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»Man weiß nicht, woran man ist«

aus DER SPIEGEL 48/1977

Sambias Präsident Kenneth Kaunda, einer der führenden Staatsmänner Schwarz-Afrikas, hielt seinem Bonner Gastgeber mangelndes Engagement der Deutschen für die Dritte Welt vor, doch Willy Brandt bat um Geduld: »Solange wir unsere Ostpolitik noch nicht durchgesetzt haben, fühlen wir uns euch gegenüber wie ein Mann, dem man einen Arm auf den Rücken gebunden hat,«

Und der Bundeskanzler hat: »Helft uns, diesen Arm freizubekommen, damit wir uns mit beiden Armen anderen Aufgaben widmen können.«

Das war 1970. Mittlerweile ist die Ostpolitik der SPD/FDP-Koalition vorerst abgeschlossen, die Bundesregierung hat beide Arme frei. Doch was ist aus Willy Brandts Versprechen geworden?

Jahrelang haben die Bonner Außenpolitiker die Hilfe der Industriestaaten für die Entwicklungsländer als Topthema der Weltpolitik ausgegeben. Stets bestätigten sie auf internationalen Konferenzen und Parteikongressen, wie dringlich es sei, den Nord-Süd-Konflikt zu bewältigen. Der SPD-Vorstand etikettierte die Entwicklungspolitik gar als »die soziale Frage des 20. Jahrhunderts«.

Außenminister Hans-Dietrich Genseher formulierte Ende September vor der 32. Generalversammlung der Vereinten Nationen in New York: »Eine Welt des Friedens und der Partnerschaft ist nicht denkbar, ohne daß wir jene Kluft überwinden, die die heutige Welt fundamentaler teilt als alle ideologischen Gegensätze -- die Kluft zwischen arm und reich.«

SPD-Geschäftsführer Egon Bahr, als ehemaliger Entwicklungshilfeminister mit der Problematik vertraut, warnt gar vor gewaltsamen Auseinandersetzungen: »Wenn man die berechtigten Forderungen einer Mehrheit nicht erfüllt, dann nimmt sich die Mehrheit diese Rechte auf dem Wege einer Revolution«

Doch bislang haben die Bonner Machthaber ihre richtigen Erkenntnisse und guten Absichten nicht umgesetzt in ein schlüssiges Modell und überzeugende Taten. »Im Grunde gibt es in Bonn kein außenpolitisches Konzept«, konstatiert Bahr, der einstige Architekt der Brandtschen Ostpolitik. Nur eine »ungeordnete Politik« kann der SPD-Bundestagsabgeordnete Conrad Ahlers erkennen, aber »keine klare Linie, man weiß nicht, woran man ist«.

Hauptvorwurf aller Kritiker: Aus Genschers hektischen Auslandsreisen, aus seinen Versuchen, von Fall zu Fall die bilateralen Beziehungen zu vielen Ländern zu verbessern, ergebe sich keine überzeugende Globalpolitik; die Kombination der beiden Pragmatiker Schmidt und Genscher habe bislang nur dazu geführt, daß die Außenpolitik kurzfristig von Krise zu Krise gemanagt werde.

Der Kanzler, der in aller Welt als politischer und ökonomischer Lehrmeister auftritt, hat der Dritten Welt bislang nichts zu bieten. ·Der Regierungschef des hochentwickelten Industriestaates Bundesrepublik hat für die Bedürfnisse der unterentwickelten Länder nur wenig Interesse übrig. Außer der Weltmacht China und der Olmacht Saudi-Arabien hat der Bundeskanzler noch kein Entwicklungsland besucht.

Seinem Außenminister dagegen ist keine Reise zu lang, kein Winkel der Erde zu weit, selbst wenn die Zeit dort nur für ein paar Stunden reicht. Im Stile des einstigen US-Außenministers Henry Kissinger jettete der AA-Chef allein in diesem Jahr in neunzehn verschiedene Länder, von seinen Standardvisiten in Washington und den EG-Hauptstädten ganz abgesehen.

Doch das Ergebnis der weltweiten Reisediplomatie erscheint eher dürftig. Die Dritte Welt, so findet SPD-Fraktions-Vize Horst Ehmke, erwarte von einer der stärksten Wirtschaftsmächte des Westens weniger freundliche Worte als handfeste Hilfen. Genschers Bedürfnis nach Harmonie, sein Streben »everybodys darling« (Ehmke) zu sein, habe der Bundesrepublik nur wenig eingebracht.

Auch der außenpolitische Chefdenker der CDU, Richard von Weizsäcker, hat den Eindruck, Genscher verschwende »zuviel Kraft und Zeit« auf die Kontaktpflege zu allen möglichen Ländern: »Die wichtigste Aufgabe der deutschen Politik aber ist derzeit die Klärung unserer Position vor allem im Nord-Süd-Konflikt.«

Die deutsche Außenpolitik hat nach Ansicht ihrer Kritiker nur unzureichende Konsequenzen aus jener Zäsur gezogen, die der Ölboykott der arabischen Staaten im Spätherbst 1973 bewirkte. Unter dem Schock der Sonntags-Fahrverbote und der abgeschalteten Schaufensterbeleuchtungen schien damals vielen das Ende der Überflußgesellschaft nahe. Doch als das Öl wieder floß, war die Aufregung bald vergessen.

Wie der Westen insgesamt, sträubten sich die Regierungen in Bonn zunächst gegen die Erkenntnis, daß sich die Machtkonstellationen in der Welt rapide veränderten.

Zu Anfang dieses Jahrzehnts waren die westlichen Politplaner davon ausgegangen, die Dritte Welt könne als Faktor der internationalen Politik vernachlässigt werden. Noch 1973 entschied der britische Militärexperte Alastair Buchan, die Dritte Welt habe »keinerlei Einfluß« auf die Weltpolitik. Die Entwicklungsländer, so fand der amerikanische Polit-Wissenschaftler John K. Galbraith damals, »sind arm und agrarisch, sie haben keinen vitalen Bezug zur wirtschaftlichen oder strategischen Lage der entwickelten Länder«.

In Wirklichkeit hatten die Ölländer in den Jahren 1973/74 den Westen erstmals durch wirtschaftlichen Druck zu politischen Konzessionen gezwungen. Mit der Drohung des Ölentzugs erpreßten sie seine Neutralität im Konflikt der Araber mit Israel. Schamhaft machte sich auch Bonn eine Kernforderung der Palästinenser, die von den Arabern unterstützt, von den Israelis

* Im April 1977 in Kenia.

als Terroristen geächtet werden, zu eigen: das Verlangen nach einem eigenen Staat.

Dieses Erfolgserlebnis der Opec-Länder ermunterte die Dritte Welt zu einer im Westen nie für möglich gehaltenen Solidarität. Ein Block von inzwischen 115 Staaten beherrscht die Vereinten Nationen. Sie treten nicht als Bittsteller vor die reichen Länder des Nordens, sondern als Herausforderer. Nicht mehr wirtschaftliche Hilfe allein wollen sie, sondern politische Macht, nicht nur Geld, eine neue Weltwirtschaftsordnung ist ihr Ziel.

Dahinter verbirgt sich ein brutales Konzept: Umverteilung des Reichtums zu ihren Gunsten. Und dies ist kein leerer Wunsch: Die Mittel zur Erpressung stehen ihnen notfalls zu Gebote, und sie sind entschlossen, sie zu nutzen.

Der algerische Präsident Houari Boumedienne präzisierte, wie das geschehen solle: »Die Aktion der Opec zeigt

die lebenswichtige Notwendigkeit an, die Hebel der Preiskontrolle zu bewegen«, damit nicht »einige dauernd reicher werden, während andere im Elend versinken«.

Zu Besuch in Bonn sprach Tansanias Präsident Julius K. Nyerere 1976 offen die Absicht aus: »Wir wünschen einen realen -- und automatischen -- Transfer von Ressourcen von den Reichen zu den Armen, also eine Umkehrung des gegenwärtigen Prozesses.«

Einhellig empfinden die Entwicklungsländer die Politik der Industrieländer als Ausbeutung. Mit billigen Rohstoffen und niedrigen Löhnen können diese in der Dritten Welt preiswert produzieren lassen und auf dem Weltmarkt hohe Gewinne einstreichen. Die Industriegüter steigen dabei ständig im Preis, während die Erlöse für Rohstoffe niedrig bleiben.

Der Kostenvoranschlag für den Bau einer Fleischfabrik in seinem Lande, klagte Nyerere in Bonn, sei in zwei Jahren von 1,8 auf 7,1 Millionen Dollar gestiegen: »Für uns heißt das real -- also unter Berücksichtigung der damaligen und jetzigen Sisalpreise -, daß eine Fabrik, die uns ursprünglich 7000 Tonnen Sisal kosten sollte, jetzt fast 24 000 Tonnen Sisal kostet.«

Anders als zunächst zu erwarten, sperrte sich die Bundesregierung nach außen nicht rundweg gegen die herausfordernden Wünsche der Entwicklungsländer. Seit FDP-Außenminister Genscher im Herbst 1974 vor den Vereinten Nationen in New York seine Jungfernrede hielt, hat er immer wärmere Worte für die Dritte Welt gefunden.

Ähnlich wie Bahr, der die umwälzenden Forderungen mit dem Drängen der deutschen Arbeiter nach mehr sozialer Sicherheit zu Bismarcks Zeiten verglich, hält es auch der Liberale für notwendig, »weltweit eine sozial verpflichtete Politik« zu betreiben. Bis ins Vokabular hinein machte er sich die Klagen der Unterentwickelten zu eigen. Auch er spricht nun von »Ausbeutung durch die Industrieländer« und hält dafür: »Wir müssen die Entwicklungsländer an der Ausbeute beteiligen.«

Der Vorhang progressiver Rhetorik verdeckt jedoch nur eine Klemme, aus der Bonn noch keinen Ausweg gefunden hat: Einerseits kann sich die rohstoffarme Bundesrepublik keine Konfrontation mit der Dritten Welt leisten, andererseits lassen sich Bedenken gegen den geforderten Strukturwandel in der Weltwirtschaft nicht einfach beiseite schieben. Denn wenn die Länder der Dritten Welt künftig mit westlichem Know-how ihre Rohstoffe selber verarbeiten und Fertigfabrikate exportieren, dann geht das zu Lasten der deutschen Wirtschaft und der Arbeitsplätze in der Bundesrepublik.

Die Bundesregierung hat, wie Fachleute im Auswärtigen Amt analysierten, in dieser Zwickmühle drei Optionen offen:

* Abwarten -- an der bisherigen Entwicklungshilfe wird nichts geändert, die Wünsche nach Systemveränderung werden ignoriert; > Aufspaltung der Dritten Welt -- die ärmsten Entwicklungsländer werden weiterhin mit Almosen bedacht, während die politische Zusammenarbeit nur mit den wichtigen Öl- und Rohstoffländern gesucht wird; > Aufbau einer neuen globalen Ordnung -- die Länder des Nordens verzichten darauf, ihren Lebensstandard weiter zu steigern. Ihr Reichtum wird umverteilt zugunsten des Südens.

In seinen öffentlichen Reden erweckt Genscher den Eindruck, die Regierung habe sich längst für die letzte der drei Möglichkeiten entschieden. Die Industrieländer müßten »bereit sein zum Strukturwandel«, verkündete er vor kurzem zur Eröffnung der ostasiatischen Woche in Tübingen. Trotz schmerzlicher Folgen für die deutsche Wirtschaft, trotz zusätzlicher Schwierigkeiten für den Arbeitsmarkt proklamiert er großzügig: »Strukturwandel ist die Bedingung des Fortschritts.«

Auch der Kanzler hat sich auf dem Londoner Wirtschaftsgipfel Anfang Mai dieses Jahres in dem von ihm mitunterzeichneten Schlußdokument zu der Notwendigkeit des Strukturwandels bekannt. Seine Politik gegenüber der Dritten Welt aber dient, soweit es sie gibt, dem Schutz des deutschen Exports, der Sicherung von Auslandsinvestitionen und dem Zugang zu billigen Rohstoffen. »Helmut Schmidt sieht da mehr den ökonomischen Teil«, räumt selbst Genscher ein.

Was das im Klartext heißt, entschlüsselt Egon Bahr: »Die Bundesrepublik verhält sich wie ein Reicher und will möglichst wenig abgeben.« Für Eppler tritt Schmidt auf »als Lobbyist der Industriestaaten des Kapitalismus

Wie sehr Schmidt darauf fixiert ist, durch Exporte und Investitionen im Ausland die Arbeitsplätze zu Hause zu sichern und dabei außenpolitische Erfordernisse hintanzustellen, machte er Ende letzten Jahres im SPD-Vorstand deutlich. Mit seinem ganzen Prestige verhinderte er einen Beschluß, der die Bundesregierung auffordern sollte, künftig keine Investitionen im Apartheid-Staat Südafrika durch Garantien abzusichern. Ein Teilnehmer der Sitzung: »Er hat dort ein Affentheater inszeniert.«

Trotz andersartiger Reden liegt auch Genscher solches Denken nicht fern. Nach der Ölkrise erklärte er ungeniert im Bundeskabinett: »Das Wichtigste, was wir für die Entwicklungsländer tun können, ist, unsere Wirtschaftskraft zu erhalten.« Bis heute richtet er sich, sobald mehr als

Lippenbekenntnisse gefragt sind, nach dieser Erkenntnis.

Genscher zeichnete mitverantwortlich dafür, daß noch vor wenigen Monaten die Bundesregierung die staatlichen Bürgschaften für Exporte nach Südafrika drastisch (von 0,7 auf 2,8 Milliarden Mark) erhöhte -- trotz seiner Beteuerung: »Wir dürfen nicht als der Freund Südafrikas erscheinen.«

Die Quittung präsentierten die Afrikaner auf der Anti-Apartheid-Konferenz in Lagos im letzten August, wo AA-Staatsminister Klaus von Dohnanyi wegen der Unglaubwürdigkeit deutscher Afrika-Politik gescholten wurde. Für jeden erkennbar wurde die Diskrepanz zwischen Bonner Worten und Taten, als sich die Bundesregierung im letzten Jahr auf der Rohstoff-Konferenz der Uno in Nairobi als hartnäckigster Widersacher der Dritten Welt präsentierte.

Die Entwicklungsländer hatten damals einen Anfang mit der neuen Weltwirtschaftsordnung machen wollen. Sie forderten einen allgemeinen Rohstoff-Fonds, um Preisschwankungen zu verhindern. Gemeinsam sollten Industrie- und Entwicklungsländer nach diesem Plan Mittel für Rohstofflager bereitstellen. Bei Baisse sollte eingekauft, bei Hausse verkauft werden.

Die Bonner aber fürchteten, das Projekt solle nur dazu dienen, höhere, nicht marktgerechte Preise durchzusetzen. Auf Weisung des Kanzlers lehnten zunächst Bundeswirtschaftsminister Hans Friderichs und später Entwicklungshilfeminister Egon Bahr die Forderungen ab.

Erst als die USA, die bis zuletzt die Position der Bundesrepublik unterstützt hatten, den Protesten der Dritten Welt nachgaben, wollte Bonn nicht allein gegen alle stehen und klappte hinterher. Das Unctad-Spektakel gilt seither als ein Debakel der deutschen Außenpolitik, das Genscher noch heute zu schaffen macht.

Inzwischen hat der deutsche Außenminister den Fehler eingesehen: »Wir hatten nicht erkannt, daß die freie Weltwirtschaft nicht durch Rohstoff-Fonds zerschlagen wird.«

Doch die Folgen solcher Einsicht bleiben bisher aus. Nach anderthalb Jahren endete Anfang Juni die Konferenz über internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit (KIWZ) in Paris, auf der wieder die Forderungen der Südstaaten zur Diskussion standen, mit einer Enttäuschung. Die Bonner akzeptierten zwar einen gemeinsamen Fonds, aber der Zank um die Modalitäten geht weiter.

Den stärksten Widerstand leisten Finanzminister Hans Apel und das Wirtschaftsministerium. Der sozialdemokratische Kassenwart sperrt sich gegen den deutschen Finanzierungsanteil, und den neuen Wirtschaftsminister Otto Graf Lambsdorff plagen ähnliche Befürchtungen um die Marktwirtschaft wie seinen Vorgänger Friderichs.

Fazit: Ein Teil der Bundesregierung verfolgt Option eins: eine Politik des Abwartens, eine Strategie der Gummiwand.

Gleichzeitig versucht die Bundesregierung, nach der Devise »business as usual« mit den reichen oder bereits industrialisierten Entwicklungsländern Geschäfte zu machen und die Armen links liegenzulassen. Die Deutschen liefern an alle, die zahlen können, was immer gewünscht wird: Atomkraftwerke und Autoindustrie nach Brasilien, Stahlwerke und Kernkraftwerke an den Iran, jede Art von Industrieanlagen an das neureiche Nigeria.

Mit der Aufteilung in reiche und arme Länder soll die Dritte Welt in ihrer Solidarität gespalten werden. Die Sicherung von Exporten und Rohstoffen rangiert entgegen allen offiziellen Beteuerungen auf der Bonner Prioritätenliste obenan. Einer der Experten im Auswärtigen Amt, Konrad Seitz. der zugleich als Redenschreiber Genschers die deutsche Außenpolitik mitformuliert, räumt ein: »Option zwei steht daher gegenwärtig zwangsläufig im Vordergrund der westlichen Politik.«

Für die ärmsten Entwicklungsländer fällt dabei allenfalls ein bißchen mehr Mildtätigkeit ab. Entwicklungshilfeministerin Marie Schlei hat entgegen dem ursprünglichen Ansatz für das nächste Jahr 3,9 Milliarden Mark bekommen, 22 Prozent mehr als 1977 -- was 0,3 Prozent des Bruttosozialprodukts entspricht.

Marie Schlei am Mittwoch letzter Woche vor dem SPD-Parteitag in Hamburg: »Mit Steigerungen von solcher Höhe (würden wir) im Jahre 1985 das 0,7-Prozent-Ziel erreichen«, das die Uno für die öffentliche Entwicklungshilfe gesetzt hat.

Auf der KIWZ-Konferenz in Paris aber sperrte sich die Bundesrepublik gegen alle Wünsche der Ärmsten nach Erlaß oder Kürzung ihrer Schulden. »Das geht doch nicht«, rügt Willy Brandt, »daß die Inder heute mehr an uns zurückzahlen, als sie an Kapitalhilfe von uns kriegen.«

Die Regierung hat andere Maßstäbe als der SPD-Chef, der im vorigen Monat den Vorsitz einer von Weltbank-Präsident Robert Mac Namara gegründeten internationalen Kommission für Nord-Süd-Probleme übernahm. Nach dem Willen des Kanzlers und seines Außenministers soll das Geld nicht allein nach Bedürftigkeit verteilt werden, sondern auch nach politischem Wohlverhalten.

Genscher, über die ständigen Angriffe auf seine Südafrika-Politik verärgert, drohte bei allen Gesprächen mit afrikanischen Kollegen in den vergangenen Wochen mit dem Zeigefinger. »Er hat allen gesagt«, so ein Genscher-Berater, »ihr könnt uns nicht links melken und rechts in den Arsch treten.«

Das heißt: Auch in der Entwicklungshilfe ist neben der Exportförderung noch immer der weltweite Kampf gegen den Kommunismus oberstes Politgebot.

»Die neuen Aufgaben«, kommentiert der Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für auswärtige Politik, Professor Karl Kaiser, »werden in den Kategorien der fünfziger Jahre betrachtet.«

Obwohl Genscher allenthalben die Maxime im Munde führt, der Ost-West-Gegensatz dürfe nicht auf den Nord-Süd-Konflikt übertragen werden, kann er sich selbst von dieser inneren Einstellung nicht befreien.

Allenthalben in Afrika ortet der AA-Chef »imperialistische Bedrohung durch die Sowjet-Union": in den Frontstaaten an den Grenzen zu Rhodesien und Südafrika, in Äthiopien, Somalia, in Zaire und in Südafrika selber.

Während des Konflikts zwischen Zaire und angeblich von Kuba unterstützten Aufständischen flog er in die Kupferprovinz Shaba, ins Feldquartier von Präsident Mobutu, »um Flagge zu zeigen«. Mit Engagement wendet er

* Autobahnbau durch die Firma Julius Berger in der nigerianischen Hauptstadt Lagos.

sich gegen die Rassentrennungspolitik des südafrikanischen Premiers Balthazar Vorster. Seine Ansicht: »Wir müssen dort der Radikalisierung vorbeugen, die sonst zur Sowjet-Intervention führen kann.«

Intern macht Genscher keinen Hehl daraus, was ihn eigentlich antreibt: »Unsere Außenpolitik muß immer die deutsche Teilung und Berlin im Auge haben. Da ist für mich das ceterum censeo.«

In der SPD wird Genscher denn auch der Vorwurf gemacht, er könne es entgegen seinen öffentlichen Bekundungen nicht ertragen, wenn Entwicklungsländer einen eigenen, vom AA-Chef nicht gebilligten Weg einschlagen. So findet Parteimanager Bahr: »Genseher könnte formulieren, es geht um Unabhängigkeit vom Kommunismus.« Geschichtlich richtig und im deutschen Interesse aber sei es, »daß möglichst viele Länder über ihre Zukunft entscheiden können -- auch wenn dies zu Formen führt« die ich nicht teile.«

Der ehemalige Entwicklungshilfeminister Erhard Eppler hält schon den Wortgebrauch für verfehlt: »Wenn die von Sozialismus reden, ist das Teil ihres Unabhängigkeitsstrebens, nicht Sympathie für die Sowjet-Union.«

Eine andere als solche streng an vordergründigen deutschen Interessen orientierte Politik zu betreiben, erscheint freilich auch jenen schwer durchsetzbar, die einen Bonner Schwenk für dringend nötig halten. Anders als bei der Ostpolitik, die stets über eine starke publizistische Lobby verfügte, fehlt es für die neuen Probleme an einer »intellektuellen Infrastruktur«, wie Politik-Professor Kaiser bedauert. Auch Genscher klagt, das Verständnis der Öffentlichkeit müsse erst geweckt werden: »Das ist ein gewaltiges Problem.«

Nur allzugern berufen sich Bonner Profis allerdings auf die öffentliche Meinung, wenn sie unliebsame Ansinnen abweisen wollen. Mit diesem Trick hatte Kanzler Schmidt schon Mitte 1974, ein halbes Jahr nach der Ölkrise, eine EG-Initiative torpediert: Er weigerte sich, deutsche Mittel. für einen europäischen Fonds herauszurücken, aus dem von der Ölpreis-Explosion besonders stark betroffene Länder alimentiert werden sollten. »Wenn wir diesen Fonds kaputtmachen«, verkündete Schmidt damals im Bundeskabinett, »wird die deutsche Öffentlichkeit uns das danken.«

Doch der unterschwellige Appell des Kanzlers an verbreitete Vorurteile wie die derzeit hochgespielte Sorge um die deutschen Arbeitsplätze ist zu vordergründig. Zwar prognostizierte auf dem Entwicklungshilfe-Kongreß der SPD in Wiesbaden der Siemens-Vorstand Helmut Wilhelms »eine Gefährdung für bestimmte Arbeitsplätze« -- nicht ohne vor einer »weltweiten Beeinträchtigung der Aktivitäten der Industrieländer« zu warnen.

Zwar berichtete auch der Chef der Gewerkschaft Textil-Bekleidung, Karl Buschmann« in Wiesbaden, allein die Importe aus den vier ostasiatischen Gebieten Hongkong, Macau« Taiwan und Südkorea hätten 1975 in seiner Branche 40 000 Arbeitsplätze gekostet. Buschmann: »Die Forderung, die Entwicklungsländer zu industrialisieren, ist bei unseren Beschäftigten nicht besonders populär.«

Gleichwohl räumen Industrie-Manager und Wirtschafts-Analytiker ein, daß der Aufbau von Industrien in den noch unterentwickelten Gebieten der Bundesrepublik die Chance zu erhöhten Exporten von Investitions- und höherwertigen Gebrauchsgütern biete.

Nach einer Berechnung von Experten kosten die Importe aus dem Süden der Welt in den Jahren 1974 bis 1985 etwa 846 000 Arbeitsplätze in der Bundesrepublik. Im gleichen Zeitraum werden durch gesteigerte Exporte 400 000 Arbeitsplätze neu geschaffen.

Den rechnerischen Verlust von 446 000 Jobs relativiert der Vizepräsident der Weltbank, William Clark: »Das ist weniger als die jährliche Freisetzung in den Jahren 1962 bis 1975 als Ergebnis des technischen Fortschritts im Lande selbst.«

Siemens-Vorstand Wilhelms glaubt denn auch, daß die deutsche Wirtschaft eine aufgezwungene Anpassung durchstehen könne. Von seinem eigenen Unternehmen berichtete der Manager, der Export in die Dritte Welt sei mit deren Industrialisierung stetig gewachsen: »Wir leben von dem zeitlichen Vorsprung, mit dem wir fortschrittliche Technik vor unseren Konkurrenten in den Markt einführen.«

Zudem gibt es nach den Erkenntnissen der AA-Analytiker für Bonn keine Wahl. Denn auf allen Konferenzen in den letzten Jahren traten die jungen Länder immer selbstbewußter auf, baten nicht mehr um Entgegenkommen, sondern operierten mit Drohungen als Rohstoff- und als Chaosmacht.

Nach den Planspielen von Genscher-Mitarbeitern können die Süd-Staaten durch Obstruktion die Lösung wichtiger internationaler Probleme blockieren. Sie können die Weltwährungsordnung durcheinanderbringen, durch Komplizenschaft der Ausbreitung des Terrorismus Vorschub leisten und alle Bemühungen um Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen zum Scheitern bringen.

»Die internationalen Konferenzen haben deutlich gemacht«, so Genscher-Ghostwriter Seitz, »daß die Dritte Welt nicht bereit ist. diese Fragen isoliert zu behandeln, ohne daß die Industriestaaten sich ihrerseits auch jenem Problem zuwenden, das für die Dritte Weh absoluten Vorrang hat, das Problem der Entwicklung.«

Kooperation auf Gedeih und Verderb also? Gerade für die rohstoffarme Bundesrepublik stellt sich, scheint es. keine Alternative.

Aus einer Studie des amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlers und Nobelpreisträgers Wasily Leontief erhellt, daß sich der Rohstoffbedarf der Industrieländer bis 1990 vervierfachen wird. Die Lücke kann nur durch zusätzlichen Abbau geschlossen werden. Seit aber die internationalen Konzerne in den einstigen Kolonialgebieten enteignet und vertrieben wurden, hat sich das

Investitionsklima entscheidend verschlechtert; seit 1965 ist ein stetiger Rückgang zu verzeichnen.

Experten der Internationalen Energie-Agentur in Paris machten im Oktober dieses Jahres überdies klar, daß in den achtziger Jahren eine neue Erdöl-Lücke ins Haus steht. Ähnlich wie bei anderen Rohstoffen hält die Förderung mit dem steigenden Bedarf nicht Schritt.

Nur Saudi-Arabien hat noch hinreichende Reserven. Doch die Saudis halten sich zurück: Da das nur schwach besiedelte Wüstenland seine Devisen nicht ausgeben kann, ist für die Scheichs das Öl am besten unter der Erde aufgehoben.

Sieht sich also Bonn kaum imstande, den Preis-Forderungen des Südens auf Dauer zu widerstehen, so wird es auch dem Verlangen nichts entgegensetzen können, die Industrieländer sollten ihre kaufkräftigen Märkte für Fertigwaren aus den Entwicklungsländern öffnen. Mit welchem Import-Druck der deutsche Markt künftig rechnen muß, geht aus den Wachstumsraten einiger Länder hervor, die die Schwelle zum Industriestaat schon erreicht haben.

Südkorea, Taiwan, Singapur, Hongkong und Brasilien sind in einigen Branchen zur gefährlichen Konkurrenz für die Deutschen geworden. Der Iran und Südkorea verzeichneten 1976 Wachstumsraten von 15 Prozent, während die Bundesrepublik gegenwärtig nicht einmal vier schafft.

Schon jetzt versuchen einige vom Verdrängungswettbewerb bedrohte westliche Länder, ihre Märkte gegen die Eindringlinge abzuschotten. Durch bilaterale Verträge wollen die USA ihren Partnern »freiwillige Importrestriktionen« aufzwingen. Unter dem Stichwort »liberalisme organisé« verfolgen die Franzosen das gleiche Ziel.

Diesen protektionistischen Kurs kann die Bonner Regierung schon ihrer eigenen Interessen wegen nicht nachvollziehen. Angesichts ihres gewaltigen Exportvolumens (1976: 256 Milliarden Mark) ist die westdeutsche Wirtschaft auf liberalen Welthandel besonders angewiesen. Jede Behinderung von Importen würde mit Maßnahmen gegen den deutschen Export beantwortet.

Damit aber würde die noch halbwegs intakte westdeutsche Wohlstandsgesellschaft im Nerv getroffen. Denn allein der florierende Außenhandel bewahrte im letzten Jahr die Bundesrepublik vor noch schwereren konjunkturellen Einbrüchen.

Diese harten ökonomischen Zwänge sind bis heute noch nicht in das Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen. Noch immer leidet die Politik gegenüber der Dritten Welt an dem Makel, sie sei reine Caritas, Wohltätigkeit gegenüber den Armen dieser Welt.

Ex-Kanzler Willy Brandt, der sieh auch erst spät, trotz seines Versprechens an Sambia-Präsident Kaunda, für den Ausgleich zwischen Nord und Süd engagiert hat, räumt heute selbstkritisch ein, daß es »ein bißchen lange gedauert hat, bis wir uns auf die neue Lage eingestellt haben«.

Der Vorsitzende der neuen Welt-Kommission für Nord-Süd-Fragen hat inzwischen auch erkannt, daß auf diesem Felde nicht ausreicht, was seine Ostpolitik so überzeugend gemacht hatte. Brandt: »Wir müssen den Leuten bei uns klarmachen, daß wir ihre Interessen wahrnehmen. Mit moralischen Gründen, so fürchte ich, ist in der Bundesrepublik keine Politik mehr zu machen.«

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