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PRODUKTE / JERSEY Masche in der Mappe

aus DER SPIEGEL 13/1968

In den Werkhallen von Max Boese, 1 60, scheppert es rund um die Uhr, auch sonntags, auf 80 Strick-Türmen. Die vier Meter hohen Automaten fertigen einen Stoff, der vor 700 Jahren erfunden und im vergangenen Jahr zum heißesten Tip der Textilbranche erkoren wurde: Jersey.

Das Recenia Textilwerk von Max Boese in Raunheim bei Frankfurt erstrickte zwölf Prozent Marktanteil und war damit größter Nutznießer der Jersey-Welle, die den 35 westdeutschen Produzenten im Krisenjahr 1967 ein Umsatzplus von rund 20 Prozent in die Kassen spülte. Das war fast genausoviel, wie die Wollweber verloren.

Fischer der englischen Kanalinsel Jersey entdeckten im 13. Jahrhundert die Vorzüge des feingestrickten Materials: Der Stoff läßt sich außerordentlich dehnen und verliert dennoch nicht die Form, er ist luftdurchlässig und knittert nicht. Für die Neuzeit bietet Jersey aus synthetischen Fasern den zusätzlichen Vorteil, auch Waschmaschine und Trockenschleuder ohne Knautschfalten zu überstehen.

Aber den großen Aufschwung ermöglichten erst die verfeinerten Rundstrick-Maschinen, mit denen man, so Boese, »alles machen kann«. Statt gleichförmigen Maschenwerks liefern sie je nach Programm so vielfältige Variationen wie Webstühle: von 100 Gramm Gewicht pro Meter bis 800 Gramm, von Jacquard- und Stickerei-Effekten bis zu Tweed und Waffelstruktur, von Hahnentritt oder Streifen bis zu Blumen- und Vogelmustern.

Die Strickriesen kosten 70 000 bis 100 000 Mark, aber sie sichern ihren Besitzern einen entscheidenden Vorsprung vor der webenden Konkurrenz. Stündlich 23 Meter Jersey-Schlauch, der zu 150 Zentimeter breiten Bahnen aufgeschnitten wird, spult eine Rundstrickmaschine ab; ein Webstuhl dagegen fertigt in der gleichen Zeit nur vier bis fünf Meter Stoff.

Schneller als jeder Weber kann der Jerseystricker mithin Modemaschen nutzen. In wenigen Minuten lassen sich die automatischen Ungetüme auch auf die Produktion kleiner Musterlappen umstellen, so daß der Fabrikant neue Dessins unverzüglich seinen Großabnehmern zum Geschmackstest präsentieren kann. Weber müssen dafür etwa das Achtfache an Zeit und Material aufbringen.

Immer mehr Weber und Spinner stellen daher Rundstrickmaschinen auf, damit sie beim Geschäft mit dem »Stoff des Jahrhunderts« (Gesamtverband der deutschen Maschen-Industrie) nicht zu kurz kommen. Heute stricken unter anderen die Hülser Seidenweber Beckers & Lc Hanne, die Hofer Spinnerei Neuhof und die Baumwollweberei Nino in Nordhorn.

Über 25 Millionen Meter Jersey im Wert von rund 210 Millionen Mark quollen im letzten Jahr von den Stricktürmen, ein Drittel aller verkauften Damenkleider (1965: ein Siebtel) war bereits Maschenmode.

Einen ganz neuen Markt peilt Max Boese an. Der graue Anzug mit Nadelstreifen, den er seit Wochen trägt, ist aus Recenia-Jersey gestrickt. Boeses Ziel: »Der Anzug zum Wechseln in der Aktentasche.«

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