DICHGANS Mann von Eisen
Der CDU-Bundestagsabgeordnete Dr. Hans Dichgans, 59, vielbeschäftigt in Politik und Wirtschaft, wollte seiner Frau Christa, »die ich leider nur selten sehe«, eine »Erholungs- und Bildungsreise« besonderer Art bieten: eine Fahrt in die DDR.
Weil der Christdemokrat für die Einreisegenehmigung keinen Verwandten in Mitteldeutschland nachweisen konnte, nutzte Dichgans seine Beziehungen als geschäftsführendes Vorstandsmitglied der »Wirtschaftsvereinigung Eisen- und Stahlindustrie«, der mächtigen Spitzenorganisation der westdeutschen Schwerindustrie. »Fragen Sie mal drüben, ob das geht«, drahtete er seiner Zweigstelle in, West-Berlin, die mit Verbindungen nach Ost-Berlin gesegnet ist.
Es ging. Die DDR-Regierung schickte die Einreisepapiere für Volksvertreter, Frau und Fahrer. Am Reiseziel Weimar, wo der kunstsinnige, weißhaarige Herr aus Düsseldorf klassische Kulturstätten besah, tauchte »ein junger Mann von
einer Ost-Berliner Behörde« auf, dessen Namen Dichgans »im Interesse der Sache« nicht preisgeben will; er bot Rat und Hilfe an.
Die kurzen Gespräche zwischen Jungmann und Dichgans - im November letzten Jahres - waren das, was die »Welt« jüngst als »vertrauliche Kontakte mit der Zonenregierung« bezeichnete. Gleichwohl war der Kontakt zwischen DDR-Funktionär und CDU-Parlamentarier eine Rarität - und kennzeichnend für den eigenvilligen Stil des Politikers Dichgans.
Obwohl Repräsentant der deutschen Schwerindustrie in Bonn, stimmte der »Mann von Eisen und Stahl« ("Die Zeit") für das - inzwischen aufgehobene - Röhrenembargo gegen die Sowjet-Union und damit auch gegen die Interessen seiner Branche. Der fließend Englisch, Französisch und Italienisch sprechende Katholik entzieht sich gern christdemokratischem Komment. Er kritisierte die westdeutsche Bildungspolitik, forderte die Berufung von Professoren auch ohne Habilitation und regte eine allgemeine Studienverkürzung an ("Unser Bildungssystem ist kein Hochsprungwettbewerb
sondern eher ein Dauersitzwettbewerb").
Und er appellierte, um die »Resignation hier und drüben zu bekämpfen«, an Bundesregierung und Bundestag,
- verbindlich darauf zu verzichten, in der DDR den Zustand von 1946 wiederherzustellen,
- schon jetzt politischen Säuberungsaktionen nach einer Wiedervereinigung zu entsagen.
Der politische Einzelgänger schockte seine Christdemokraten auch mit dem Verlangen nach einer feierlichen westdeutschen Erklärung, eine freie Abstimmung in der DDR auch dann anzuerkennen, »wenn sie gegen die Marktwirtschaft, für den Marxismus-Leninismus, gegen die Wiedervereinigung, für das Verbleiben im östlichen System oder auch nur für eine Konföderation ausfallen sollte«.
In der CDU verschlugen die Dichgans-Ideen nicht. Resigniert empfand
der Industrie-Politiker »die Diskrepanz zwischen Bonner Beteuerungen und völliger Inaktivität« in Sachen Wiedervereinigung. Er schöpfte neue Hoffnung, als die Sozialdemokraten das Deutschland-Gespräch mit der SED ansteuerten, und er beschwor in Gesprächen Bonner Parlamentarier, von dem Gesetz über das freie Geleit für SEDFunktionäre abzusehen, weil es das DDR-Regime unnötig provoziere. Bei der Abstimmung im Bundestag verließ er den Plenarsaal, »eine kavaliersmäßige Lösung« (Dichgans).
Anfang dieses Monats reiste Dichgans wieder für drei Tage nach Dresden, begleitet von seiner Frau, Sohn Martin, 17, und seinem Fahrer, wieder »auf eigene Kosten« ("Das ist Privatsache, laut Absprache mit der Industrie, die ist nur interessiert") und wieder durch Vermittlung seiner Wirtschaftsvereinigung.
Wieder erschien auch »der junge Mann von einer Ost-Berliner Behörde«. Er bot unter anderem die Besichtigung der Porzellanmanufaktur Meißen an. Aber der Industriemann Dichgans wollte nach Eisenhüttenstadt, wo er sich dann freilich nicht in den Hütten, sondern in Läden umsah.
Heimgekehrt, überraschte er den Wohlstandsstaat mit der Idee, die aus dem Marshall-Plan-Vermögen zurückfließenden Mittel von einer Milliarde Mark je Jahr »brüderlich mit der mitteldeutschen Bevölkerung zu teilen«, und zwar im Verhältnis drei zu eins. 250 Millionen Mark sollten den mitteldeutschen Bürgern »geschenkt« werden, 30 Millionen Mark davon für den Neubau der Dresdner Oper ("Sie steht uns weit näher als die Oper in New York").
Eine »derartige Unterstützung« hält Bonns Schatzminister Werner Dollinger (CSU) zwar für unmöglich, da rückfließende Marshall-Plan-Mittel »nur zur Förderung der Wirtschaft eingesetzt« werden dürften. Dichgans aber weiß einen Weg, wie den Dresdnern »ohne politische Bedingungen« und »ohne die juristischen Komplikationen, die sonst alle guten Ansätze torpedieren«, beim Opernbau zu helfen wäre:
Die bundesdeutsche Treuhandstelle für Interzonenhandel, so der Abgeordnete, brauche nur mit Ost-Berlin zu vereinbaren, daß die Zone 30 Millionen Mark für die neue Oper bereitstelle. Dann könnte die Bundesrepublik den entsprechenden Betrag auf dem Verrechnungskonto der Zone gutschreiben, wofür wiederum im Westen Waren zu kaufen seien.
Schließlich rührte der CDU-Parlamentarier an ein Tabu westdeutscher Strafjustiz: »Wir müssen darauf verzichten, Vorgänge in Mitteldeutschland hier zu bestrafen.« Die Verurteilung des desertierten Volksarmisten Hanke (der einen Flüchtling niedergeschossen und dafür in Westdeutschland vor Gericht gestanden hatte) habe nur bewirkt, daß kein DDR-Schütze mehr fliehe.
Der junge Mann von einer Ost-Berliner Behörde, dem er bei seinen Reisen in die DDR begegnete, hatte erklärt, er werde jeden Wunsch des Bonner Parlamentariers nach Gesprächen mit DDRPolitikern erfüllen. Dichgans hatte keinen Wunsch. Doch dem SPIEGEL sagte er: »Ich würde im Einverständnis mit Regierung und Bundestag ruhig mit Volkskammerabgeordneten sprechen.«
DDR-Besucher Dichgans: Bei der Abstimmung Kavalier