»MAN HAT NICHT KRAFT FÜR ALLES«
SPIEGEL: Herr Brandt, der Genosse Trend, der Ihrer Partei noch im vergangenen Jahr Stimmengewinne gebracht hat, ist aus der SPD ausgetreten. Er ist jetzt Mitglied der CDU. Haben Sie sich die Große Koalition so vorgestellt?
BRANDT: Wenn man von einem Trend spricht, dann muß man ganz nüchtern sehen, daß meine Partei schon vor Bildung der Großen Koalition, bei den Landtagswahlen in Hessen und in Bayern vorigen Herbst, nicht mehr die gleiche Zuwachsrate zu verzeichnen hatte wie früher, vor allem bei unserem Wahlsieg in Nordrhein-Westfalen im Sommer 1966. Das ist also eine übervereinfachte Darstellung, daß man es hier mit einen Phänomen zu tun habe, das mit der Großen Koalition zusammenhängt. Eine Große Koalition bildet man -- jedenfalls aus meiner Sicht -- nicht deshalb, weil man sich davon einen unmittelbaren parteitaktischen Vorteil verspricht, sondern weil eine Partei ihre staatspolitischen Vorstellungen durchsetzen will.
SPIEGEL: Trotzdem ist im Parteivolk beträchtliche Unzufriedenheit spürbar. Sechs Bezirksverbände fordern einen außerordentlichen Parteitag. Das hat es in den 17 Jahren, in denen die SPD Bonner Opposition war, nicht gegeben. Das geschieht ausgerechnet ein halbes Jahr, nachdem Ihre Partei in die Bundesregierung eingetreten ist. Warum will die SPD-Führung eigentlich keinen Sonderparteitag?
* Mit SPIEGEL-Redakteur Hans-Roderich Schneider (l.) und SPIEGEL-Reporter Hermann Schreiber in der Residenz des deutschen Botschafters in Luxemburg während einer Verhandlungspause der Nato-Ministerrats-Konferenz.
BRANDT: Ich habe mich im Frühjahr selbst gefragt, ob nicht der Vorstand einen außerordentlichen Parteitag einberufen sollte. Aber man muß sich auch fragen: Was soll der Inhalt sein, wenn man nicht bloß in Betriebsamkeit machen will? Es braucht eine bestimmte Zeit, neue Erfahrungen zu verarbeiten. Außerdem sind es nur ganz vereinzelte Stimmen, die nach einem Parteitag mit dem Thema Große Koalition rufen. Den anderen geht es ja um Notstand und Wahlrecht.
SPIEGEL: Dem Vorsitzenden Ihres größten Bezirksverbandes Westliches Westfalen, Werner Figgen, geht es aber um die Große Koalition. Er stellt zum Beispiel die Frage, warum der Parteivorstand nicht sofort repliziert habe, als Franz-Josef Strauß auf dem CDU-Parteitag in Braunschweig sagte, die SPD sei nur deshalb regierungsfähig geworden, weil sie sich der Politik der CDU endgültig angepaßt habe.
BRANDT: Dazu ist zunächst festzustellen, daß diejenigen, die sich mit uns journalistisch befassen, einer solchen Äußerung von Strauß mehr Raum gewahren als dem, was darauf geantwortet wurde.
SPIEGEL: Was wurde geantwortet?
BRANDT: Daß Herr Strauß viel zu intelligent ist, als daß er geglaubt haben könnte, was er dort gesagt hat, und daß der bajuwarische Parteiführer mit dem Bundesfinanzminister durchgegangen ist. Denn der Bundesfinanzminister Strauß war ja dabei, als im November vorigen Jahres klargelegt wurde, daß es mit dem Staatshaushalt und den Staatsgeschäften nicht so weitergehen konnte wie unter Ludwig Erhard. Wenn das so gewesen wäre, wie Strauß es in Braunschweig gesagt hat, dann wäre keine neue Regierung gebildet worden.
SPIEGEL: Was immer erwidert worden ist, Herr Brandt, es hat offensichtlich nicht hingereicht, die Profilneurose zu heilen, an der jetzt auch Ihre Partei erkrankt zu sein scheint. Soll sich die SPD in der Großen Koalition denn nun profilieren oder nicht? Offenbar herrscht darüber auch in der Parteispitze keine Einigkeit.
BRANDT: Das Programm der neuen Bundesregierung ist im Dezember durch die Vorstellung der SPD wesentlich mitgeprägt worden. Die Schwerpunkte dessen, womit die SPD hineingegangen ist, sind Wirtschaftspolitik, Außenpolitik, gesamtdeutsche Politik. Gerade auf diesen Gebieten sind die Sozialdemokraten an den Entscheidungen der Bundesregierung maßgeblich beteiligt. Und wenn sie im Rahmen dieser Regierung Erfolg haben werden, dann werden sie ihren Anteil auch deutlich zu machen verstehen. Das ist die eigentliche Auseinandersetzung. Und nicht das Herumgetue am vermeintlichen Profil der SPD.
SPIEGEL: Aber wie wollen Sie Ihren Anteil am Programm der Regierung Kiesinger denn deutlich machen? Denken Sie nur einmal an die Regierungserklärung. Der Kanzler erwähnt sie nie ohne das besitzanzeigende Fürwort. Er sagt immer: meine Regierungserklärung.
BRANDT: Sicherlich, wenn man es mit einer so neuen Schlachtordnung zu tun hat, dann dauert es einige Zeit, bis man sich an sie gewöhnt hat. Trotzdem: Erst muß man etwas geleistet haben, bevor man sinnvoll darüber streiten kann, wer daran den entscheidenden Anteil gehabt hat. Die Menschen draußen im Lande interessieren sich heute in erster Linie dafür, ob die Angst um den Arbeitsplatz aufhört und ob wir außenpolitisch wieder etwas Boden unter die Füße bekommen. Das interessiert sie im Augenblick mehr als der Streit um Parteianteile. Wenn die Regierung erst mal mehr vorzuweisen haben wird, dann werden die Leute auch Interesse dafür zeigen, welche Partei was dazu beigetragen hat.
SPIEGEL: Nehmen wir doch das Beispiel Ihres eigenen Ressorts, Herr Außenminister. Sie haben es mit einem außenpolitisch sehr interessierten und auch versierten Kanzler zu tun, der bei de Gaulle oder bei Johnson und sogar auf dem EWG-Gipfel in Rom am Schluß immer als der handelnde und entscheidende Mann in Erscheinung getreten ist.
BRANDT: Also, von Schluß kann ja nun weiß Gott noch nicht die Rede sein. Wir sind mitten drin, wir sind im Grunde erst am Anfang. Was das Erscheinungsbild des Bundeskanzlers angeht, so, glaube ich, bin ich nicht der richtige Gesprächspartner, das zu kommentieren. An sich ist es ja gut, wenn der Vorsitzende einer Regierung sich so darstellt, daß die Bevölkerung versteht, was gemeint ist. Im übrigen -- ich will hier nicht unken, aber dem Bundeskanzler und CDU-Vorsitzenden steht ja noch allerhand bevor, was mit der Eigenart seiner durch Interessengegensätze geprägten Partei zusammenhängt. Ich beneide ihn nicht darum.
SPIEGEL: Anfangs hatte man den Eindruck, daß Sie sich bewußt neben diesem Kanzler und mit ihm zusammen in Szene gesetzt haben. Jetzt hören wir, daß Sie diesmal den Kanzler nicht einmal mehr nach Amerika begleiten wollen.
BRANDT: Es ist nicht eine Frage des Wollens oder des Nichtwollens. Der Kanzler und ich haben eine generelle Vereinbarung getroffen, daß wir nur dann zusammen reisen, wenn es unbedingt erforderlich ist, und wir waren zu dem Ergebnis gekommen, daß es nicht erforderlich sei, diese Reise zusammen zu machen.
SPIEGEL: Sie kennen doch sicher das Bonner Bonmot, das Unglück dieser Regierung sei, daß wir einen Außenminister haben, der auch gern Kanzler wäre, und einen Kanzler, der auch gern Außenminister wäre.
BRANDT: (schweigt amüsiert).
SPIEGEL: Was wir meinen, ist dies: Wer das Grundgesetz richtig gelesen hat, weiß doch, daß eine große Partei -- das war für die SPD die Frage im November 1966 -- selber den Kanzler stellen muß, wenn sie ihre Politik durchsetzen und dem Volk auf dem Fernsehschirm verkaufen will.
BRANDT: Die Frage, wie die SPD Ende vorigen Jahres hätte operieren sollen, die wird noch lange diskutiert werden. Die Partei hat so entschieden, weil sie zu dem Ergebnis gekommen ist, daß es anders keine tragfähige Mehrheit gegeben hätte. Sie kann nun mal nicht bei Koalitionsverhandlungen nachträglich eine Bundestagswahl gewinnen wollen. Die SPD sitzt nur -- nur in Anführungsstrichen -- mit 40 Prozent der Mandate in diesem Bundestag. Und diejenigen, die es mit ihrer Kritik mehr oder weniger gut meinen mit der SPD, sind unzufrieden mit dem neuen Erscheinungsbild, nicht wahr? Hatten sie sich nicht nur an das Vertraute gewöhnt, nämlich an die SPD in Opposition?
SPIEGEL: Aber nein, Herr Brandt, diese Leute wollten die SPD in der Regierung sehen und die CDU in der Opposition.
BRANDT: Ja? Bloß das schaffen sie weder mit dem SPIEGEL noch sonst mit Zeitungen, das schaffen nur die Wähler in einer Bundestagswahl -- oder sie schaffen es nicht.
SPIEGEL: Aber hieß die Frage unter diesen Umständen nicht: Sollte die SPD überhaupt in die Regierung? Oder mußte nicht die CDU allein die Suppe auslöffeln, die sie dem Lande eingebrockt hatte?
BRANDT: Das hätte ich mal sehen mögen, wie die Leute dann über uns hergefallen wären! Solche Suppen, zu deren Ingredienzen die Angst um den Arbeitsplatz, zerrüttete Staatsfinanzen und die Gefahr außenpolitischer Isolierung gehören, werden nicht von wenigen ausgelöffelt, sondern sie werden dem Volk in seiner Gesamtheit vorgesetzt. Das ist halt so, egal ob einem das auf kurze Sicht mehr Stimmen bringt oder nicht: Die SPD ist dazu da -- so versteht sie sich -, Schaden abwenden zu helfen von den Menschen.
SPIEGEL: Also das Staatswohl war das Hauptmotiv? Ihr Parteifreund Wehner hat damals gemeint, die SPD wäre zerbrochen, hätte sie noch länger in der Opposition bleiben müssen.
BRANDT: Das habe ich nicht gehört.
SPIEGEL: Sie würden es jedenfalls nicht so gesagt haben?
BRANDT: Also, ob das nun als Vorteil oder als Nachteil gewertet wird: Die SPD hält eine Menge aus.
SPIEGEL: Erheischt das Staatswohl nicht vielmehr die Wachablösung, damit man sich in diesem Land endlich daran gewöhnt, daß nicht immer nur die CDU die Regierung führt?
BRANDT: Das ist sicher richtig. In gewisser Hinsicht hatten wir im Dezember eine Wachablösung. Aber es hilft nichts, wenn die Wahlen 1965 nicht eindeutig ausgegangen sind.
SPIEGEL: Muß man daraus entnehmen, daß die SPD sich nun damit abfindet, der ewige Zweite zu sein?
BRANDT: Nein. Die Frage ist doch, wie die SPD möglichst viel anfangen kann mit dem politischen Gewicht, mit dem die Wähler sie 1965 ausgestattet haben -- bis diese Wähler sich 1969 neu entscheiden können.
SPIEGEL: Wie sollen die Wähler dann wohl imstande sein, sich zu entscheiden, wenn selbst in der SPD-Spitze der eine -- Helmut Schmidt -- Wahlkämpfe für eine Auseinandersetzung mit der CDU hält, während der andere -- Herbert Wehner -- darin nur eine lästige Gefährdung des schwarzroten Koalitionsfriedens erblickt?
BRANDT: Wenn Sie anspielen auf leichte Nuancen in der Ausdrucksweise -- das sind mehr Temperamentsfragen als Fragen der politischen Grundhaltung. Wir sind halt nicht alle gleich.
SPIEGEL: Wir spielen an auf eine Äußerung, die Wehner wörtlich so getan hat: »Die SPD muß über den Schatten ihrer Unzufriedenheit mit der Rolle des oft ungerecht behandelten Zweiten springen.« Das kann doch eigentlich nur heißen: Die SPD muß sich also mit dieser Rolle abfinden.
BRANDT: Das kann man auch genau andersherum sehen. Aber über die Interpretation, die mein Freund Wehner dem Vorgang gibt, über die muß man am besten mit ihm selbst reden. Ich spreche auf meine Weise ja schon die ganze Zeit in dieser Unterhaltung davon: daß man eben nicht durch irgendwelche Tricks aus 40 Prozent der Mandate 51 Prozent machen kann.
SPIEGEL: Aber mit dem Trick der Großen Koalition kann man auch keine 51 Prozent daraus machen. Die Aussichten der SPD für 1969 sind doch wirklich nicht ermutigend. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder die Große Koalition ist ein Erfolg, dann profitiert mit Sicherheit die CDU davon, weil sie den populären Kanzler Kiesinger hat. Oder die Große Koalition ist ein Mißerfolg, dann werden in Deutschland traditionell die Sozialdemokraten dafür verantwortlich gemacht.
BRANDT: Erst einmal: Die Große Koalition ist kein Trick. Und zum anderen sage ich bei Gesprächen und Diskussionen meinen Freunden draußen: Ich habe den größten Respekt vor kritischen Einwänden. Nur vor einem habe ich keinen Respekt; das Ist die Angst vor der eigenen Courage.
SPIEGEL: Nur leider lehrt die deutsche Geschichte, daß solche Courage der SPD nie honoriert worden ist: 1914 -- die Sozialdemokraten stimmen für die Kriegskredite und werden doch als »vaterlandslose Gesellen« behandelt. 1918 -- die Sozialdemokraten retten die Reichseinheit und bleiben doch die »Novemberverbrecher«. 1932 -- die Sozialdemokraten verhindern den Bürgerkrieg und werden doch von Hitler ins KZ gesteckt. Wenn man dies sieht, so fragt man sich, was wird 1969 der Lohn für die staatserhaltende Regierungsbeteiligung von 1966 sein?
BRANDT: Es Ist sicher so, daß ein Teil meiner Freunde sich mit einer gewissen Bitterkeit fragt: Wird es honoriert, wenn man in schwierigen Situationen staatspolitisches Denken höher stellt als Parteitaktik? Trotzdem sage ich: Für die SPD gibt es überhaupt keinen Grund zum Selbstmitleid. Sie ist eine Partei mit mehr Mitgliedern und Mandatsträgern als andere. Und unser politischer Einfluß ist nicht schwächer, sondern stärker geworden. Das wäre übrigens auch tödlich für die Große Koalition: Hochmut der CDU und Kleinmut der SPD.
SPIEGEL: Muß das nicht auch gelten für den Fall, daß die CDU/CSU 1969 die absolute Mehrheit zurückgewinnen sollte? Müßte die SPD, wenn es das Staatswohl immer noch erheischen sollte, nicht auch dann in der Regierung bleiben?
BRANDT: Ich halte es für viel zu früh, jetzt das Jahr 1969 zu diskutieren.
SPIEGEL: Eines ist aber heute schon sicher. Es wird 1969 ein neuer Bundespräsident gewählt werden. Gibt es Absprachen zwischen den jetzigen Koalitionspartnern, das Amt des Bundespräsidenten der SPD zu überlassen?
BRANDT: Nein. Ich möchte das nicht als eine Frage des Koalitionsverhältnisses ausgehandelt wissen. Aber ich hielte es für staatspolitisch richtig, wenn nach einem Freidemokraten und einem Christdemokraten ein Sozialdemokrat der nächste Bundespräsident würde.
SPIEGEL: Wer käme als SPD-Kandidat in Frage?
BRANDT: Darüber möchte ich jetzt noch nichts sagen.
SPIEGEL: Es gibt führende Leute in Ihrer Partei, die meinen, Sie selber sollten das höchste Amt im Staate erstreben. Wären Sie dazu bereit?
BRANDT: Nein.
SPIEGEL: Aber Sie sind immer noch der Meinung, Herr Minister, daß Ihre Partei im November 1966 richtig gehandelt hat, als sie sich entschloß, der CDU das Leben zu retten? Wir wissen, daß Sie damals im entscheidenden Augenblick gesagt haben: »Dann macht eben die Große Koalition aber ohne mich.«
BRANDT: Wissen Sie das so genau?
SPIEGEL: Ja. Von Ihnen selbst.
BRANDT: Das ist dann allenfalls eine ganz persönliche Frage gewesen. Und das muß ja erlaubt sein, daß jemand, der eine Aufgabe hatte, die ja auch nicht gering war, sich fragt: Wie verhält sich eine neue Verantwortung in der Bundesregierung zur bisherigen Tätigkeit und zum Parteivorsitz der SPD? Aber nach einer Aussprache mit meinen Freunden habe ich mich entschieden, für die Mitarbeit in der neuen Regierung zur Verfügung zu stehen.
SPIEGEL: Wenn jetzt noch mal November 1966 wäre, würden Sie dann wieder sagen: Macht es ohne mich?
BRANDT: Nein. Im übrigen habe ich mir längst abgewöhnt, solche Fragen mir selbst zu stellen und auf sie zu antworten. Wenn ich mal dazu komme, meine Memoiren zu schreiben, dann werde ich vielleicht auf solche Fragen antworten.
SPIEGEL: Dürfen wir den Vorabdruck übernehmen?
BRANDT: Ich habe mir angewöhnt, Dinge hinter mir zu lassen. Man hat nicht für alles Kraft. Ich konzentriere meine Kraft auf das, was unmittelbar ansteht und was vor einem liegt, und nicht auch noch darauf, alle früheren Entscheidungen -- richtige und falsche, kluge und weniger kluge -- immer noch mal nachzuvollziehen.
SPIEGEL: Herr Vizekanzler, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.