MOLIÈRE Man weiß nicht
In der Pariser Zeitung »Le Monde« veröffentlichte dieser Tage der Literaturkritiker Emile Henriot eine heftige Polemik. Sie richtete sich gegen eine nach Ansicht Henriots »wahnwitzige These«, durch die ein seit Jahrzehnten in Frankreich schwebender Literatur-Streit neue Nahrung bekommen hatte. In einem kürzlich veröffentlichten Buch* war nämlich von dem französischen Schriftsteller Henry Poulaille behauptet worden, daß die Franzosen seit dreihundert Jahren einen Unwürdigen, nämlich Molière, als ihren größten Lustspieldichter ansähen. Nicht Molière, so schrieb Poulaille, sondern dessen Zeitgenosse, der Tragödien-Dichter Pierre Corneille, sei der wirkliche Schöpfer der meisten Theaterstücke, die Molière zugeschrieben werden.
Die Empörung Henriots war um so größer, als sich Poulaille den Namen des »Monde«-Kritikers ausgeliehen hatte, um durch dessen eigenes Zeugnis - einen zwanzig Jahre alten Zeitungsartikel Henriots über Molière - jene »wahnwitzige« Behauptung glaubwürdig zu machen. Poulaille gab an, daß der prominente Kritiker Henriot, Mitglied der Académie Francaise, damals zu ähnlichen Schlußfolgerungen gekommen sei, wie er heute.
Der Name Corneille war allerdings in Henriots Artikel über das »Mysterium Molière« nicht ein einziges Mal vorgekommen. Henriot hatte sich damals mit der Feststellung begnügt, daß die Schöpfung der Meisterwerke Molières dem Literarhistoriker zahllose Rätsel aufgebe: »Man weiß nicht, man versteht nicht, wie sie zustande kamen.«
In der Tat sind die Lebensumstände der drei französischen Theater-Klassiker - Corneille (1606-1684), Molière (1622-1673), Racine (1639-1699) - trotz allen zeitgenössischen Ruhmes und trotz aller literarhistorischen Bemühung bis heute ziemlich im Dunkeln geblieben. Vor allem aber ist rätselhaft, wie ein jahrzehntelang ohne besonderen Erfolg in der Provinz herumreisender Schauspieler, der sich Molière nannte, plötzlich zu der Begabung gekommen sein soll, die bis heute unbestritten berühmtesten Komödien der französischen Literatur zu schreiben.
Diese Unsicherheit und manche Widersprüche in den Daten, die über den Komödienautor Molière überliefert sind, haben seit langem nicht nur französische Forscher zu Spekulationen ermutigt, die Autorschaft an berühmten Molière-Komödien ("Tartuffe«, »Don Juan«, »Die Schule der Frauen") anderen Dramatikern zuzuschreiben.
Bereits zwanzig Jahre vor Henriot war es dem Schriftsteller Pierre Louys aufgefallen, daß es von Molière - außer zwei Unterschriften - kein nachgelassenes handschriftliches Dokument gibt. Louys behauptete zudem, daß die Sprache Molières, in der Plattheiten und sublime Weisheiten einander ablösen, mit der Sprache Corneilles immer dann übereinstimme, wenn sie sich als echte Poesie zu erkennen gebe. Louys meinte, man brauche nur jene Stellen in den Molière-Texten anzustreichen, die auf irgendeine Bühnengeste Bezug haben. Sie allein stammten aus der Feder des Schauspielers und Regisseurs Molière. Alles andere aber sei in Wahrheit von dem Tragödien-Autor Corneille geschrieben.
Der prominente Literaturexperte Louys, ein Freund Andre Gides, empfing damals Hunderte von Drohbriefen. Sie änderten zwar seine Meinung nicht, veranlaßten ihn aber, aus Rücksicht auf seine Sicherheit die explosive Molière-Theorie in der Öffentlichkeit nicht weiter auszuspinnen.
Nicht minder grob verfuhren französische Molière-Bewunderer mit einer schottischen Studentin namens Frazer, die vor einigen Jahren das Manuskript eines anonymen Theaterstücks - »Der Tod des Solon« - aufgefunden hatte. Sie schrieb es nach einer Stilanalyse und einem Handschriften-Vergleich dem Dichter Corneille zu. Außerdem behauptete sie nach dem Vorbild von Pierre Louys, daß Corneille nicht nur der Verfasser jener Bühnenwerke sei, denen er offiziell seinen Namen lieh, sondern noch vieler anderer - so vor allem der großen Charakterkomödien, als deren Autor Molière gilt.
Die Theorie der jungen Schottin wurde von den Franzosen ohne jede Galanterie quittiert. Der »Figaro Littéraire« schalt die Frazer eine Ignorantin, die sich gefälligst um ihre Allgemeinbildung bekümmern möge. In der Zeitung »Le Monde« warnte der Kritiker Robert Kemp: »Rühren Sie nicht an Molière ... Er ist das Mark in unseren Knochen.«
Die unverblümte Abfuhr, die sich die Studentin Frazer bei Frankreichs Literaturpäpsten holte, spornte nun den Corneille -Fanatiker Henry Poulaille zu systematischen Forschungen an. Er wollte den definitiven Beweis erbringen, daß sich nicht die »Ignorantin«, sondern die Fachleute in der Person Molières geirrt hätten, jene Philologen, die sich »auf Frankreichs Universitäten den Hosenboden blankreiben«.
Schon der französische Literarhistoriker Brunetière bemängelte im vorigen Jahrhundert, daß man die Epoche Ludwigs XIV. - »Le Grand Siècle«, wie die Geschichtsbücher das klassische 17. Jahrhundert mit Stolz nennen - nur sehr unvollkommen kenne. Im huldvollen Lichtkreis des »Sonnenkönigs« standen die Dichter Boileau, Molière, Racine und La Fontaine; andere Autoren dagegen - unter ihnen auch Corneille, der nach der erfolgreichen Aufführung seines »Cid« die Feindschaft des einflußreichen Kardinals Richelieu zu spüren bekam - waren des Wohlwollens der Hofkamarilla nicht immer sicher.
Diese Autoren ließen in der Tat - nach einem in Europa verbreiteten literarischen Usus - manche ihrer Werke anonym oder unter einem Decknamen erscheinen. Auch Corneille gab jahrelang seine Produktion anonym in Druck.
Corneille, der »Vater der französischen Tragödie«, war in Frankreich bereits berühmt, als der Tapeziersohn Jean-Baptiste Poquelin, der später den Künstlernamen Molière annahm, noch in einem Pariser Jesuitenkolleg erzogen wurde. Als Tragödiendichter steht Corneille - Voltaire hielt ihn für einen »Schwätzer« - heute gleichrangig neben seinem Zeitgenossen Racine. Aber Pierre Corneille schrieb nicht nur Tragödien, sondern auch Komödien, in denen zum erstenmal die Umgangssprache auf der französischen Bühne erschien. Die Literaturgeschichte rechnet als Anfang einer neuen Theater-Epoche nicht Molières erstes bedeutendes Stück, den »Leichtfuß« (L'Étourdi"), sondern den »Lügner«, eine Komödie von Corneille, die neun Jahre zuvor entstand.
Für die Hypothese des Autors Poulaille, daß es Corneille war, der - spätestens seit 1658 - dem Molière nach und nach fertige Komödien-Manuskripte zur Aufführung überließ, gibt es nun ein verführerisches Argument. Corneille schrieb nämlich nachweisbar im Auftrag Molières den Text zu »Psyche« - einer Tragikomödie mit Balletteinlagen -, bei der freilich Corneilles Autorschaft nie bestritten war. »Psyche«, so behauptet Poulaille in seinem Buch, sei in genau dem gleichen Stil gehalten wie die übrigen Molière -Stücke auch.
Als Motiv für eine regelmäßige Zusammenarbeit Corneilles mit Molière nennt Poulaille außer politischen Gründen (Poulaille: »'Don Juan' und 'Tartuffe' hätten Corneille sofort in die Bastille gebracht") Corneilles notorische Geldknappheit. In der Tat konnte ein Honorar-Vertrag zwischen Molière und Corneille, falls er je abgeschlossen wurde, für den Familienvater Corneille, der sechs Kinder zu versorgen hatte, nur von Vorteil sein. Poulaille rechnet vor, daß Molière, der gut verdienende Theaterdirektor Ludwigs XIV., jährlich etwa die gleiche Summe einnahm, die der Autor Corneille in einem halben Jahrhundert emsigen Dichterfleißes an Honoraren erhielt.
In dem Disput über die »wahnwitzige These«, daß Molière nicht Molière, sondern als Bühnenautor nur eine Maske Corneilles gewesen ist, spielen zwei Daten eine Rolle, die über das wahre Verhältnis zwischen den beiden Auskunft geben könnten. Als sicher darf gelten, daß Molière im Jahre 1643 mit seinem »Illustren Theater« in Rouen auftrat, dem Wohnsitz Corneilles. Fünfzehn Jahre später, 1658, erschien er wieder in Rouen; in der Zwischenzeit hatte Molière mit seiner Truppe ein Wanderleben geführt, über das nur wenig bekannt ist. Nach dem Gastspiel, das mehrere Monate gedauert haben muß, zog das »Illustre Theater« von Rouen direkt nach Paris. Dort gab Molière mit seiner Truppe am 24. Oktober 1658 vor Ludwig XIV. und seinem Hofstaat eine erste Vorstellung im Louvre: Man spielte die dramatische Komödie »Nicomède« von Pierre Corneille.
An den zweimaligen Besuch Molières in Rouen knüpft der Autor Poulaille seine Theorie, daß zwischen Corneille und dem Direktor des »Illustren Theaters« persönliche Beziehungen bestanden haben müssen. Bei seinem ersten Auftreten in Rouen hatte sich Molière sein Pseudonym noch nicht zugelegt; er trug zu dieser Zeit seinen bürgerlichen Namen Jean-Baptiste Poquelin. Aber bereits wenige Monate später, als das »Illustre Theater« einen ersten - vergeblichen - Versuch unternahm, sich in Paris einzurichten, tauchte in einem Engagements-Kontrakt plotzlich der Name Molière auf.
Über die Bedeutung dieses Decknamens haben die späteren Molière-Biographen die abenteuerlichsten Vermutungen aufgestellt. Sie kamen indes nicht viel weiter als Molières Zeitgenosse und Biograph Grimarest. Grimarest schrieb, daß sich Molière zu dem Thema niemals geäußert habe: »Er wollte nie den Grund nennen, auch seinen besten Freunden nicht.«
Triumphierend behauptet heute Poulaille, daß er die Ursache für das absonderliche Schweigen Molières herausgefunden habe: »Der Name war ihm souffliert worden, und zwar von dem Lieferanten seiner Theaterstücke.« Henry Poulaille will nämlich wissen, daß der Name Molière nichts anderes sei als ein raffiniert verschlüsseltes Anagramm - eine Buchstabenumstellung - des Namens Corneille und zudem »eine Art Garantie« Molière -Poquelins für Corneille, weil dieses Pseudonym nur eine Variante des Namens Corneille gewesen sei.
Namensverschlüsselungen solcher Art waren in jener Zeit durchaus üblich. Ein Anagramm bildet zum Beispiel auch der Name Voltaire. Er setzt sich aus Buchstaben zusammen, die in Voltaires bürgerlichem Namen Arouet der Jüngere - Arouet L. J. (le jeune) - enthalten sind. Die Buchstaben »U« und »J« entsprachen dem »V« und dem »I« und galten als auswechselbar.
Ebenso listig wie das Arouet-Anagramm ist nach der These des Autors Poulaille das Pseudonym Molière verschlüsselt. Poulaille entfernte die Anfangsbuchstaben der drei Silben des Namens Cor-neil-le (C n l) und erhielt - nach Umstellung der verbleibenden Buchstaben - das Wort (M)olière. Das zusätzliche »M« erklärte er aus dem lateinischen »Maior, Maximus« ("der Ältere"). Der entschlüsselte Name Molière würde nach dieser Lesart »Corneille der Ältere« bedeuten. In der Tat besaß Pierre Corneille einen jüngeren Bruder, Thomas, der sich ebenfalls als Bühnenautor betätigte.
Der Heidelberger Bilder - Restaurator Hermann Schrieder, der sich auf die Entschlüsselung mittelalterlicher Signaturen und Namens-Chiffren spezialisiert hatte, entdeckte zudem bereits vor einigen Jahren, daß es im Altfranzösischen ein selten gebrauchtes Verbum »molièrer« gegeben hat; es bedeutete »gültig machen« oder »rechtmäßig anerkennen«. Schrieder ist gleich Poulaille davon überzeugt, daß die Namen Molière und Corneille in einem engen Zusammenhang stehen.
Autor Poulaille führt in seinem Enthüllungsbuch über Molière noch weitere Indizien an. Von 1629 bis 1643 - dem Jahr, in dem Molière zum erstenmal in Rouen auftrat - erschienen die Werke Corneilles anonym; 1644 dagegen veröffentlichte Corneille unter seinem Namen einen Sammelband, der seine sechs ersten Werke enthielt, gleichsam als wollte er die Autorschaft für diese Stücke nachträglich ausdrücklich für sich in Anspruch nehmen. Zwanzig Theaterstücke, die Corneille während der Wanderjahre Molières produzierte, erschienen wiederum anonym. Als aber Molière 1659 einen ersten Band Komödien unter seinem Namen erscheinen ließ, zeichnete Corneille als Verfasser der Tragödie »Oedipus«.
Auffällig findet Poulaille auch die Schaffenspausen, die - nach Ansicht der herkömmlichen Literaturgeschichte - zwischen den Theaterstücken Corneilles lagen. Nach seiner Tragödie »Pertharite« im Jahre 1652 soll der sonst unermüdliche Corneille angeblich sieben Jahre keine Theaterstücke geschrieben haben. Auch nach der erfolgreichen Aufführung seines »Oedipus« soll sich Corneille, der von seiner Feder leben mußte, nach herkömmlicher Lesart ein volles Jahr zur Ruhe gesetzt haben. Poulaille: »Ein Corneille, der sich zur Ruhe setzt, der nicht zur Feder greift, ist kaum vorstellbar. Trotzdem nimmt man an, daß es so gewesen ist - mit der gleichen Leichtfertigkeit übrigens, mit der man unterstellt, daß ein unbekannter Molière, von dem nicht im geringsten bewiesen ist, daß er jemals früher geschrieben hat, von einem Jahr zum anderen zwei oder drei, wenn nicht vier Komödien produzieren konnte.«
Poulailles Theorie kennt auch eine Lösung für den rätselhaften Erfolg, den die Wanderbühne Molières nach fünfzehn Jahren Provinzdasein 1658 plötzlich am überkultivierten und geschmäcklerischen Hof Ludwigs XIV. erringen konnte. Bisher war jenes Wunder mit der hohen Protektion erklärt worden, die Molière durch Vermittlung eines angeblichen Schulfreundes, des Prinzen Conti, bei dem einflußreichen Kardinal und Richelieu-Nachfolger Mazarin genoß.
Beziehungen zur Königin-Mutter
Poulaille attackiert auch diese Lesart, indem er nachweist, daß der Prinz Conti sich im Jahre 1657 von dem »Illustren Theater« losgesagt hatte: Er entzog der Truppe seinen Schutz und verbot ihr, seinen Namen in Zukunft als Referenz zu gebrauchen.
Niemand habe bisher daran gedacht, moniert Poulaille, daß Molière erst unmittelbar nach seinem Gastspiel in Rouen Zugang zum Hofe des »Sonnenkönigs« fand; auch habe sich offenbar niemand daran erinnert, daß Corneille das Ohr der Königin-Mutter Anna besaß. Nach Ansicht Poulailles war aber Corneille, der »Lieferant« der Molière-Stücke, der ideale Vermittler, der dem Schauspieler das gewünschte Entree im Louvre zu verschaffen wußte.
Alle diese Argumente und Spekulationen haben allerdings die Mehrheit der französischen Literarhistoriker nicht wankend gemacht. Sie glauben nach wie vor, daß Molière seine berühmten Komödien mit eigener Hand verfaßt habe. So zählte der bisher letzte Molière-Biograph, Georges Mongrédien, auf, warum ihm Poulailles These absurd erscheint:
- Die Schauspieler am Hofe des Sonnenkönigs, deren Tugend gemeinhin nicht die Verschwiegenheit war, hätten demnach nichts gewußt oder wären Komplicen Molières gewesen.
- Grimarest, der zwanzig Jahre nach dem
Tode Molières dessen erste Biographie herausgab, hätte sich ebenso täuschen lassen wie der Zensor, dem er seine Arbeit zur Begutachtung vorlegte: Dieser Zensor aber war Corneilles Neffe und Biograph Fontenelle.
- Weder Racine - der mit Molière seit
1663 bitter verfeindet war - noch die Neider unter den rivalisierenden Pariser Schauspieler-Truppen hätten die Gelegenheit benutzt, Molière zu Fall zu bringen und ihn für den Rest seiner Tage in die Bastille zu schicken.
»Ich erwarte eine Antwort auf diese Fragen«, höhnte der Biograph Mongrédien, »bevor ich die Werke Molières unter dem Namen Corneille in Leder binden lasse.«
* Henry Poulaille »Corneille sous le masque de Molière": Editions Grasset, Paris, 394 Seiten: 1200 Francs.
Dramatiker Corneille
Wer schrieb den Tartuffe?
Theaterdirektor Molière
Mark in französischen Knochen
Schriftsteller Poulaille
Molière hat gemogelt