter Günter Gaus einen »arbeitsreichen September«, um, wie Politbüro-Kollege Hermann Axen formulierte, möglichst rasch »bestehende Hemmnisse aus dem Wege zu räumen«.
Doch seither ging"s bergab. Der Breschnew-konformen Entspannungskurs steuernde Honecker stieß auf Widerstand in den eigenen Reihen. Der SED-Chef konnte im Politbüro, am 16. Dezember, gerade noch die Zustimmung zur Ost-West-Vereinbarung über den Ausbau der Verkehrswege nach Berlin erreichen -- mit Hinweis auf den ökonomischen Nutzen des Projekts: die Bonner Unkostenbeteiligung von 259,5 Millionen Mark West.
»Die Leute wissen nicht, von was sie schreiben.«
Zu weiteren Zugeständnissen waren die ideologischen Scharfmacher um den Agitationschef Werner Lamberz und den Propaganda-Professor Albert Norden nicht bereit. Sie kritisierten die nachlassende Wachsamkeit der Partei gegen die seit Abschluß des Grundvertrages und des Berlin-Abkommens bedrohlich wachsende Westinfiltration. Zum Beleg verwiesen die Genossen auf Umfrage-Ergebnisse des parteieigenen Meinungsforschungsinstituts, das ideologisch gefährliche Entspannungs-Euphorie in der DDR-Bevölkerung ermittelt hatte.
Dann forderten sie, zur Abschreckung ein Exempel zu statuieren, und alle Politbürokraten stimmten zu -- auch Honecker: Am selben Tag, um 17 Uhr, kündigte das DDR-Außenministerium die Arbeitserlaubnis des Ost-Berliner SPIEGEL-Korrespondenten Jörg R. Mettke auf und verwies ihn des Landes (SPIEGEL 52/197 5).
Daß dabei vertragliche Abmachungen mit der Bundesrepublik über journalistische Arbeitsmöglichkeiten verletzt wurden, kümmerte die SED-Führer ebensowenig wie die Tatsache, daß der SPIEGEL-Rausschmiß gegen die auch von Honecker unterzeichnete KSZE-Schlußakte von Helsinki verstieß. Denn dort heißt es ausdrücklich, daß »die legitime Ausübung der beruflichen Tätigkeit weder zur Ausweisung von Journalisten noch anderweitig zu Strafmaßnahmen gegen sie führen wird«.
Bewußt maßvolle Proteste aus Bonn schienen die Lamberz-Truppe eher zu ermuntern. Zum Handball-Olympiaqualifikationsspiel DDR -- Bundesrepublik verweigerte Ost-Berlin einem Deutschlandfunk-Reporter die Einreise nach Karl-Marx-Stadt; bei der Paraphierung des zwischendeutschen Post-Vertrages blieb ein Redakteur der Deutschen Welle ausgesperrt. Und von der Leipziger Messe schließlich durften die Mitarbeiter beider Bundessender nicht berichten.
Auch den in der DDR ständig akkreditierten westdeutschen Journalisten macht die SED das Leben sauer. Offizielle Gesprächspartner werden ihnen nicht mehr vermittelt, die meisten Pressekonferenzen finden ohne sie statt, der Zugang zu sämtlichen Wirtschaftsthemen wird ihnen auf Anweisung des Politbüros verwehrt.
In ihrer Presse läßt die Einheitspartei seit Jahresbeginn gegen die lästigen Beobachter polemisieren. »Die Leute wissen überhaupt nicht, von was sie schreiben«, höhnte das SED-eigene »Freie Wort« in Suhl, und die Magdeburger »Volksstimme«, SED, befand: »So lügen sie täglich.«
Zunehmend restriktiv verhält sich die DDR auch in den zwischendeutschen Vertragsgesprächen. Ost-Berlin scheint nur noch an Abmachungen interessiert, bei denen bares Geld herausspringt. Die Vereinbarung über den Ausbau der Berlin-Wege, die Erhöhung der Transitpauschale für den Berlin-Verkehr und das Postabkommen ließ die SED unterschreiben. Die Verhandlungen über den Kulturaustausch, den Rechtsverkehr und die Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technik kommen nicht vom Fleck.
Zwischen den Sportverbänden beider deutscher Staaten besteht zwar seit Mai 1974 ein Begegnungsvertrag. Doch registrieren die westdeutschen Funktionäre beim Ost-Berliner Partner wachsende Abneigung gegen zwischendeutsche Sportfeste auf unterer Ebene. Nach dem Eindruck des (West-)Deutschen Sportbundes verfährt der DDR-Deutsche Turn- und Sportbund nach der Devise: Möglichst wenige Veranstaltungen, möglichst nur Wettkämpfe, in denen die Ostdeutschen eine Siegesgewißheit haben, möglichst keine Jugend-Begegnungen.
Auch bei den Medien-, Kultur- und Unterhaltungskontakten mit der Bundesrepublik hat die DDR -- nach einer kurzen, vom Grundvertrag ausgelösten Tauwetter-Periode -- wieder auf Feinfrost umgeschaltet. Vorbei die Zeit, in der Bundes-Entertainer wie Peggy March, Manuela oder das Kurt-Edelhagen-Orchester im deutschen Zweitstaat Triumphe feiern und Vicky Leandros jubeln konnte: »Wir bekommen in der DDR eine höhere Gage als bei uns« (siehe Seite 142).
Neuerdings werden westdeutsche Pop-Interpreten offenbar nur dann noch willkommen geheißen, wenn sie gebührend auf den Kapitalismus schimpfen -- wie jüngst die West-Berliner Politrock-Gruppe »Lokomotive Kreuzberg« beim »Festival des politischen Liedes« in Ost-Berlin.
Hatte Erna Heckel, Mitarbeiterin des Instituts für Gesellschaftswissenschaften beim Zentralkomitee der SED, noch vor knapp drei Jahren gemeint, »friedliche Koexistenz und Entspannung« schüfen »günstige Bedingungen für die Ausstrahlungskraft der sozialistischen Kultur«, so dekretiert DDR-Kulturminister Hans-Joachim Hoffmann heute die »Verteidigung der Kultur gegen alles, was ihr wesensfremd ist«.
Anfang Februar erläuterten Funktionäre des DDR-Journalistenverbandes und des Ministeriums für Kultur intern und »streng vertraulich«, was darunter zu verstehen sei. Während einer mehrtägigen Instruktion für Kulturredakteure sämtlicher DDR-Zeitungen gaben sie bekannt, die »Öffnung zum kapitalistischen Ausland« werde zwar andauern: »Aber die Klappe fällt gegenüber der BRD.«
Der Erste Sekretär der SED ging mit gutem Beispiel voran. Bei der Leipziger Frühjahrsmesse strich er die früher so gern zur Schau gestellte Leutseligkeit gegenüber westdeutschen Gästen vom Besuchsprogramm. Sorgfältig umging Honecker alle bundesdeutschen Handelsleute und machte Visite nur bei Genossen. Die SED-Presse nahm von den 785 westdeutschen und West-Berliner Firmen, dem zweitgrößten Messe-Aufgebot nach der DDR, kaum Notiz.
Wehrbauern-Mentalität hat die Partei erfaßt. Politbürokrat Heinz Hoffmann, Armeegeneral: »Es wurde ein guter und stabiler Wall gebaut, hinter dem es sich glücklich und sicher leben läßt, mit festen, verschlossenen Toren gegen alle Eindringlinge.«
Herein darf nicht, wer, etwa als Journalist, der DDR-Wirklichkeit zu nahe tritt, als Pop-Sänger ideologische Konterbande schmuggelt, als Wissenschaftler womöglich manches besser weiß. Heraus darf nur, wer Rentner ist, wer eine dringende Angelegenheit im Westen zu erledigen hat oder aber sich immun zeigt gegen politische Infektionen und zudem, sicherheitshalber« Frau und Kinder zu Hause läßt.
Probleme, sich bei alledem den Geist von Helsinki dienstbar zu machen, hat die SED nicht -- ganz so, als sei dort eine Konferenz für Sicherheit und Abgrenzung in Europa veranstaltet worden. Keine Woche verstreicht, ohne daß ein namhafter Partei-Propagandist dem Volk der DDR versichert, wie musterhaft im deutschen Osten die KSZE-Richtlinien befolgt werden.
»Die Propaganda der Ideen des Sozialismus steht nicht im Widerspruch zu den Verpflichtungen von Helsinki«. predigte ZK-Abteilungsleiter Paul Markowski und erläuterte den kleinen Unterschied: »Völlig anders verhält es sich mit der ... Hetze in den westlichen Massenmedien.« Und Botschafter Siegfried Bock, Delegationschef der DDR. bei der KSZE, befand mit Blick auf den sogenannten Korb drei der Helsinki-Vereinbarung ("Kontakte zwischen den Menschen") kurz und bündig, »daß der Nachholbedarf ... im kulturellen und humanitären Bereich nicht bei der DDR liegt, sondern bei den kapitalistischen Staaten«.
Daß die DDR als erstes und bisher einziges Ostblock-Land mit drastischer Quarantäne-Politik versucht, Abstand von den Helsinki-Beschlüssen zu gewinnen, hat innere Logik. Denn der innenpolitische Druck, den die Kontaktangebote von Helsinki im Osten Europas ausgelöst haben, ist in der DDR am stärksten:
* Die Anziehungskraft des westlichen Teils der Nation, der abgewanderten DDR-Bürgern ohne Formalitäten volles Bürgerrecht gewährt, hat sich trotz 26 Jahren Zweistaatlichkeit kaum vermindert;
* der Zustrom westdeutscher Besucher (1975: 7,2 Millionen) regeneriert das Gefühl nationaler Zusammengehörigkeit;
* West-Fernsehen und West-Rundfunk sind für DDR-Bürger noch immer Hauptinformationsquellen für den Systemvergleich.
Im Westen kaum Abnehmer für DDR-Maschinen.
Diese Faktoren gefährden die mühsam ausbalancierte innere Stabilität der DDR. So gesehen ist ideologische Abgrenzung für den SED-Staat eine Überlebensfrage -- ebenso wie die ökonomische Öffnung nach Westen. Sie ist der einzige Bereich zwischendeutscher Kontakte, den die DDR-Führung weiterhin nach Kräften fördert. Allein aus dieser Dialektik lebt die DDR-Politik der friedlichen Koexistenz.
Und das Doppelspiel ist auch noch lukrativ, denn so vorteilhaft wie mit der Bundesrepublik kann Ost-Berlin nirgendwo im Westen Geschäfte machen: Der Sonderstatus des innerdeutschen Warenverkehrs, praktisch Binnenhandel, ermöglicht der DDR Exporte in die Bundesrepublik zu EG-Konditionen. Der zinsfreie Überziehungskredit (Swing), den die Bundesrepublik Ost-Berlin einräumt -- in diesem Jahr 850 Millionen Mark -, erspart der DDR Zinskosten in Höhe von rund 50 Millionen. Zudem erhält die ostdeutsche Staatskasse aus Bonn und West-Berlin allein 1976 für diverse Dienstleistungen (etwa im Berlin-Verkehr) mindestens 609 Millionen Westmark.
Innerhalb der letzten fünf Jahre stieg der Umsatz im innerdeutschen Handel von 4,5 auf 7,4 Milliarden Mark. Ähnlich rapide entwickelte sich allerdings auch das Defizit der DDR: Bis Ende 1975 blieb sie 2,4 Milliarden Mark schuldig.
Ursache dieses Mißverhältnisses ist das Unvermögen der DDR, ihre Strukturschwäche im innerdeutschen Handel abzubauen. Der Anteil des DDR-Exports im Investitionsgüter-Bereich erreicht nur knapp die Hälfte der entsprechenden westdeutschen Lieferungen.
Sie muß deshalb versuchen, die Wertdifferenz nach Art der Entwicklungsländer mit dem Export von Agrarerzeugnissen und Textilien auszugleichen -- vorläufig ohne Aussicht, den Absatz eigener Investitionsgüter in der Bundesrepublik wesentlich zu steigern: Das nach Qualität und Sortiment auf den Ostblock-Bedarf zugeschnittene Maschinen-Angebot der DDR findet auf dem anspruchsvollen Westmarkt kaum Abnehmer. Und auch der Bedarf der westdeutschen Konsumenten an DDR-Kühlschränken oder Staubsaugern ist begrenzt. Überdies ist die Kapazität der ostdeutschen Industrie für West-Exporte begrenzt: Rund 70 Prozent des DDR-Außenhandels sind durch Ostblock-Verträge gebunden.
Westliche Empfehlungen, das Know-how-Defizit der DDR-Produzenten durch verstärkte Kooperation mit bundesdeutschen Firmen auszugleichen, stoßen auf den Widerstand der Ost-Berliner und Moskauer Abgrenzungs-Strategen. Sie fürchten die dann unvermeidlich wachsende Abhängigkeit vom Westen und die Einflüsse, denen Ost-Werktätige bei ihrem Kontakt mit West-Kollegen ausgesetzt wären.
Die Zusammenarbeit mit westdeutschen Firmen hält sich denn auch in engen Grenzen. Krupp wird eine Gießerei in Ueckermünde und einen Erweiterungstrakt für das Stahlwerk Henningsdorf bauen, die Hoechst AG soll eine PVC-Anlage liefern. Bezahlen will die DDR in allen drei Fällen mit den dort erzeugten Produkten.
Was die SED von ihrer volkseigenen Wirtschaft erwartet, kommt der Quadratur des Kreises gleich: Sie soll die immer engere Verflechtung mit der Sowjet-Industrie vorantreiben, gleichzeitig aber neues Export-Terrain im Westen erobern, um Devisen für die Staatskasse, für Investitionen und für Konsumgüter-Importe zu erwirtschaften.
Sie ist, das geben DDR-Ökonomen, im privaten Gespräch offen zu, beim Versuch, wenigstens einen Teil dieser Aufgabe zu bewältigen, mehr denn je auf die Subsidien aus der Bonner Staatskasse angewiesen. Denn im restlichen Westen gilt die Kreditwürdigkeit der DDR mittlerweile als erschöpft. Schon heute schätzen Experten des West-Berliner Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) das Ost-Berliner Defizit im Westhandel für 1975 auf rund zehn Milliarden Mark.
Der neue Fünf-Jahres-Plan der DDR läßt erkennen, daß die Führung gezwungen sein wird, den privaten Konsum wieder hintanzustellen. Und für die Zeit nach dem IX. SED-Parteitag im Mai müssen sich die Ostdeutschen auf kräftige Steuererhöhungen gefaßt machen.
Kein Wunder, daß die Deutschland-Politiker der Opposition in Kenntnis solcher Schwierigkeiten nach dem Leipziger Krach wirtschaftliche Nötigung empfahlen. Wie Wohlrabe riet auch der Unionsvorsitzende des Innerdeutschen Bundestagsausschusses, Olaf von Wrangel, zu ökonomischen Repressalien: Westdeutsche Zahlungen könnten je nach Verhalten der DDR nur noch »Zug um Zug« geleistet werden.
Die SED mochte solche Oppositions-Einfälle vorausgeahnt haben. Listig lenkte sie ihre Bonner Kreditgeber ab: Es habe doch »keinen Zweck, sich im Interesse der CDU/CSU gegenseitig hochzuschaukeln« ("Neues Deutschland").
Auch ohne Ost-Berliner Denkhilfe wissen die Sozialliberalen freilich gut genug, daß sich grobschlächtige wirtschaftliche Erpressung nicht leisten kann, wer von der DDR Wohlverhalten auf den Zufahrtswegen nach Berlin und Entgegenkommen in humanitären Fragen, etwa bei der Familienzusammenführung, erwartet.
Nur: Selbst ein Übermaß an Nachsicht kann der Bonner Regierung keine Garantie dafür geben, daß die vertragswidrigen Attacken der SED gegen westdeutsche Journalisten letztlich nicht doch zu Lasten der Koalition gehen. Schon schätzen sozialdemokratische DDR-Experten die Stärke jener Politbürofraktion auf 40 Prozent, die endlich wieder ein klares Feindbild ins Visier nehmen möchte und sich deshalb die Union an die Macht zurück wünscht.
Ost-Berliner Freunde der Sozialliberalen, unter ihnen auch SED-Funktionäre, sehen die Lage noch düsterer. Sie glauben, schon die halbe Parteiführung spekuliere auf Regierungswechsel in Bonn, und sie raten SPD wie FDP, diesmal auf Ost-Berliner Rücksicht im Wahlkampf besser nicht zu bauen.
Die Sozialdemokraten in Bonn haben jedoch derzeit andere Sorgen. Denn sie erkannten inzwischen, daß die öffentliche Aufregung über die DDR-Schikane gegen die westdeutschen Rundfunkkorrespondenten bei der Leipziger Messe ihnen mehr schadet als nützt.
In der Innenpolitik, so analysierten sie spät, ziehe die FDP bei ihrem Profilierungsdrang Vorteile aus dem Eklat; und auch im Verhältnis zur DDR sei eine Dramatisierung der Vorfälle nicht geboten, weil so das ohnehin labile innerdeutsche Verhältnis vollends aus dem Lot geraten könne.
In der Bundestags-Fragestunde am Mittwoch warnte denn auch Sprecher Bölling im Auftrag seines Kanzlers vor »Überreaktionen«. Und tags darauf mahnte Günter Gaus in der »Süddeutschen Zeitung": »Der durch die Leipziger Vorgänge ganz deutlich gewordene Mißstand zwischen den beiden detitschen Staaten ... wird nicht dadurch gebessert, daß man diesen Mißstand wie ein Krebsgeschwür auf alle anderen Bereiche auswuchern läßt.«
Auch die andere Seite wollte offenbar nicht zu hoch pokern: Wie sehr Ost-Berlin trotz des Leipziger Zwischenfalls darauf bedacht ist, für gut Wetter in den Wirtschaftsbeziehungen zu sorgen, erfuhr noch in Leipzig das FDP-Bundesvorstandsmitglied Hans Wolfgang Rubin, Vorstand der Gelsenkirchener Eisen und Metall AG. Nur eine Stunde nach der Friderichs-Abreise rief ihn der ostdeutsche Bonn-Botschafter Michael Kohl an und bat dringend noch für diesen Nachmittag um eine Unterredung. Und tags darauf sprach Außenhandelsminister Sölle mit seinem Vertreter Behrendt und großem Gefolge auf Rubins Messestand vor. Kaum noch Engagement für die Deutschlandpolitik.
Der DDR-Diplomat und die beiden Außenhändler versuchten abzuwiegeln. Vor allem Sölle beteuerte, daß die DDR an weiterer Eskalation nicht interessiert sei, bekundete gewisses Verständnis für die Friderichs-Reaktion und versicherte, seiner Regierung liege daran, die Wirtschaftsbeziehungen nicht zu belasten.
Ähnliche Eindrücke gewann in Leipzig auch Hans Hoffmann, Vorstandsmitglied der Bank für Gemeinwirtschaft. Er glaubt, »daß die zuständigen DDR-Stellen gerade nach dem Abbruch des Friderichs-Besuchs sehr bemüht sind, die Geschäftsbeziehungen normal fortzuführen«.
Wie immer sich die Honecker-Mannschaft künftig gegenüber der Bundesrepublik verhalten wird -- sicher ist, daß der westdeutsche Nachbar in der politischen Strategie der ostdeutschen Republik auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen wird.
Anders hingegen in Bonn: Für die in den letzten Jahren mit drängenden ökonomischen Problemen belastete Bundesregierung haben nun, nach den hektischen Aufbruchsjahren der Ostpolitik unter Willy Brandt, die Beziehungen zu den westlichen Handelspartnern und Verbündeten absolute Priorität; das Engagement der Bonner Regenten für die Deutschlandpolitik läßt erkennbar nach.
Die wenigen verbliebenen DDR-Experten der Regierung klagen darüber. daß sie in Kabinett wie Administration keinen kompetenten und sachkundigen Gesprächspartner mehr finden.
Der eigentlich zuständige Innerdeutsche Minister Egon Franke kümmert sich praktisch nur noch um seine Kanalarbeiter-Riege in der SPD-Fraktion. Sein Ministerium bescheidet sich mit der Herausgabe gesamtdeutscher Aufklärungsschriften und der Finanzierung von Schülerreisen nach West-Berlin.
Der Kanzler selbst,. ohnehin nicht sonderlich ostinteressiert, ist mit anderen Aufgaben so ausgelastet, daß ihm für die Deutschlandpolitik kaum Zeit bleibt.
Kanzleramts-Staatssekretär Manfred Schüler beschränkt sich, den Wünschen seines Chefs entsprechend, auf die optimale Verwaltung der Regierungszentrale und findet überdies keinen rechten Zugang zur deutsch-deutschen Problematik.
Gaus am Telephon dreimal abgewiesen.
Bonn-Emissär Günter Gaus bleibt daher bei seinen ostdeutschen Aktivitäten weitgehend auf sich selbst gestellt.
Nur weil sich in Bonn keiner so recht zuständig fühlt, konnte Hans Friderichs in Leipzig seinen profilträchtigen Alleingang starten. Und: Obwohl bereits am Samstag in der Bundeshauptstadt klar sein mußte, daß die Nicht-Akkreditierung dreier westdeutscher Journalisten zusammen mit dem ersten Besuch eines Bundesministers in Leipzig eine besonders delikate Situation heraufbeschwor, kümmerte sich niemand um den Fall -- bis auf die stets hellwachen, aber unzuständigen Liberalen, die nur zu gerne in die Bresche sprangen.
In Ost-Berlin mußte sich Gaus, der seinen Protest noch am Sonntag loswerden wollte, dreimal vom Bereitschaftsdienst des DDR-Außenministeriums am Telephon abweisen lassen.
* Bei der Ankunft auf dem Kölner Hauptbahnhof am 18. März mit (v. l.) DKP-Präside Gauthier und DDR-Vertreter Kohl.
In Bonn aber kam offenbar keiner auf den Gedanken, den DDR-Botschafter Kohl oder dessen Vertreter zur Entgegennahme der Demarche ins Kanzleramt zu zitieren.
Einigermaßen hilflos hatten sich die Bonner auch bei der Ausweisung des SPIEGEL-Korrespondenten Mettke aus Ost-Berlin gezeigt. Als sie über Gegenaktionen ratschlagten, kam beispielsweise der seltsame Gedanke auf, den Vier DDR-Korrespondenten in Bonn die Presseausweise für den Bundestag zu entziehen. Dann aber fiel den Sanktionsplanern noch gerade rechtzeitig ein, daß die Parlamentsdebatten In den Pressehäusern über Drahtfunk empfangen werden können.
Auch künftig ist die Bundesregierung Vor Schwierigkeiten mit der journalistenfeindlichen DDR nicht sicher. Obwohl Sölle und Genossen die jüngste Affäre herunterzuspielen versuchten, rechnen westdeutsche Kenner damit. daß die Ostdeutschen demnächst wieder einmal einen bundesdeutschen Korrespondenten ausweisen.
Nach Bonner Informationen bereitet sich der DDR-Staatssicherheitsdienst dieses Mal auf einen möglichst lautlosen Abschuß vor: Die Ost-Berliner Späher, in letzter Zeit besonders intensiv auf West-Journalisten angesetzt, lauern offenbar darauf, einen Korrespondenten bei einer Gesetzwidrigkeit, etwa mit illegal getauschtem Geld oder bei einem Verbotenen Kontakt, zu ertappen. Dann können sie ihn abschieben -- ganz legal, ohne daß die Bundesregierung Protest erheben könnte.