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VERBRAUCHER / NADER Massive Lügner

aus DER SPIEGEL 21/1970

Frankfurter Würstchen zählt er wegen ihres hohen Fettgehalts zu den »gefährlichsten Raketen, die dieses Land herstellt«. Den VW hält er für so gefährlich, daß »es schwer sein wird. einen gefährlicheren Wagen zu finden«.

Er warnt Amerika vor Glutamaten in der Baby-Nahrung und radioaktiven Strahlen der Röntgengeräte; er kritisiert sanitäre Anlagen in der Fisch- und Fleischindustrie, wo die Prüfer die Frische eines Schinkens am Geruch testen: Sie stecken einen Eispickel in das Fleisch und beschnuppern ihn dann (siehe Photo Seite 148).

Er, das ist der »Schutzheilige der Verbraucher« ("The Washington Post"), Rechtsanwalt Ralph Nader, 36.

Seit mehr als fünf Jahren führt er einen Feldzug gegen die Allmacht der Großindustrie, gegen schlechte und gefährliche Produkte. Seit mehr als fünf Jahren ist er für Millionen Amerikaner Symbol des Widerstandes gegen betrügerische Verkaufspraktiken.

Fast immer kämpfte er im Alleingang, und dennoch hat Ralph Nader, so der New Yorker Kongreßabgeordnete Benjamin 5. Rosenthal, mit seinen Attacken »mehr erreicht als das ganze Establishment zusammen

Jetzt will der Anwalt aus Washington erneut gegen seinen mächtigsten Gegner vorgehen, den US-Automobilkonzern General Motors (Firmenmotto: »Was gut ist für General Motors. ist gut für die Vereinigten Staaten").

Zusammen mit einigen Mitstreitern erwarb Nader zwölf Aktien des Konzerns und darf nun am Freitag an der Aktionärsversammlung von General Motors (GM) in Detroit teilnehmen. Naders Ziel: Die 1,35 Millionen GM-Aktionäre sollen sich nicht nur »hölzerne Vorträge über die Gesamtbilanz« anhören, sondern dem größten Konzern der Welt den Kampf ansagen.

Denn auch die Aktionäre sind, so Nader, »Opfer der Luftverpestung' verstopfter und ungenügender Transportsysteme sowie raketenähnlich steigender Reparaturrechnungen für schäbige Handwerksarbeit«. In einer Abstimmung sollen sie das GM-Management zwingen, künftig gegen die Verpestung von Wasser und Luft und für den Bau verkehrssicherer Automobile zu arbeiten.

Die Automobilbauer sind seit je Naders Zielscheibe im Kampf für den Verbraucher. 1965 bereits veröffentlichte der Verbraucheranwalt sein Buch »Unsafe at Any Speed« (Unsicher bei jeder Geschwindigkeit). Detroits Autobauer, so Nader, seien mitschuldig am Tod von jährlich etwa 50 000 Verkehrsopfern, weil sie verkehrsuntaugliche Wagen bauten.

»Eindrucksvoll und überzeugend«, lobte das Industrieblatt »The Wall Street Journal« das Nader-Buch. Innerhalb weniger Monate wurden 450 000 Exemplare verkauft; nahezu jeder Automobil-Manager in Detroit, so berichtete »Life«, hatte ein Exemplar des Buches auf dem Schreibtisch, und »sobald sie darüber sprechen, können sie nur mühsam verhindern, daß ihre Stimmen lauter werden«.

Sie bezeichneten Nader als einen Mann, »der keine Ahnung von Automobilen hat« (Henry Ford II), konnten aber nicht verhindern, daß sich immer mehr Amerikaner Naders Thesen zu eigen machten: Die Verkaufszahlen des von Nader als besonders gefährlich kritisierten GM-Mittelklassewagens »Corvair« sanken um 93 Prozent; im vorigen Jahr stellte General Motors die Produktion ein.

General Motors ließ nach Erscheinen des Nader-Buches Detektive im Privatleben des Rechtsanwalts nach Affären mit »Frauen, Jungen und so weiter« ("Time") schnüffeln, doch Nader entdeckte seine Schatten. Vor einem Senatsausschuß mußte sich GM-Präsident James M. Roche bei Nader entschuldigen; der Anwalt verklagte den Konzern auf 17 Millionen Dollar Schadenersatz für die Verletzung seines Privatlebens.

Dieses Privatleben kennt kein Auto und keinen Fernsehapparat -- Nader fürchtet, irgendeiner Marke den Stempel seiner Zustimmung aufzudrücken.

Die Adressen und Telephonnummern seines Zimmers und seines kleinen Büros in Washington gelten als geheim. Seine Vertrauensmänner trifft er in Hotel-Lobbys oder auf Spaziergängen, bei denen ihn niemand begleiten darf.

Wie ein Agent sammelt Nader geheime Sitzungsprotokolle und Behörden-Memoranden. Der Anwalt über seine Arbeitsmethode: »Ich brauche die Abgeschlossenheit, denn allzuviel von dem, was ich tue, muß vertraulich und geheim bleiben.«

Die Ergebnisse seiner Arbeit freilich bleiben nicht geheim. In Zeitschriften-Artikeln und Vorträgen klärt Nader die Nation über die Mängel ihrer Wirtschaft und Industrie auf.

Die Folge: Der »Naderismus« ("Life") erfaßte inzwischen die USA. Immer häufiger boykottieren amerikanische Hausfrauen jene Supermärkte, die Lebensmittel zu überhöhten Preisen anbieten, immer häufiger gehen die Amerikaner mit ihren Klagen vor Gericht.

Allein im vorigen Jahr gingen bei amerikanischen Gerichten über 300 000 Strafanträge gegen Firmen ein, die angeblich gesundheitsschädliche oder gefährliche Produkte auf den Markt geworfen hatten oder aber mit unlauteren Werbetricks arbeiteten.

So wurden in Chikago die Pächter von 121 Tankstellen bestraft: Sie hatten an der Straße niedrige Werbepreise für Benzin versprochen, nach dem Tanken aber Aufpreise kassiert.

Die Food and Drug Administration, Amerikas Aufsichtsbehörde für Nahrungs- und Arzneimittel, erklärte über 300 auf dem Markt angepriesene Medikamente für wert- und nutzlos.

Mit seiner Kritik an den Mißständen bewirkte Nader, daß der amerikanische Kongreß mittlerweile über 20 weitreichende Gesetze zum Schutz der Verbraucher verabschiedete. Über weitere Schutzvorschriften wird gegenwärtig in den Kongreßausschüssen beraten.

Auf Naders Betreiben ordnete US-Präsident Richard Nixon sogar an, die Praktiken der US-Handeisbehörde zu untersuchen. Nader hatte festgestellt, daß die Behörde, die eigentlich das Gebaren der Industrie kontrollieren soll, häufig mit den Firmenbossen gemeinsame Sache machte.

»Er ist wohl der außergewöhnlichste Mann' der jemals an dieser Schule einen akademischen Grad erhielt«, lobte die Zeitung der renommierten »Harvard Law School« den Harvard-Absolventen Nader.

An den Universitäten ist Nader denn auch besonders populär. 1968 schon halfen ihm sieben Studenten bei seinen Forschungen, im vorigen Jahr waren es bereits 102. Als »Nader's Raiders« (Naders Stoßtrupp) spürten sie nach Mißständen in Regierung und Wirtschaft. In diesen Sommerferien sollen sogar 700 Studenten für Nader tätig werden. Nader finanziert Kreuzzug und Kreuzzügler -- die Studenten erhalten eine Entschädigung von 500 bis 1000 Dollar -- aus Stiftungen privater Verbände sowie mit seinen Honoraren (50 bis 1000 Dollar für einen Artikel oder Vortrag). Die Tantiemen aus seinem Auto-Bestseller (60 000 Dollar) verwendete er fast ausschließlich für seine Kampagne.

Trotz seiner bisherigen Erfolge ist der Anwalt noch nicht zufrieden. Nader: »Der Kampf der Verbraucher hat gerade erst begonnen.« Denn noch immer werden die Verbraucher »manipuliert, belogen und verletzt -- nicht nur durch mittelgroße Betriebe oder undurchsichtige Betrüger, sondern auch durch Firmen des Establishments«.

Die mächtigsten Vertreter des Industrie-Establishments, die Manager von General Motors, bezeichnete er vor 650 Einzelhändlern in Washington schlicht als »massive Lügner«.

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