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BONN / REGIERUNGSBILDUNG Marke Machthaber

aus DER SPIEGEL 43/1969

Nach dem langen Warten vor den Toren des Palais Schaumburg kann es den Sozialdemokraten nicht schnell genug gehen.

Nur 17 Tage brauchte Willy Brandt, um sich mit dem FDP-Partner Walter Scheel auf ein gemeinsames Regierungsprogramm zu einigen. Die Wahl des Kanzlers, die Vereidigung des Kabinetts und die Wachablösung in den Amtsstuben sollen in dieser Woche, weniger als einen Monat nach der Bundestagswahl, abgeschlossen sein.

Schon am Tag nach seiner Wahl will Brandt sein Kabinett zur ersten Sitzung zusammenrufen. Auch die Regierungserklärung möchte der »Kanzler der inneren Reformen« (Brandt) in Rekordfrist abgeben: am 28. Oktober.

Voraussetzung dieses Terminplans freilich ist, daß die neuen Partner ihre Mehrheit von zwölf Stimmen am Dienstag dieser Woche bei der Kanzlerwahl auch zusammenbringen.

Unter vier Augen hat der freidemokratische Fraktionschef Wolfgang Mischnick in den letzten Tagen jeden einzelnen seiner 30köpfigen Truppe auf die Brandt-Wahl einzuschwören versucht.

In der 224-Mann-Fraktion der Sozialdemokraten war solche Überzeugungsarbeit nicht notwendig. Doch fürchten die SPD-Oberen, daß Unfall, Krankheit, Schläfrigkeit, Genossen-Ärger oder Nebel die knappe Brandt-Majorität gefährden könnten.

Am Dienstag letzter Woche mahnte Fraktionsboß Helmut Schmidt, designierter Verteidigungsminister, seine Truppe zu »eiserner Disziplin": Am Tag vor der Kanzlerwahl dürfe kein sozialdemokratischer Abgeordneter »schnell mal nach Hause fliegen«, weil Nebel seine rechtzeitige Rückkehr verhindern könnte.

Drohend fügte Schmidt hinzu: »Jeder einzelne muß sich darüber klar sein, daß er seine politische Karriere riskiert, wenn er bei der Abstimmung durch eigenes Verschulden fehlt«

Um zu verhindern, daß -- wie bei der Heinemann-Wahl in Berlin -- ein Genosse den Wahlakt verschlafen könnte, hat Schmidt für Dienstag morgen, unmittelbar vor der Kanzlerwahl, eine »Zählsitzung« der Fraktion anberaumt.

Fehlende Mitglieder sollen durch Kuriere herbeigeschafft werden. Alle Genossen mußten vorsorglich bei der Fraktions-Geschäftsführung eine detaillierte Erklärung hinterlegen, wo sie wohnen und »in welchem Bett sie schlafen« (Schmidt).

Aus Sorge um die Mehrheit lehnte es Willy Brandt auch ab, das Fraktionsvolk schon vor der Kanzler-Wahl über seine Kabinettsliste zu informieren. Er wollte keinem Genossen Gelegenheit geben, möglichen Ärger über die Postenverteilung mit dem Stimmzettel abzureagieren. Brandt zu Vertrauten: »Sonst wählt mich vielleicht so mancher nicht.«

Tatsächlich hatte der Regierungsbildner bei der Zusammenstellung seiner Kabinettsliste einige verdiente Parteiveteranen enttäuschen müssen.

So überredete er am Dienstag letzter Woche im Fraktions-Vorstandszimmer unter vier Augen den bisherigen Bundesratsminister Carlo Schmid, 72, zum Verzicht auf einen Kabinettssitz. Schmid hatte ursprünglich dem Zukunftsministerium für Wissenschaft und Bildung vorstehen wollen. Er verzichtete nobel.

Professor Ernst Schellenberg, 62, Sozialexperte und unermüdlicher Rentenrechner der sozialdemokratischen Fraktion, mußte -- zugunsten des IG-Bergbau-Chefs Walter Arendt -- ebenso auf Ministerwürden verzichten wie der Vorbeugehaft-Erfinder Martin Hirsch.

Dennoch machte Brandt den parteieigenen Lobbys Zugeständnisse. SPD-Oberbürgermeister und Wohnungsbau-Direktoren zwangen den SPD-Chef am letzten Mittwoch, die mit dem Koalitionspartner in der Vorwoche vereinbarte Auflösung des Wohnungsbauministeriums wieder rückgängig zu machen und mit Lauritz ("Lau-Lau") Lauritzen einen Minister zu akzeptieren, den Brandt wegen mangelnder Energie am liebsten nicht im Kabinett gehabt hätte. Aufgelöst werden nun die Ministerien für Familie, Post, Vertriebene, Schatz und Bundesrat.

Die mittleren Parteifunktionäre in der SPD-Fraktion (Bonner Jargon: »Kanalarbeiter-Gewerkschaft") und die niedersächsische SPD drückten ihren Kandidaten, den hemdsärmeligen und trinkfreudigen Egon Franke, als Gesamtdeutschen Minister durch. In der Bonner Bier-Kneipe »Rheinlust« stieß Franke schon am letzten Dienstagabend mit Champagner auf seine Minister-Zukunft an.

Das Justizministerium soll Gerhard Jahn erhalten, Jurist und bislang Parlamentarischer Staatssekretär in Brandts Außenamt, der sich durch Fleiß und Loyalität, wenn auch durch nichts sonst, für einen Posten anbot. Jahns Haus soll zu einem Rechtspflegeministerium erweitert werden.

Erheblich erweitert wird das Innenministerium des Freien Demokraten Hans-Dietrich Genscher. Beim Koalitionsgespräch am letzten Mittwoch im Auswärtigen Amt -- es wurden Zigarren der Marke »Machthaber« gereicht -bot die SPD den Kompetenz-Zuwachs als Ausgleich für die Weiterexistenz des Wohnungsbauministeriums an. So wird dem Innenministerium das ganze Vertriebenenministerium angegliedert, daneben erhält es unter anderem die Abteilungen Wasserwirtschaft, Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung aus dem Gesundheitsministerium.

Außerdem bekommt die FDP den Posten des beamteten Staatssekretärs im Ministerium für Wissenschaft und Bildung. Kandidaten: der Saarbrücker Jurist Professor Werner Maihofer und die hessische Kultur-Staatssekretärin Hildegard Hamm-Brücher.

An die Spitze dieses Ministeriums wollte Brandt einen Fachmann setzen, und er gab Auftrag, nach geeigneten Wissenschaftlern Ausschau zu halten. Er selber stieß auf den Karlsruher Kybernetiker Karl Steinbuch, 52, Autor des bildungspolitischen Bestsellers »Falsch programmiert« und SPD-Zeuge in Wahlanzeigen der Partei.

Da Steinbuch zu hohe Etat-Ansprüche stellte, offerierte Brandt das Amt schließlich dem Karlsruher Professor für Grundbau, Tunnelbau und Baubetrieb Hans Leussink, 57, der nach 24 Stunden Bedenkzeit am letzten Donnerstag akzeptierte.

Der Minister-Aspirant ist seit 1965 Präsident des Wissenschaftsrats. einer glücklosen Planungs-Institution, die von Professoren wie Studenten attackiert wird. Der Verband Deutscher Studentenschaften warf dem Leussink-Rat vor, er orientiere sich »nicht an den Möglichkeiten von morgen, sondern an den Versäumnissen von gestern«.

Obwohl am vergangenen Wochenende noch nicht einmal alle neuen beamteten und Parlamentarischen Staatssekretäre feststanden, zeigten sieh erste Auswirkungen des Bonner Machtwechsels auch schon in der Provinz -- so in Köln beim Bundesamt für Verfassungsschutz. Dessen Präsident Hubert Schrübbers. der sieh durch seinen Eintritt in die CDU ein Vierteljahr vor der Wahl als wenig vorausschauend erwiesen hatte, muß damit rechnen. von seinem Stellvertreter, dem Wehner-Protegé Günther Nollau, abgelöst zu werden.

Neben der Suche nach Personen entwarf Willy Brandt letzte Woche bereits die Grundzüge seiner Regierungserklärung, die er gemeinsam mit seinem designierten Vizekanzler Walter Scheel ausarbeiten will.

Arbeitsgrundlage ist das Protokoll der Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und FDP. Darin heißt es

zur Ostpolitik: »SPD und FDP setzen sich dafür ein, daß durch verbindliche Abkommen über Gewaltverzicht und Verzicht auf Gewaltandrohung bis zu der endgültigen friedensvertraglichen Regelung die territoriale Integrität aller Nachbarn und die Unverletzlichkeit der Demarkationslinien, der Grenzlinien und Grenzen im Osten gewährleistet wird«;

zur Verteidigungspolitik: »Bei der Heranziehung zum Wehrdienst müssen die Ausnahmen entscheidend eingeschränkt werden; Wehrdienstverweigerer müssen zum Ersatzdienst herangezogen werden; eine Wehrsteuer wird nicht erhoben. Die Möglichkeit der Verkürzung des Wehrdienstes unter besonderer Berücksichtigung der erhöhten Wehrgerechtigkeit wird von den Koalitionspartnern überprüft.«

Helmut Schmidt hat nicht nur als künftiger Herr der Hardthöhe auf Programm und Struktur der Regierung Einfluß genommen, sondern auch als künftiger Bewerber um die Brandt-Nachfolge. Wie sein CDU-Vorgänger im Verteidigungsministerium, Gerhard Schröder, so hat auch Schmidt das Palais Schaumburg im Visier.

Erstes Ziel ist dort Brandts Zuarbeiter, der künftige Kanzleramts-Minister Horst Ehmke. Im »Unterbundeskanzler Ehmke« ("Frankfurter Allgemeine") sieht Schmidt einen Konkurrenten heranwachsen.

Bevor Schmidt endgültig den Fraktionsvorsitz abgab und das Verteidigungsressort akzeptierte, traf er sich zweimal mit Ehmke zu Gesprächen von Mann zu Mann und versuchte, die Machtfülle des Brandt-Gehilfen zu beschränken,

Doch Ehmke ließ nur größere Ziele gelten: »Jetzt geht es nicht um Kronprinzen-Spielereien. Es geht darum, acht bis zwölf Jahre Willy Brandt zu sichern.«

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