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SPRACHE Mauerspecht und Wendehals

Zwischen 2000 und 3000 Wörter mußten die Ostdeutschen nach der Wende neu lernen, die Westler nur ein Dutzend - ungerechte Folge der Einheit.
aus DER SPIEGEL 12/1997

Eine nostalgische Kaffeerunde im Jahr sieben der deutschen Einheit. Einer bekennt, er habe sein Plansoll nicht erfüllt, sein Kollege droht mit einem Eintrag ins Brigadetagebuch. Unwörter wie Kader, Kollektiv oder Zielstellung schwirren um den Tisch.

Der Plausch im schönsten DDR-Deutsch gehört zu den Lieblingsspielen des Sprachforschers Manfred Hellmann, die er mit seinen drei Kollegen aus Ostdeutschland, allesamt Wissenschaftler am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim, betreibt. Der 60jährige ist einer der wenigen Westdeutschen, die sich seit langem professionell mit der Sprachentwicklung in Deutsch-Ost beschäftigen.

Seit den sechziger Jahren hat Hellmann an Sprachbesonderheiten gesammelt, was ihm bei Besuchen drüben aufgefallen war und was er bei der Lektüre des SED-Zentralorgans neues deutschland nicht verstanden hatte; das nicht erfaßte Zimmer ebenso wie die Reko-Wohnung, die territorialen Bindungen ebenso wie das Abprodukt und das Zielprogramm. Nicht zu vergessen der Volkspolizist, der seiner Wache 35 Personen zugeführt hatte. Von jedem DDR-Ausflug brachte der Sprachexperte einen Zettelkasten mit neuen Vokabeln mit; in seiner kleinen engen Handschrift hatte er die Sprachtrouvaillen aus dem Osten notiert.

Aus Hellmanns Sammelwut entstand schon 1980 am Mannheimer Institut für Deutsche Sprache ein »Kleines Wörterbuch des DDR-Wortschatzes« mit insgesamt 800 Kernvokabeln des SED-Staates. 1992 folgte ein dreibändiges Konvolut - »Wörter und Wortgebrauch in Ost und West«.

Derzeit arbeitet Hellmann an einem Wörterbuch der Wendezeit. Aus insgesamt 3,4 Millionen Wörtern, aufgelesen in Flugblättern, Volkskammer- und Bundestagsprotokollen sowie Zeitungsartikeln vom Mai 1989 bis Ende 1990, hat er 1600 Schlüsselbegriffe gefiltert - darunter schnell wieder verschwundene Wörter wie Exodus, das im Herbst 1989 zum Synonym für die Massenflucht aus dem SED-Staat wurde, aber auch Dauerbrenner wie Mauerspecht oder Wendehals.

Wer unter bevormunden nachschlägt, findet chronologisch geordnet sowohl ein Zitat von Erich Honecker, der im Juli 1989 die Bundesrepublik davor warnte, die DDR bevormunden zu wollen, als auch Christa Wolfs Satz auf der Ost-Berliner Großdemo am 4. November 1989: »Es ist wahr: dumpf, geduckt, bevormundet haben wir gelebt.«

Zwischen 2000 und 3000 westdeutsche Wörter, hat Hellmann errechnet, mußten die Ostdeutschen nach der Vereinigung büffeln: »Vokabellernen gehörte zu den Hauptbeschäftigungen der DDR-Bürger nach dem Mauerfall.« Der Mannheimer Sprachforscher bewundert die im Westen weithin ignorierte Anpassungsleistung der Ostbürger geradezu: »Was für ein furchtbarer Identitätsverlust.« Die Westdeutschen ihrerseits übernahmen gerade mal ein Dutzend ostdeutscher Ausdrücke wie Broiler, Datsche und Grüner Pfeil oder Fakt ist, abnicken und etwas andenken.

»Mehr als 800 Wörter aus der DDR landeten auf dem Müllhaufen der Sprachgeschichte«, sagt Hellmann bedauernd. In vielen Fällen waren Ostwörter Dubletten westdeutscher Begriffe und damit überflüssig - etwa Kaufhalle (westdeutsch: Supermarkt), Plastebeutel oder Kaderakte.

Millionen Menschen fanden sich über Nacht zu Schülern degradiert, mußten sich mit Wörtern quälen, die in ihrem Leben bis dahin nie vorgekommen waren - Arbeitslosengeld und Einkommenssteuererklärung, Fußgängerzone und Konkurs, Makler, Rendite und Zwangsversteigerung.

Massenweise riefen in den Monaten nach dem Mauerfall verunsicherte Ostler in Zeitungsredaktionen an. Ratgeberseiten lehrten die Ostdeutschen das ABC des Westens. Noch 1993, drei Jahre nach der Einheit, richtete das germanistische Institut der Universität Halle ein »Sprachberatungstelefon« ein. Bis heute haben 7000 Menschen angerufen, um sich aufklären zu lassen oder ihre linguistische Not zu beklagen.

Inzwischen haben die Neubürger der Republik ihre Lektion gelernt - mit in 40 Jahren Sozialismus antrainierter Gründlichkeit. Selbst Experten können Ost- und Westdeutsche am Wortschatz mittlerweile kaum noch unterscheiden, allenfalls am Dialekt. Als Hellmann von einer Frau aus Sachsen wissen wollte, wo sie zur Schule gegangen sei, antwortete die: »In Halle aufs Gymnasium.« Erst als Hellmann, weil es in der DDR kein Gymnasium gab, nachfragte, korrigierte sie sich: »Ich meine natürlich auf die EOS, die erweiterte Oberschule.«

Mit einigen ideologisch befrachteten gesamtdeutschen Wörtern haben die Ostdeutschen noch immer Probleme. Für DDR-Bürger etwa war Solidarität die euphemistische Umschreibung dafür, daß die Arbeiterklasse zu machen hatte, was die Partei wollte. Kein Wunder, wenn Ostdeutsche noch immer zusammenzucken, sobald Gewerkschafter die Solidarität der Arbeitnehmer einfordern. Und wenn ein Westdeutscher für Überzeugungsarbeit wirbt, denkt der Deutsche Ost bloß an Agitation und Propaganda für den real existierenden Sozialismus.

Hellmanns Kollegen frotzeln, mit dem Wende-Wörterbuch gehe dem Sprachforscher nun endgültig sein Lieblingsthema verloren. Doch der lächelt nur milde: Er hat da bereits »etwas angedacht«.

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