WETTER Mann mit Besen
Der Mann, der aus der russischen Kälte kam, fror. »Hier ist es viel zu kalt«, grummelte Moskaus Außenminister Andrej Gromyko bei der Ankunft zum Treffen mit dem Kollegen Shultz. In Genf war es 15 Grad unter Null: »Wenn ich nur schon wieder in Sibirien wäre!«
So unrecht hatte er nicht. Denn während Moskau - für russische Winter ungewöhnlich milde - mit sieben Grad unter dem Gefrierpunkt davonkam, marschierte Väterchen Frost in den freien Westen Europas. Selbst bei strahlender Sonne und blauem Himmel schneite es: »Polarschnee« - Luftfeuchtigkeit, die in der arktischen Kälte gefriert.
Im finnischen Lappland, das den diesjährigen Kälterekord von minus 50,1 Grad Celsius erreichte - so kalt war es im Nordosten Skandinaviens seit 122 Jahren nicht mehr gewesen -, streunten die Wölfe durch die Dorfstraßen.
Über Jugoslawiens liebliche Adriaküste fegten Schneestürme: Seen, Flüsse und Häfen erstarrten. Im sozialistischen Bruderland Tschechoslowakei fiel ein Eishockeymatch aus - die Kunsteismaschine war eingefroren.
Unter den Palmen der weltberühmten »Promenade des Anglais« von Nizza lagen 20 Zentimeter Schnee. Paris-Bürgermeister Jacques Chirac erbarmte sich seiner Clochards und bot den Obdachlosen 330 beheizte Metro-Stationen, die auch über Nacht geöffnet blieben, als rettendes Asyl. In den beiden U-Bahnhöfen »Luxembourg« und »Nation« wurden warme Mahlzeiten und Decken ausgegeben. Dennoch forderte die Kälte im Verbund mit Frankreichs neuer Armut bereits 30 Erfrierungsopfer.
In Rom schneit es nach der Überlieferung nur »ad ogni morte di papa« (wenn ein Papst stirbt). So schlimm kam es zwar nicht. Doch manche Touristen machten wahre Odysseen durch. So landeten 1000 Flugpassagiere aus den USA und Australien in Neapel statt in Rom.
Dort stopfte man sie in einen Zug Richtung Hauptstadt, der jedoch auf halber Strecke zwischen verschneiten Wiesen steckenblieb. Erst mit acht Stunden Verspätung trafen die Devisenbringer auf Roms Stazione Termini ein.
Auch die Römer erlebten »ein Waterloo im Transportwesen« ("Il Messaggero"), brachen sich zu Hunderten Gliedmaßen und hatten tagelang kein Wasser, weil die Leitungen alter Wohnblocks vereisten. Doch erfror zunächst niemand - außer etwa 100 der 50 000 streunenden Katzen der Ewigen Stadt.
Dafür nutzten viele das »Schneewunder« von Epiphanias, gute Geschäfte zu machen. Die Taxifahrer verlangten Eiszuschläge, in Ciampino verkaufte ein ambulanter Händler innerhalb weniger Stunden 500 Schneeketten - mit einem Preisaufschlag von 100 Prozent.
Derweil grüßte Papst Johannes Paul II., der Wintersport-Fan auf dem Stuhl Petri, nach dem Angelusgebet im Schneegestöber des Petersplatzes »mit dem Schnee alle Skifahrer und all jene, die zur Zeit in den Bergen sind«, umrundeten Langläufer das schneebedeckte antike Marmorgerümpel auf dem Forum Romanum, ließen sich die Tifosi auch durch Transportprobleme nicht davon _("Luxembourg«. )
abhalten, im Olympiastadion ihre Mannschaft Lazio Rom gegen den AC Milan anzufeuern.
Selbst die Spanier, mit winterlichen Temperaturen weithin vertraut, kamen ins Schleudern. Ungerührt vom Frost, spritzten Madrids Straßenreiniger die Bürgersteige wie üblich mit Wasser ab. Erst als die Madrider gleich massenweise auf den gefrorenen Pisten zu Boden gingen, stellten sie den Unsinn ein.
An der Costa Brava, sogar zur Weihnachtszeit in der Regel noch Badestrand, schlotterten die Touristen in ungeheizten Hotels, deren Wasserrohre platzten: minus 13 Grad. Auf Mallorca stapften bundesdeutsche Rentner statt durch mildes Mittelmeerklima durch unerwarteten Schnee.
In den Rundfunk- und Fernsehnachrichten nahm der Winter immer breiteren Raum ein. Doch der miserabelste Sommer seit 60 Jahren, in dem eine Kaltluftfront die andere über Deutschland jagte, ließ die Wetter-Warte der TV-Anstalten mit Vorhersagen vorsichtig sein.
»Über Skandinavien liegt ein Hoch«, orakelte ARD-Diplom-Meteorologe Dr. Werner Horst in den »Tagesthemen«, und ein »Tief über Rußland. Zwischen diesen beiden Druckgebilden wird dann Kaltluft nach Südwesten transportiert«. Westeuropa fror, doch ganz außergewöhnlich war der kalte Ost-West-Strom für diese Jahreszeit gar nicht mal.
Die Deutschen, die stets entweder über zu große Hitze oder zu große Kälte jammern und durch frühlingshafte Winter der letzten Jahre besonders verwöhnt waren, wurden mit der Unbill der Natur kaum besser fertig als die Südländer.
Dicke Eisdecken in Häfen und auf Flüssen blockierten ganze Flotten von Binnenschiffen, an Nord- und Ostseeküsten knackten Eisbrecher die Fahrwasser frei. Flugzeuge mußten vor dem Start mit einem Spezialgemisch enteist werden, Feuerwehrleute stopften Wasserrohrbrüche und hackten pfahlstarke Eiszapfen ab, die - von Dachrinnen hängend - Passanten bedrohten.
Im Kölner Dom konnten sich die Gläubigen nur noch trocken bekreuzigen: Das Weihwasser war eingefroren. Nur der Rhein blieb weitgehend eisfrei: »Bei der Versalzung, Aufwärmung und Chemie« fand dies ein Polizeikommissar aus Bingen nicht verwunderlich.
Züge der Bundesbahn, die offenbar nur im Sommer nicht vom Wetter redet, verspäteten sich um mehrere Stunden. Bei der Münchner S-Bahn funktionierten zeitweilig nur noch die Anzeigetafeln mit den Zugausfällen oder Verzögerungen. Vielen Waggons froren die Türen zu, so fuhren sie leer nach Pasing oder Riem.
Dabei hätten die Südlichter nur einmal zu ihren Schnee-erprobten Nachbarn in der Schweiz zu schauen brauchen, die eine »Kältewelle des Jahrhunderts« (so die Schweizerische Meteorologische Anstalt) erlebten: Die Basler Straßenbahnen fuhren mit zum beheizten Innenraum geöffneten Tür-Schaltkästen, damit die Hydraulik nicht einfror.
Gegen vereiste Weichen, ebenfalls ein bayrisches Problem, helfen den Schweizern automatische und ferngesteuerte Heizungen - die bräuchten nicht noch zusätzlich »einen Mann mit Besen«, so Hermann Wolters, Vizepräsident der Münchner Bundesbahndirektion.
Die Münchner Post, deren Fuhrpark nur mühsam in Gang zu setzen war, brachte wie jeden Tag ihre Briefträger auf die Straßen: »Das ist ein hartes Volk«, lobte ein Pressesprecher, »die stehen auch minus 20 Grad durch.«
Wie lange die frostigen Temperaturen noch anhalten würden, konnte oder wollte keiner der Fernsehmeteorologen prognostizieren. Doch Gerhard Schulz, Landwirt aus Celle, der dem NDR ab und zu sein Wissen andient, entnahm seinem »Jahrhundertkalender«, daß die Kälte noch »bis Ende Februar« dauern werde.
Darüber zeigten sich nur die Wintersportler und die dazu gehörende Industrie begeistert. Auf den Sylter Dünen übten Skifahrer Stemmbogen und Parallelschwung. Die Alpendörfer, allesamt als »Luftkurorte« ausgewiesen, meldeten fortlaufend »klare Sicht, Ski und Rodel gut«.
In den Großstädten gerieten immer mehr Straßen zu Langlaufloipen. In Hamburg kontrollierte ein Schutzmann auf Brettern die Ski- und Rodelpisten der Harburger Berge (siehe Seite 154).
Selbst in der topfebenen Hansestadt, deren höchste Erhebung kaum über die Elbdeiche reicht, gingen »die Geschäfte bombig«, freute sich der Abteilungsleiter Ski eines Sport- und Modehauses.
Bundesdeutschlands Boulevardblätter schauderte es in der Kälte, ihr Wortschatz schien auf Donald-Duck-Niveau eingefroren. So titelte »Bild« schon am 3. Januar »Schnee Brrr!«, Münchens »tz": Brrrr! Eiszeit«. Der Kölner »Express« widersprach mit demselben Laut gar dem Genf-Besucher Gromyko: »Brrrr! Russenkälte«.
»Luxembourg«.