
Dieser Beitrag wurde am 11.11.2016 auf bento.de veröffentlicht.
Interview mit Martin Schulz
Schulz soll Kanzlerkandidat für die SPD werden – Sigmar Gabriel will den Posten nicht (bento). Anfang November hatte Schulz uns ein Interview gegeben, damals war er noch EU-Parlamentspräsident.
Wir treffen den SPD-Politiker Martin Schulz in der Vertretung des Europäischen Parlaments in Berlin, Unter den Linden, vierter Stock. Wir wollen über drei Themen sprechen, die viele von uns derzeit besonders bewegen: der Umgang mit Rechtspopulisten, die Integration von geflüchteten Menschen und das Leben nach dem Brexit.
Was sagt Martin Schulz dazu?
1. Rechtspopulismus in Europa
Vor der Landtagswahl diskutierten Gymnasiasten aus Mecklenburg-Vorpommern mit Politikern der Jugendorganisationen von SPD, CDU, Grünen und Linkspartei. Die AfD war nicht eingeladen – und genau darüber beschwerten sich die Schüler. (SPIEGEL ONLINE)
Einer fragte:
"Ich gehe der AfD nicht aus dem Weg, ich bin ja jeden Tag mit ihr konfrontiert. Schließlich ist die AfD nicht nur im Europaparlament vertreten, sondern auch in vielen Landtagen.
Ich würde dem jungen Mann mit einer Gegenfrage antworten: Hast du nicht eher den Eindruck, dass die AfD einer ernsthaften Debatte aus dem Weg geht, indem sie nur Vorurteile und Ressentiments mobilisiert – und es deshalb sehr schwierig ist, sich auf sachlicher Ebene mit ihr auseinanderzusetzen?"
Auf dem Twitter-Profil der Jungen Alternative, der Jugendorganisation der AfD, haben wir das gefunden:
"Genau das meine ich: 'Umvolkung' ist ein Begriff des Dritten Reichs. Wenn bereits Kinder unter fünf Jahren in dieser Form stigmatisiert und als Fremdkörper bezeichnet werden – denn das soll ja ausgedrückt werden – dann ist das eine fundamentale Verletzung der Prinzipien unseres Staates.
Genau deshalb ist es so schwierig, die AfD als einen Teil des demokratischen Spektrums zu akzeptieren. Man muss ihre aus freien Wahlen hervorgegangene Präsenz respektieren, aber man muss keineswegs ihre Argumente akzeptieren."
Was sagen Sie zu so einem Tweet?
"Das ist Hetze. Klassische Hetze."
Vor einigen Monaten warfen Sie einen Abgeordneten der griechischen Neonazipartei "Goldene Morgenröte" aus dem EU-Parlament (bento). Das Video erreichte Hunderttausende Menschen in den sozialen Netzwerken – so viel Aufmerksamkeit bekommt das EU-Parlament selten. Würde es helfen, wenn Politik immer so social-media-wirksam gestaltet wird?
"Das glaube ich nicht. Klar, die sozialen Medien spielen eine ungeheure Rolle in der politischen Gestaltung und inzwischen auch in der politischen Entscheidungsfindung. Über die sozialen Netzwerke kann man heute viel schneller öffentliche Debatten auslösen. Aber es wird keine social-media-konforme Demokratie geben.
Als ich von der Aussage erfuhr, handelte ich intuitiv: Ich wollte zeigen, wo die Grenze ist – und das ist zum Glück gelungen. Die Grenze ist da überschritten, wo anderen die Würde abgesprochen wird, und das hat dieser griechische Abgeordnete getan."
Der Rauswurf im Video
Nur wenige Menschen erreichen über Social Media ein so großes Publikum. Wie können sie trotzdem ein Zeichen gegen Rassismus und Ausgrenzung setzen?
"Ganz viele Leute machen das schon, gerade in Ihrem Alter. Ich sehe jede Menge Buttons mit Sprüchen gegen Rechts, T-Shirts, Aufkleber. Das alles sind öffentlich sichtbare Botschaften. In der Zeit, in der wir heute leben, gehört dazu Mut.
Ein Kennzeichen der sozialen Medien ist ja oft Anonymität. Umso mehr ist es anzuerkennen, wenn Leute diese Anonymität nicht für sich reklamieren, sondern durch ein sehr bewusstes Zeichen ihre Haltung erkennbar machen. Ich finde, dass junge Männer und Frauen da häufig viel mutiger sind als ältere."
2. Die Flüchtlingsfrage
Der Bundespräsident lud vor ein paar Wochen junge Leute ins Schloss Bellevue und fragte sie, wie sie sich Deutschland in 20 Jahren vorstellen. Immer wieder sprachen sie dabei über Flüchtlinge und Integration. (bento)
Samim Noori, 24, sagte:
"Schon heute feiern Bürgerinnen und Bürger mit unterschiedlichem familiären Hintergrund zusammen Weihnachten und andere Feste. Ich habe selbst auch schon mehrfach das Zuckerfest mitgefeiert. 2036 wird es hoffentlich nichts Besonderes mehr sein."
Ahmad, 20, kommt aus Qamischli, Syrien, und lebt jetzt in Bremen. Was er erzählt, stimmt eher pessimistisch:
"Ich glaube, dass die überwältigende Mehrheit in unserem Land anders denkt. Wir müssen dennoch sehr ernst nehmen, was Ahmad sagt. Die individuelle Erfahrung eines Menschen prägt sein Bild von unserer Gesellschaft.
Deshalb müssen wir dringend dafür sorgen, dass das nicht seine einzigen Erfahrungen bleiben, sondern dass er auch die Leute kennenlernt, die ihn aufnehmen wollen, die helfen, die offen sind und die Verständnis für seine Situation haben."
Was kann jeder Einzelne von uns beitragen?
"Wir alle haben Vorurteile. Aber ich halte es für extrem wichtig, sich die Mühe zu machen, sie nicht einfach so zu haben – sondern sie durch Neugierde, durch Kennenlernen und durch individuelle Erfahrungen abzubauen. Zu jungen Leuten würde ich immer sagen: Geht doch mal hin und fragt einfach mal."
3. Die Zukunft Europas
Am 23. Juni stimmte eine Mehrheit der Briten für den Austritt Großbritanniens aus der EU. In London gingen daraufhin vor allem junge Menschen auf die Straße und protestierten mit Plakaten wie diesen:
Was haben Sie gefühlt, als sie von dem Ergebnis erfuhren?
"Als ich nach der Brexit-Abstimmung die Tränen von vielen jungen Leuten in Großbritannien gesehen habe, hat mich das tief berührt. Als ich dann las, dass mehr als 70 Prozent der Unter-25-Jährigen für Remain gestimmt hatten, hat mich das wieder ein bisschen aufgerichtet. Denn damit haben die Jungen ein klares Signal für Europa ausgesendet."
Was sagen Sie diesen jungen Briten jetzt?
"Ich glaube, wir werden erst nach und nach verstehen, was da abgelaufen ist. Wir müssen begreifen, dass die Entscheidung für die nächste Generation in Großbritannien ein schwerer Schlag ist.
Großbritannien hat sich für den Austritt entschieden. Gleichzeitig können wir uns aber nicht erlauben, eine ganze Generation junger Britinnen und Briten zu verlieren. Für die zukünftige Zusammenarbeit brauchen wir gerade sie. Ich habe noch keinen endgültigen Plan, wie wir das lösen."
Ist die EU am Ende?
"Nein, eine Konsequenz aus dem Austritt Großbritanniens muss sein, dass wir in manchen Bereichen verstärkt zusammenarbeiten – aber eben auch deutlicher machen, dass die EU intensive Reformen braucht."
Wie das?
"Im Klartext: Es gibt Felder, in denen wir mehr Europa, mehr Zusammenarbeit, brauchen. Bei der Terrorismusbekämpfung zum Beispiel. Und das muss erklärt und dafür muss geworben werden.
Wir müssen zugleich aber auch sagen: Nicht alles muss in Brüssel entschieden werden. Wasserverbrauch zum Beispiel kann man reduzieren, indem man vereinheitlichte Toilettenspülungen beschließt – oder indem man die regionale Ebene entscheiden lässt. Die andalusische Regierung kennt sich besser aus mit dem Wassermanagement in ihrer Region als Brüssel.
Wenn wir dahin zurückkehren, dass wir die globalen Ziele der EU runterbrechen auf regionale Aktionen, würden sich die Menschen meiner Meinung nach wieder mehr mitgenommen fühlen."
Junge Briten stimmten mehrheitlich für Remain, alte für Leave. Ähnlich sah es bei der US-Wahl am Dienstag aus: Junge Menschen stimmten eher für Clinton, alte für Trump. Dieser Tweet fasst den Generationenkonflikt gut zusammen:
"Der Konflikt ist nicht neu. Die junge Bundesrepublik wurde bezeichnet als die 'Herrschaft der alten Männer'. Doch dann kamen junge Leute, Willy Brandt oder Helmut Kohl zum Beispiel, die sagten: 'Über unsere Zukunft entscheiden alte Leute? Das geht so nicht!' Plötzlich gab es einen Aufstand der Jungen, eine Revolte: Sie traten massenhaft in Parteien und Organisationen ein.
Heute verschärft sich dieser Konflikt, weil die jüngere Generation zahlenmäßig in der Minderheit ist, das stimmt. Umso mehr bedarf es des politischen Engagements. Umso mehr müssen sich aber Organisationen auch für junge Leute öffnen."
Wir sollen also eine Revolte starten?
"Na, das war jetzt kein Revolutions-Aufruf. Aber beim Brexit hat man gesehen: Die 'Meine Stimme zählt ja nicht'-Haltung funktioniert nicht. Jüngere haben die Pflicht, sich zu engagieren.
Umgekehrt ist auch meine Generation gegenüber den Jüngeren in der Pflicht. George Bernard Shaw, ein irischer Schriftsteller, hat einmal gesagt: 'Hütet euch vor alten Männern, denen ist die Zukunft egal.' Uns darf die Zukunft nicht egal sein."
Zum Abschluss: Was raten Sie jungen Menschen vor der Bundestagswahl 2017?
"Ich sage nicht 'Engagier dich' oder 'Geh wählen'. Denn jeder engagiert sich heute auf seine Art. Und Wählengehen ist eine Bürgerpflicht, das sollte sowieso jeder.
Ich selbst habe mich erst als Schülersprecher engagiert, dann in der Partei. Dadurch habe ich festgestellt: Du kannst wirklich etwas beeinflussen. Aber ich habe auch festgestellt, dass sich am Ende in der Demokratie nichts bewegt, wenn du keinen Mut hast.
Ich würde mich auf ein altes Sprichwort beziehen: 'Den Mutigen gehört die Welt.' Mut haben – Mut, sich da, wo man ist, zu äußern. Das ist mein Rat."
Einfach mal machen? Diese jungen Menschen halfen am Hamburger Hauptbahnhof, als dort viele Flüchtlinge ankamen. Hier erzählen sie, wie die Erfahrungen sie verändert haben:
Flüchtlingshelfer vom Hamburger Hauptbahnhof – ein Jahr danach