»Man kann nicht in jeden reingucken«
Fallschirmjäger Conrad Ahlers wies den ungedienten Willy Brandt in die Krisen Jage ein. »Herr Bundeskanzler, das ist genauso wie bei jedem Nato-Manöver. Die hören auch immer dann auf, bevor die erste Atombombe gezündet wird. Denn was danach kommt, weiß keiner.«
Die Lage: Am Montag nahm Schillers Steuer-Staatssekretär Heinz Haller seinen Abschied, weil er sich mit seinem Dienstherrn überworfen hatte. Am Dienstag desertierte der SPD-Abgeordnete Herbert Hupka zur CDU/CSU-Opposition, weil er Brandts Ostpolitik nicht mehr mitmachen wollte. Am Mittwoch drohte Karl Schiller mit seinein Rücktritt, weil SPD-Genossen und FDP-Partner dem überforderten Doppelminister das Scheitern der zum Jahrhundertwerk hochgelobten Steuerreform anlasteten. Am Donnerstag kündigte FDP-Baron Knut von Kühlmann-Stumm öffentlich Widerstand gegen die Ostverträge an. weil seine Bedenken bislang nicht ausgeräumt seien.
In Bonn fanden keine Manöver statt, in Bonn war der Ernstfall eingetreten. Brandt konnte die Bombe nicht mehr entschärfen:
* Zwar mahnte der Kanzler am Freitag vor der SPD-Fraktion Genossen zu »Loyalität und Solidarität«, aber der Bruch zwischen Schiller und seinen vom Rivalen Helmut Schmidt angeführten Gegnern im Kabinett ist nicht mehr zu kitten, die Reform nicht mehr zu retten (siehe Seite 24);
* zwar beschwor Brandt die Fraktion zu »Entschlossenheit und Geschlossenheit«, aber nur Stunden später verließ am Freitagabend als nächster SPD-Abgeordneter Franz Seume die Partei.
Kanzler Brandt war es nicht gelungen, die schleichende Krise aufzuhalten. Die Kluft zwischen Schiller und Schmidt scheint unüberbrückbar, die Fronten zwischen den verunsicherten Sozialdemokraten und den profilneurotischen Freidemokraten verhärten sich. Die für die Ostverträge unabdingbare Mini-Mehrheit von nur noch einer Stimme ist nicht mehr sicher. Hinter den Deserteuren Hupka und Seume wartet eine Dissidentengruppe darauf, aus dem Regierungslager auszuscheren.
Als letzter Ausweg aus dem scheinbar ausweglosen Dilemma boten sich letzte Woche für Regierung und Opposition risikoreiche Operationen an:
Die Regierung kann Neuwahlen zum Deutschen Bundestag ansteuern, die von den Wahlkämpfern als Plebiszit über die Ostverträge verkauft und der SPD/FDP-Koalition eine breitere Basis im Parlament schaffen könnten -- Optimisten rechnen bei einer Ad-hoc-Wahl mit einem Plus von 20 Mandaten. Kanzler Brandt liefe freilich Gefahr, in eine schwierige Auseinandersetzung um Preise und Löhne verstrickt zu werden.
Die Opposition hat die Chance, mit einem »konstruktiven Mißtrauens-Votum« (siehe Kasten Seite 22) ohne Bundestagswahlen einen Kanzler Barzel zu installieren, der freilich auch mit einer instabilen Mehrheit regieren müßte; mißlangt der Coup, müßten sich die Christdemokraten auf eine auch für sie ungewisse Wahl einlassen.
Verdichtet hatte sich die Krise in Bonn aus einem Gemisch von Enttäuschung, Mißerfolg und Fatalismus.
Enttäuscht waren Genossen und Liberale über das Unvermögen ihrer Regierenden, die allzu leichtfertig versprochenen Reformen zu verwirklichen, und über die Abgänge von Bildungsminister Hans Leussink und Steuerstaatssekretär Heinz Haller, die das Scheitern offen anzeigen.
Als Mißerfolge mußten sie sich anrechnen lassen, daß die Inflationsrate inzwischen mit 5,8 Prozent um knapp zwei Prozent über dem Sparzins liegt, daß Mitte des Jahres abermals die Postgebühren drastisch steigen und das Benzin um 4,5 Pfennig teurer geworden ist.
Und resigniert haben sich Sozial- und Freidemokraten schon jetzt damit abgefunden, »daß die baden-württembergischen Landtagswahlen am 23. April, letzter Test für »die Regierung Brandt! Scheel vor den turnusmäßigen Bundestagswahlen 1973, nicht mehr zu gewinnen sind.
Nur in dieser Atmosphäre konnten der Abschied von einer Reform -- an die seriöse Steuerpolitiker schon lange nicht mehr geglaubt hatten -- und der Abgang des sozialdemokratischen Berufsvertriebenen Herbert Hupka, mit dessen Ja-Stimme zu den Ostverträgen auch seit langem niemand mehr rechnete, die Regierung in ihren Grundfesten erschüttern.
Schon seit Wochen hatte der Schlesier an die Türen der Schwarzen geklopft. In seinem ultra-rechten Landsmann Heinrich Windelen, Chef der »Deutschen Stiftung für europäische Friedensfragen«, in dessen Kuratorium Hupka sitzt, glaubte der Überläufer seinen V-Mann gefunden zu haben. Doch zunächst noch wiegelte Windelen ab: »Ich habe ihn darin bestärkt und ihn ermutigt, lieber in der SPD-Fraktion seine Arbeit zu tun.«
Noch war den christdemokratischen Ostvertragsgegnern ein Hupka, der als SPD-MdB auf Vertriebenenkundgebungen, in Löwenthals schwarzem Kanal und selbst in Franz Josef Straußens »Bayernkurier« über die Ostpolitik der eigenen Regierung herzog, lieber als eine weitere Stimme im eigenen Chor der Nein-Sager, lieber als ein zweiter Mende.
Er schien der Opposition um so wertvoller, als er zusammen mit den anderen SPD-Vertragskritikern Willy ("Karlchen") Bartsch und Franz Seume, Informanten des koalitionsfeindlichen »Axel-Springer-Inlandsdienstes« (ASD), sowie dem absprungverdächtigen Münchner SPD-Rechtsausleger Günther Müller Sitz und Stimme in dem für die Parlamentsberatungen der Ostverträge federführenden Auswärtigen Bundestagsausschuß hatte. Sein Marktwert als ketzerischer Sozialdemokrat fiel, als die SPD nach der Enttarnung der ASD-Lieferanten Bartsch und Seume erkennen ließ, daß sie den Ausschuß alsbald umbesetzen wollte.
Ende vorvergangener Woche bereitete sich Hupka auf den Absprung vor. Mit den CDU-Freunden vereinbarte er den sofortigen Übertritt zur Christenunion für den Fall seiner Abwahl aus dem Ausschuß und entwarf Presse-Erklärungen, mit denen er sein Überlaufen als Gewissenstat ausgeben wollte. Hupkas Schwierigkeit: sich als Gewissenstäter zu gerieren. obwohl die SPD-Spitze zwei Ausschlußverfahren gegen den Parteischädling abgewürgt und Kanzler Brandt wie Fraktionsgeschäftsführer Karl Wienand dem Berufsvertriebenen das Nein in der Schlußabstimmung des Bundestags konzediert hatten.
Doch der auf Frontbegradigung drängende Wehner lieferte dem Fahnenflüchtigen den willkommenen Vorwand. Zwar hatte die Fraktionsspitze eine Reihe behutsamer Disziplinierungsmaßnahmen gegen die Vertrags-Skeptiker im Ausschuß erwogen -- von der Degradierung zu Stellvertretern bis zu zeitweiliger Suspendierung. Aber als der SPD-Fraktionsvorstand am Montagnachmittag letzter Woche zusammentrat, suchte Wehner den Konflikt. Er verordnete die Abwahl Hupkas, Bartschs und Seumes aus dem Auswärtigen Ausschuß und zog sich -- das Alltägliche des Vorgangs demonstrierend -- gleich selber mit zurück.
Opponenten, wie dem Berliner Altgenossen Kurt Mattick, der sich für Bartsch, seit 49 Jahren SPD-Mitglied, eingesetzt hatte, schnitt der Vorsitzende Wehner das Wort ab: »Ich trage die Verantwortung, und ich weiß, was ich tue.« Der Mitverdächtige, aber von der Abwahl verschonte Günther Müller höhnte: »Da saßen gleich alle unterm Tisch, und keiner traute sich mehr, was zu sagen.
Selbst der betroffene Hupka -- im Geiste schon weggetreten -- muckte nicht auf: »Herbert, es wird wohl keiner erwarten, daß ich dafür Beifall klatsche.« Wehner kurz: »Das ist verständlich.«
Beim Abendbrot offenbarte Hupka seiner Ehefrau Eva den Entschluß, ins andere Lager überzuwechseln. Seine Genossen ließ er anderntags noch im ungewissen. Erst als Wehner bei der Fraktionssitzung am Dienstagnachmittag für Hupkas Abwahl plädierte. drohte der Abgeordnete düster, er wolle die Konsequenzen ziehen, und packte seine Sachen zusammen.
Obwohl der Koalition mit Hupkas Weggang keine Ostvertragsstimme verlorengegangen war, kam zum erstenmal offener Unmut über Herbert Wehners »einsame Strategie« (SPD-MdB Günter Wichert) auf. Der Fraktionschef habe mit der vermeidbaren Hupka-Exekution dem Abgänger einen Vorwand für seine »größte Lumperei« (SPD-Bundesgeschäftsführer Holger Börner) geliefert. SPD-MdB Kurt Mattick: »Wenn wir vorsichtiger taktiert hätten, könnte Hupka jetzt nicht schreien, er sei von uns mundtot gemacht worden.«
Wenngleich Wehner nur »klare Verhältnisse« (Börner) hatte schaffen wollen, so wurde das Regierungslager dennoch von einem nicht mehr kalkulierbaren Psychoschock getroffen. Von rechts bis links muckten Sozialdemokraten gegen ihren barschen Zuchtmeister auf, der sie daran gewöhnt hatte, ihn für unfehlbar zu halten.
Rechtsaußen Günther Müller motzte: »Bei uns in der Fraktion gibt es immer mehr Verärgerung über Wehners autoritären Führungsstil.« Der halbrechte Hermann Schmitt-Vockenhausen maulte: »Die große Zeit des großen Strategen ist vorbei.« Altgenosse Mattick jammerte alten Fraktionszeiten nach: »Unter Erler und Schmidt war das ganz anders. So kann es nicht weitergehen mit dem Herbert.«
Und der linke Junggenosse Wichert hat den Respekt vor dem alten Mann verloren: »Ich halte ihn nicht für senil, aber sein Führungsstil ist antiquiert. Die Mehrheit ist gegen sein Regiment, aber sie wird nicht meutern.«
Die Unruhe an der Basis ist um so größer, weil die Genossen nicht wissen, ob ihr gestrenger Herbert ungewollt ein lebensgefährliches Abbröckeln der linksliberalen Mehrheit ausgelöst oder ob er den Sturz der Regierung Brandt/ Scheel bewußt einkalkuliert hat, um über Neuwahlen das Fundament der Koalition zu verbreitern und zu festigen.
Ob gewollt oder ungewollt, Hupkas Abtritt hat einen Erosionsprozeß in den Fraktionen von SPD und FDP beschleunigt, den das Koalitions-Establishment gestoppt zu haben wähnte.
Die Mehrheitskalkulation der Regierungsparteien kam richtig durcheinander, als sich der FDP-Baron Knut von Kühlmann-Stumm unmißverständlich am Donnerstag von den Verträgen distanzierte. Der hessische Edelmann, der Entscheidungen je nach Gemütslage zu treffen pflegt, hatte der Fraktion ursprünglich versichert, er werde seine Gegnerschaft zu der Ostpolitik Brandt/ Scheel hintanstellen, wenn es eine befriedigende Berlin-Regelung gebe, im übrigen aber der Koalition treu bleiben.
Vor heimischen Parteifreunden im hessischen Schlüchtern brüstete sich der millionenschwere Schafzüchter und Industrielle, den die Fraktion stets als Ehrenmann in Schutz genommen hatte, er habe sich schon 1969 gegen die Wahl des Sozialdemokraten Heinemann zum Bundespräsidenten gewandt und auch den Sozialdemokraten Brandt nicht mitgewählt.
Erst jüngst machte er in einer Runde im Schlüchterner Restaurant »Acissbrunnnen« keinen Hehl aus seinen parteipolitischen Präferenzen: »Diese Koalition ist nicht meine Koalition.« Franz Josef Strauß. stets auf Lauer, bot dem Hessen, der auch ein Gut im bayrischen Bad Kohlgrub besitzt, den Übertritt zur CSU an.
Um so erstaunter registrierten die Oppositionellen, als Kühlmann während der Ostdebatte des Bundestages der Rede Helmut Schmidts demonstrativen Beifall zollte. Doch schon sieben Tage später. 48 Stunden nach Hupkas Coup, war es an der Koalition. sich über Kühlmann zu wundern. Der in seinen Reaktionen nun nicht mehr Berechenbare bestätigte eine Meldung der »Stuttgarter Nachrichten«, wonach auf sein Ja nicht mehr zu zählen sei.
Die Koalitionsrechner mußten ihre Strichliste von 250 sicheren Ja-Stimmen zu den Ostverträgen -- eine mehr als erforderlich auf 249 korrigieren. Die Alarmgrenze war erreicht.
Was die Kalkulatoren in Kanzleramt und SPD-Parteibaracke nicht wissen konnten: Strauß war schon vor dem Hupka-Übertritt auf dem besten Weg, die Koalitions-Bilanz in die roten Zahlen zu treiben. An unbekanntem Ort, so streuten seine Büchsenspanner. habe er sich mit dem SPD-Spezi Günther Müller zu Verhandlungen getroffen.
Der Abgeordnete, der damit rechnen muß, von den Sozialdemokraten nicht mehr für den Bundestag aufgestellt zu werden, soll von dem CSU-Führer als Preis für seinen Übertritt eine politische Überlebensgarantie gefordert haben. Die CSU solle ihm zuvor einen sicheren Wahlkreis zuschanzen. Müllers Bedingung: Er dürfe auf keinen Fall mit dem Wahlkreis 207 München-Süd abgefunden werden, den er bisher für die SPD gehalten hat. Er befürchtet nämlich, sein bisheriger CSU-Gegenkandidat Erich Riedl werde ihn bei der Kandidaten-Aufstellung abhängen. Strauß konnte noch keine Zusagen machen.
Nach außen war Müller letzte Woche vertragskonform und SPD-loyal. Bonner Journalisten versuchte er auf andere Fährten abzulenken: »Ich weiß noch von zwei FDP-Leuten, einer will bei der Schlußabstimmurig über die Verträge fehlen. Einer war schon bei Strauß.« Und auch für den künftigen Zusammenhalt der SPD-Fraktion wollte sich Müller nicht mehr verbürgen. Der Bayer orakelte: »Da weiß man nie, ob nicht noch einer abschwirrt.«
Auf wen Stimmenfänger Strauß es noch abgesehen hat, wußten nicht einmal die Mitglieder des engeren CDU/CSU-Fraktionsvorstandes, die am vergangenen Montagabend in Rainer Barzels Godesberger Eigenheim den bevorstehenden Übertritt Hupkas begossen.
Einer fehlte bei der Feier. Franz Josef Strauß verhandelte zur selben Stunde mit einem weiteren potentiellen Dissidenten. CSU-MdBs tippen darauf, ihre Reihen könnten sich bald um den FDP-Abgeordneten Wilhelm Helms, Landwirt aus dem niedersächsischen Bissenhausen, vermehren, mit dem im weiteren Verlauf der Woche auch der in Abwerbungs-Geschäften beschlagene CSU-MdB und Rechtsanwalt Hermann Höcherl Geheimgespräche führte.
Die Oppositionellen setzen trotz eines Dementis darauf, daß nach einem freidemokratischen Wahldesaster in Baden-Württemberg zumindest noch ein zweiter FDP-Abgeordneter, der Agrar-Ingenieur Georg Gallus, aus dem württembergischen Hattenhofen seiner Fraktion den Rücken kehren wird. Einigen gilt gar der Kasseler Bauunternehmer und FDP-Abgeordnete Richard Wurbs als möglicher Dissident.
CSU-Landesgruppengeschäftsführer Leo Wagner: »Man muß sehen, wie es in Baden-Württemberg läuft. dann sieht die Welt schon ganz anders aus.« Und Höcherl-Gehilfe Eduard Schlipf frohlockte bereits: »Ich zähle nicht mehr 249 Ja-Stimmen, auch nicht 248, sondern nur noch 247.«
SPD-Hinterbankanführer, Deutschlandminister Egon Franke, sinnierte traurig: »Man kann nicht in jeden reingucken.«
Geschockt mußten Sozial- und Freidemokraten zur Kenntnis nehmen, daß ein Kernstück ihrer Politik -- die Aussöhnung mit dem Osten -- im Parlament zu scheitern droht.
In ihrem Zweifel an der Standhaftigkeit des eigenen Lagers schauen nun eine Reihe von Sozialdemokraten hilfesuchend zur Opposition. Sie hoffen darauf, daß es der Regierung gelingt, die entscheidenden Bedenken der CDU/CSU in den Bundestagsausschüssen zu mindern und so einen Einspruch der CDU/CSU-Mehrheit im Bundesrat abzuwenden. Damit würde im Bundestag die einfache Mehrheit, gegebenenfalls weniger als 249 Stimmen, für die Ratifizierung ausreichen.
ihr verzweifeltes Kalkül gründet sich auf den Mainzer CDU-Premier und Barzel-Rivalen Helmut Kohl, der als heimlicher Befürworter der Ostverträge gilt. Tatsächlich zeigte sich der CDU-Vize unlängst nach einer mehrstündigen Unterredung mit Brandts Ost-Denker Egon Bahr in Mainz beeindruckt. Aus Gründen der Parteiräson und mit Rücksicht auf die eigene Karriere wird sich der Mainzer im Bundesrat jedoch kaum eine eigene Meinung leisten.
Schon konkreter sind die Erwartungen anderer Genossen, daß schließlich doch noch ein oder zwei Christdemokraten in der entscheidenden Abstimmung aus der Nein-Front ihrer Fraktion ausbrechen und den Verträgen über die Hürden helfen könnten. Ihre Erwartungen konzentrieren sie auf den Gewerkschaftler Adolf Müller aus Remscheid, der kürzlich im DOB-Bundesausschuß einer Entschließung für die Ost-Abmachungen zugestimmt hatte. Auch der Soester Rechtsanwalt Ernst Majonica, einst außenpolitischer Experte der CDU/CSU, würde dem Abkommen am liebsten zustimmen. Doch die Furcht vor Partei-Repressalien wird wohl beide von einem positiven Votum abhalten.
Der Koalitions-Misere, die sich in Spekulationen auf CDU-Hilfe enthüllt, wollen vor allem jüngere SPD-Abgeordnete mit einer Durchmarsch-Strategie begegnen. Zu ihrem Vorreiter machte sich Günter Wichert. Unverhohlen sprach er aus, was das Establishment noch in internen Zirkeln erörterte: »Der strategische Konflikt um die Ostverträge ist besser als der Streit um Reformprojekte, die nicht gekommen sind.«
Dazu noch stellte Helmut Rohde, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesarbeitsministerium, beim Studium der Wahlhistorie fest, gingen in den letzten Jahren vorgezogene Wahlen zum Vorteil der Amtierenden aus: 1966 in Großbritannien, 1970 in Niedersachsen und 1971 in Österreich.
Ende letzter Woche schlossen auch andere prominente Regierungs-Genossen erstmals seit Bestehen der SPD/FDP-Koalition eine vorzeitige Auflösung des Bundestags nicht mehr aus. Verteidigungsminister und SPD-Vize Helmut Schmidt glaubt zwar immer noch an eine Mehrheit für die Verträge, im Falle eines Scheiterns aber ist auch er dafür, die Wahlbürger an die Urnen zu rufen. Und SPD-Kanzler Brandt ist entschlossen, das Schicksal seiner Regierung an die Ostverträge zu binden. Er will entweder die 2. Lesung am 3. und 4. Mai mit der Vertrauensfrage verbinden oder aber den nach einem eventuellen Einspruch des Bundesrats fälligen dritten Durchgang.
Im Bundeskanzleramt gab Minister Ehmke seinen Experten Weisung, den Eventualf all zu Neuwahlen durchzuspielen. Und in der Bonner SPD-Baracke trat am Freitag letzter Woche die »Arbeitsgruppe 72/73« zusammen, die vor einiger Zeit gebildet worden war, um die Routine-Wahl vom Herbst 1973 zu planen. Nun soll das Team, dem SPD-Fraktionschef Herbert Wehner, NRW-Ministerpräsident Heinz Kühn, Münchens OB Hans-Jochen Vogel, SPD-Geschäftsführer Holger Börner und sein Vorgänger Hans-Jürgen Wischnewski angehören, mit den Vorbereitungen für einen Wahlkampf aus dem Stand beginnen.
Die Strategie liegt in den Grundzügen fest: Nobelpreisträger Willy Brandt soll als Friedenskanzler vor das deutsche Volk treten und um ein neues Mandat bitten, damit er seine Ausgleichs-Politik fortführen und vollenden könne. Für den Wahlfall empfiehlt Brandt-Stellvertreter Schmidt, die Spanne zwischen Parlamentsauflösung und Wahltag so kurz zu halten, daß es der Opposition schwerfällt, das von der Regierung diktierte Zentral-Thema Ostpolitik durch andere -- für die Regierung peinliche -- Themen zu ersetzen. Sein Tip: Vier Wochen sind genug.
Noch zögerte freilich der Koalitionspartner FDP. Die Liberalen fürchten, beim Kampf der beiden Großen auf der Strecke zu bleiben. Scheels Freidemokraten sind derzeit weder organisatorisch noch finanziell auf einen vorzeitigen Wahlkampf eingerichtet. Außerdem sorgen sie sich, daß ihr Anteil an der Ostpolitik dem Wähler nicht genügend deutlich zu machen sei.
Dennoch versucht auch FDP-Generalsekretär Karl-Hermann Flach, für seine Partei in aller Eile ein Wahlkonzept zu entwerfen. Die Hauptlast müßte der populäre Außenminister Walter Scheel tragen, von dem freilich, wie Demoskopen ermittelten, viele Wähler nicht wissen, daß er Freidemokrat ist. Ein Huckepack-System, bei dem die Sozialdemokraten ihrem jetzigen Koalitionspartner über drei sichere Wahlkreise wieder in den Bundestag verhelfen könnten, lehnt Flach ab: »Wir werden das allein schaffen. Wir begeben uns sonst in die totale Abhängigkeit von der SPD.«
Oppositionsführer Rainer Barzel kämen vorzeitige Wahlen ganz ungelegen. Er will einen plebiszitären Wahlkampf über Brandts Ostpolitik vermeiden, der die CDU/CSU in die Offensive zwingen würde, zumal er aus Meinungs-Umfragen weiß, daß sich die Union mit ihrer Ablehnung der Ostverträge nicht auf eine Mehrheit in der Bevölkerung stützen kann.
Die Union will deshalb versuchen, die Schwäche der Koalition auszunutzen und ohne Neuwahlen einen Bundeskanzler zu küren. Möglichkeit dazu bietet ihr das konstruktive Mißtrauensvotum, mit dem sie -- nach dem erwarteten Übertritt weiterer Koalitions-Abgeordneter -- Kanzler Brandt stürzen kann. Selbst wenn weitere Überläufer ausbleiben, kann die Opposition auf einen Mißtrauens-Erfolg hoffen. Spart sie die Barzel-Wahl für den Tag nach einem gescheiterten Vertrauens-Antrag auf, dann könnte sie die Auflösung des Parlaments blockieren.
Führende SPD-Parlamentarier haben inzwischen die Gefahr eines solchen Manövers erkannt. Bei der im Gegensatz zur offenen Entscheidung über die Ostverträge geheimen Kanzlerwahl des konstruktiven Mißtrauensvotums könnten, so fürchtet der SPD-Bundestags-Vizepräsident Hermann Schmitt-Vockenhausen. »drei bis vier Freidemokraten verdeckt für einen CDU-Kanzler stimmen«.
Bei den Gefahren, die Neuwahlen für die liberale Partei mit sich bringen, könnte vor allem für jene FDP-Parlamentarier, die von ihrer Partei bei Neuwahlen kein Mandat mehr erhalten, die Versuchung übermächtig werden, unerkannt ihre Diäten bis zum Ende der Legislaturperiode sicherzustellen.
Der Vorteil für Rainer Barzel: Er wäre schon mehr als ein Jahr vor dem Routine-Wahltermin Bundeskanzler und könnte den Wahlkampf 1973 mit der Autorität des Regierungschefs führen, hätte Staatsapparat sowie Bundespresseamt in der Hand und könnte sich überdies der bundeseigenen Jet- und Hubschrauberflotten bedienen.
Freilich ist sich der CDU-Führer nicht sicher, ob die parteipolitischen Vorteile jene außenpolitischen Konsequenzen wettmachen können, denen sich ein vorzeitig gewählter Kanzler Barzel auf den Trümmern der Ostverträge gegenübersähe.
Doch wo Barzel noch zögert -- »ich bin mir durchaus der Schwierigkeit bewußt, mit zwei oder drei Stimmen Mehrheit zu regieren« -, drängt CSU-Chef Franz Josef Stauß rücksichtslos auf totale Konfrontation.
Er führt hinter dem Rücken Barzels die Abwerbeverhandlungen, und er ist es auch, der sich nicht scheut, mit einem kompromißlosen »Nein« zur Ostpolitik einen Wahlkampf zu bestreiten.