»MAN MÜSSTE BLONDE WEIBER HABEN«
SPIEGEL: Der Berliner Jugendsenator Korber hat angeordnet, den Kinderladen »Rote Freiheit« zu schließen. Wollen Sie trotzdem weitermachen?
HOLZKAMP: Der Laden ist bereits seit zwei Monaten geschlossen, weil wir unser bisheriges Material kritisch sichten und für die weitere Planung des Projektes fruchtbar machen wollen. Die Wiedereröffnung war ohnehin jetzt noch nicht vorgesehen. Unter diesen Umständen können wir uns unsere Antwort an Herrn Korber sehr genau überlegen.
SPIEGEL: Können Sie überhaupt weitermachen, nachdem die Protokolle, die Niederschriften über den Tagesablauf, zum Teil veröffentlicht worden sind?
HOLZKAMP: Bei unseren weiteren Überlegungen wird in der Tat auch die Frage bedeutsam sein, wieweit die Fortführung unserer Arbeit nach der Kampagne gegen uns, die ja weite Teile der Öffentlichkeit erreicht hat, noch wissenschaftlich sinnvoll ist.
SPIEGEL: Warum sind Ihnen die »Schülerläden« so wichtig?
HOLZKAMP: Zwei Semester lang haben wir uns in einem Kolloquium mit Problemen der Familie beschäftigt, und dann hatten wir eines Tages das Gefühl, es reicht nicht, wenn wir nur darüber reden. Die Studenten haben gesagt: Wenn schon, dann mitten rein, und so hat es der Institutsrat denn auch beschlossen.
SPIEGEL: Mitten rein, wohin?
HOLZKAMP: Mitten rein in das Milieu. Das ist das Prinzip der teilnehmenden Beobachter, das in der Psychologie bisher allerdings selten angewandt worden ist.
SPIEGEL: Wie kamen Sie auf den Bezirk Kreuzberg?
HOLZKAMP: Es gibt ganz in der Nähe des Ladens, den wir da gemietet haben, die Naunynstraße, das ist wohl die kinderreichste Straße Europas.
SPIEGEL: Wie sind die Kinder zu Ihnen gekommen?
HOLZKAMP: Erst haben wir es über die Schulen versucht, das funktionierte nicht. Dann haben wir Hausbesuche gemacht, und dann haben wir Zettelchen verteilt: an die Kinder, an die Eltern.
SPIEGEL: Welche Erfahrungen haben Sie mit den Eltern gemacht? Sie haben einmal von Desinteresse gesprochen.
HOLZKAMP: Man muß sich klarmachen, daß die meisten Eltern der Kinder des Schülerladens schwer arbeiten und in räumlich sehr beengten, bedrückenden Verhältnissen leben müssen. Unter diesen Umständen ist es nicht verwunderlich, daß es sehr schwer sein muß, die Eltern zur Mitarbeit im Schülerladen, die eine zu-
* Mit SPIEGEL-Redakteuren Wolfgang Becker (l.) und Ulrich Leisner.
sätzliche Belastung für sie darstellt, zu gewinnen.
SPIEGEL: Auch deutsche Arbeiter erziehen ihre Kinder heute bürgerlich oder autoritär. Kann man Kinder ändern und die Eltern so lassen, wie sie sind?
HOLZKAMP: Das ist eine überaus wichtige Frage. Wie Sie ja wissen, ist es nach wie vor unser Konzept, mit den Eltern zusammen zu arbeiten und ihnen unsere Arbeit verständlich zu machen. Die Frage, wieweit dies unter den gegebenen Umständen gelingen kann, ist eines der wesentlichen Probleme unserer Arbeit.
SPIEGEL: Wofür soll der Schülerladen ein Modell sein?
HOLZKAMP: Es handelt sich um den Versuch, ganz bestimmte Modelle der Bildungsforschung zu erproben, Gegenmodelle zu der gebräuchlichen Bildungsforschung, die bislang keine Notiz davon nimmt, daß in der Schule beispielsweise politische Sachverhalte immer noch auf ganz unrealistische Weise dargestellt werden.
SPIEGEL: Was heißt das konkret?
HOLZKAMP: Das heißt, man geht von einem harmonistischen Weltbild aus, von Begriffen wie Gemeinschaftsinteresse und Gemeinwohl -- Dingen, die in unserer Gesellschaft praktisch gar nicht bestehen. Die Kinder verfallen dann natürlich auch der Ideologie, daß jeder alles erreichen kann. Die Folge ist, daß jeder vor dem anderen als einer erscheinen muß, der alles schafft, und daß er verbergen muß, wenn er es nicht schafft.
SPIEGEL: Was soll Ihr Schülerladen daran ändern?
HOLZKAMP: Nicht gleich ändern. Es geht erst einmal darum, Verfahren zu erproben, wie man diesen vernachlässigten Sektor der politischen Bildung auffüllen könnte, wie man diesen Arbeiterkindern eine realistische Einschätzung ihrer Lage vermitteln kann.
SPIEGEL: Weiß man das als Psychologe nicht?
HOLZKAMP: Auch als Psychologe hat man von den Arbeiterkindern nur relativ abstrakte Vorstellungen. Aus unseren wissenschaftlichen Schulräumen sind wir da mit ziemlich unrealistischen Erwartungen hingekommen. Wir standen in unserem Laden und staunten.
SPIEGEL: Worüber?
HOLZKAMP: Über die Kinder, die ganz anders waren, als wir gedacht hatten, und über uns, die wir davon nichts wußten.
SPIEGEL: Haben die Kinder nicht auch gestaunt, als Sie ankamen?
HOLZKAMP: Aber ja, das war denen doch ganz neu, daß sie es plötzlich mit Studenten zu tun bekamen, die mit ihnen diskutieren, spielen, Schularbeiten machen ...
SPIEGEL: ... und sie politisch bearbeiten wollten.
HOLZKAMP: Nicht bearbeiten. Aber wenn man versucht, Kindern ihre Situation in der Familie, in der Schule, unter den Altersgenossen innerhalb dieser Gesellschaft verständlich zu machen, so hat das natürlich mit Politik schon einiges zu tun.
SPIEGEL: Wie haben Sie die Beziehung zu den Schulerfahrungen der Kinder hergestellt?
HOLZKAMP: Wir versuchen zum Beispiel, ein Lesebuch zu analysieren. Wissen Sie so ein Lesebuch, wo bei den Bauern immer die Sonne scheint und die Lerchen zwitschern. Dem kann man, gewissermaßen als Gegengeschichte, einen Landwirtschaftsbetrieb gegenüberstellen, wo die Leute ungeheuer um ihre Existenz kämpfen müssen, das heißt, der romantisierenden und verschleiernden Form die Realität gegenüberzustellen.
SPIEGEL: Das klingt manchen -- nicht uns -- schon zu sehr nach Klassenkampf. Wahrscheinlich ist Ihnen deshalb auch vorgeworfen worden, Sie wollten aus Kindern rote Revolutionäre machen.
HOLZKAMP: Es ist wohl ziemlich absurd, aus 8- bis 14jährigen Kindern Revolutionäre machen zu wollen. Abgesehen davon haben wir meines Erachtens gegenwärtig in der Bundesrepublik keine revolutionäre Situation. Die Einschätzung unserer Gesellschaft mit extremen Interessengegensätzen verschiedener Gruppen liegt aber natürlich der hier vertretenen theoretischen Konzeption zugrunde. Gerade um die Schaffung einer gerechten und humaneren Gesellschaft geht es ja.
SPIEGEL: Könnte es sein, daß der politische Akzent überbetont worden ist? Darauf deutet ja die selbstkritische Äußerung einer Studentin hin: »Wie dem Tonband zu entnehmen ist, habe ich mit den Kindern keine Diskussion geführt, sondern Agitprop betrieben.«
HOLZKAMP: Diese selbstkritische Äußerung wendet sich gegen politische Indoktrination, aber nicht gegen die Erweiterung der politischen Urteilsfähigkeit. Wir wollen nicht feststehende politische Meinungen verkaufen, sondern Möglichkeiten entwickeln, damit die Kinder sich auf vernünftige Weise selbst ein politisches Urteil bilden können.
SPIEGEL: Sind Sie Marxist?
HOLZKAMP: Ich bin kritischer Psychologe, wobei der kritisch-psychologische Ansatz von marxschen Denkweisen beeinflußt ist. Der Begriff Marxismus wird ja in sehr verschiedenen Bedeutungen und teilweise direkt gegen Marx verwendet. Das kann man hier wohl kaum ausdiskutieren.
SPIEGEL: In einer Pressekonferenz haben Sie gesagt, daß bei der Arbeit im Schülerladen Fehler gemacht worden sind. Welche?
HOLZKAMP: Fehler zu machen gehört sozusagen zu dieser Art von Arbeit, weil die Mitarbeiter teilweise die gleichen durch die Gesellschaft bedingten Schwierigkeiten haben wie die Kinder. Wir haben zum Beispiel das Ziel, Wettstreitverhalten in Richtung auf kooperatives Verhalten bei den Kindern zu verändern. Dennoch sind die Mitarbeiter manchmal selbst miteinander in Wettstreit geraten, etwa um die Gunst der Kinder. All solche Dinge waren dann kritisch abzubauen.
SPIEGEL: Ist nicht das Sexuelle zu sehr betont worden?
HOLZKAMP: Die Sexualität ist bei den Kindern überbetont, und zwar deswegen, weil sie in diesem Alter zwar schon voll ausgebildet ist, aber von den Erwachsenen unterdrückt wird.
SPIEGEL: Im Gedächtnisprotokoll der studentischen Betreuer in Kreuzberg erscheint das Zitat eines Schülers, man müßte im Laden blonde Weiber haben, sie nackt ausziehen und -- so wörtlich -- »seine Gurke herausholen und immer unten durch«. Haben die jungen Leute das erst im Schülerladen gelernt, oder brachten sie diesen Wortschatz schon mit?
HOLZKAMP: Diese Frage ist wohl ziemlich absurd. Aber abgesehen davon, würde einem Kleinbürger so etwas einfallen?
SPIEGEL: Unterschätzen Sie die Kleinbürger nicht. Es wurde, laut Protokoll, ein Lied gesungen mit dem Text: »Von den blauen Bergen kommen wir, wir sind vom Fick-Klub 1804.« Wir finden, das singen sonst allenfalls Kegel-Klubs am Vatertag.
HOLZKAMP: Das Lied konnte so ein Kind. Und die Mitarbeiter haben erst einmal mitgesungen. Wir wollten so etwas ja weder überhören noch die in solchen Fällen bei Erwachsenen übliche Entrüstung reproduzieren.
SPIEGEL: Im Protokoll ist sogar von einer sogenannten Fick-Stunde die Rede und an anderer Stelle auch davon, daß den Kindern mitgeteilt wurde, »bumsen« sei überhaupt nicht schwer. Was soll man davon halten?
HOLZKAMP: Ach, wissen Sie, zunächst waren wir alle nicht darauf erpicht, uns auf dieses Problem der Sexualität einzulassen. Es lief einfach so, daß die Kinder uns dieses Problem aufdrängten, zumindest am Anfang wären wir froh gewesen, wenn uns das erspart geblieben wäre. Dann allerdings haben wir systematisch trainiert, uns auf diese Sache einzulassen, und wir haben auch die Sprache der Kinder regelrecht gelernt, unter größten persönlichen Widerständen natürlich. Im übrigen sind niemals sexuelle Aktivitäten im Laden zugelassen worden. Uns lag nichts daran, Gesetze zu verletzen. Uns lag aber sehr viel daran, weiterarbeiten zu können.
SPIEGEL: Welche Schlüsse haben Sie gezogen?
HOLZKAMP: Zunächst einmal den Schluß, daß es keine normale Weise gibt, in unserer Gesellschaft über Sexualität zu reden. Es gibt nur die Brutalsprache auf der einen und die biologisierende Sprache auf der anderen Seite. Aber daß es sich bei der Sexualität um menschliche Beziehungen handelt, das ist sprachlich nicht zu fassen.
SPIEGEL: Ob man von Bumsen oder von Begatten oder Paaren spricht -- weshalb haben Sie sich auf eine solche Diskussion eingelassen?
HOLZKAMP: Der Zusammenhang ist, vereinfacht, so: Die Tabuierung der Sexualität führt zur Isolation, weil das Kind gegen Verbote verstößt, fürchtet es, entdeckt zu werden. Es isoliert sich, um sich nicht zu verraten. Ein isoliertes Individuum, das glaubt, als einziges schuldig zu sein, kann sich aus Angst vor Entdeckung nicht mit anderen solidarisieren und ist deswegen jeder Manipulation schutzlos ausgeliefert. Das ist eines der Mittel, durch Sexualtabus Herrschaft auszuüben. Die Kinder sollten alle ihre Lebensäußerungen, auch die sexuellen, endlich einmal ungestraft und angstfrei zeigen können. Nicht wir haben die Kinder, sondern die Kinder haben uns gezwungen, auch diesen Dingen auf den Grund zu gehen. Wenn wir die zurückgeschreckt hätten, dann hätten wir gleich nach Hause gehen können. Nur weil wir uns das alles angehört haben, sind wir schließlich zur Diskussion gekommen.
SPIEGEL: Und was soll nun weiter daraus werden?
HOLZKAMP: Nun, zum Beispiel arbeitet schon eine Gruppe von Assistenten und Studenten sehr intensiv an einem neuen Sexual-Aufklärungsbuch für Kinder und Eltern. Dieses Buch soll weder eine illusionäre heile Welt der Sexualität aufbauen wie etwa das jetzt weitverbreitete schwedische Buch »Samspel«, noch soll es menschliche Probleme zu biologischen entwürdigen wie dieser gräßliche Sexualkunde-Atlas. Aber warten wir ab, bis das Buch fertig ist.
SPIEGEL: Senator Korber hat die Arbeit Ihrer Psychologiestudenten an diesem Projekt »unwissenschaftlich« genannt. Wir wollen nicht darüber reden, ob Herrn Korber ein solches Urteil zusteht. Aber ist es so, daß die Repräsentanten der herkömmlichen Kinderpsychologie und Pädagogik einerseits und die Verfechter der antiautoritären Erziehung andererseits ihre Arbeit wechselseitig für unwissenschaftlich halten?
HOLZKAMP: Ich würde nicht von antiautoritärer Erziehung, sondern von emanzipatorischer Psychologie sprechen.
SPIEGEL: Nun gut.
HOLZKAMP: Ich würde da keinen Bruch sehen. Es geht nicht darum, das, was die Psychologie in dieser Hinsicht bisher geleistet hat, einfach abzutun, sondern darum, alles, was daran vernünftig ist, in eine veränderte Psychologie, die sich endlich nicht mehr um die Probleme unserer Gesellschaft herumdrückt, aufzunehmen.
SPIEGEL: Das ist leider sehr allgemein gesagt und nicht einmal richtig, wie wir meinen. Es gibt da erhebliche Unterschiede und Gegensätze. Was ist das Fernziel Ihrer Bemühungen? Was sollte Ihrer Meinung nach später aus den Kindern werden?
HOLZKAMP: Sollte, sagen Sie. Es ist die Frage, ob man es schafft,
SPIEGEL: Angenommen, man schafft es irgendwann?
HOLZKAMP: Die Menschen sollten ohne Schuld und Angsterlebnisse und damit ohne gegenseitiges Mißtrauen zusammen leben, sie sollten leistungsfähig sein, ohne sich durch Konkurrenz zu unterdrücken, sie sollten ihre schöpferischen Fähigkeiten und Glücksmöglichkeiten voll entfalten können. Nur muß dann die Schaffung einer Gesellschaft gelungen sein, in der dies alles möglich ist, einer Gesellschaft, die -- wie Marx sagt -- »den Menschen in diesem ganzen Reichtum seines Wesens, den reichen, all- und tiefsinnigen Menschen als ihre stete Wirklichkeit« produziert.
SPIEGEL: Herr Professor, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.