Medea in Northeim
Man leidet mit ihr, doch man leidet auch an ihr. Man wendet sich ihr zu und fühlt sich im gleichen Augenblick abgestoßen. Man wehrt sich gegen sie, wie man sich wohl gegen das Ertrinken wehren würde.
Helga Nixdorff, 35, hat ihre drei Kinder Susanne, 6, Peter, 4. und Jutta, 3, am späten Nachmittag des 29. Januar 1974 in Northeim in der Badewanne ertränkt. Schon zweimal hat sie deswegen vor Gericht gestanden. Im November 1975 wurde sie in Göttingen zu einer Freiheitsstrafe von sechs Jahren verurteilt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hob dieses Urteil auf.
Im März 1977 erkannte ein Gericht in Göttingen auf Freispruch. Auch dieses Urteil akzeptierte der BGH im Juli 1978 nicht. Er hob es auf und verwies »die Sache«, wie es unter Juristen heißt, an das Schwurgericht in Braunschweig zurück. Wenn der Strick riß, hat man in weniger aufgeklärten Jahrhunderten dem zum Tode Verurteilten das Leben geschenkt.
Daß der BGH nicht wieder nach Göttingen, sondern nach Braunschweig zurückverwies, macht es noch schwerer, über die dritte Hauptverhandlung zu schreiben. Denn in dem Saal, in dem nun gegen Helga Nixdorff verhandelt wird, ist im Oktober 1966 schon einmal gegen eine Frau verhandelt worden, die ihre Kinder getötet hatte, Im SPIEGEL wurde das damals so beschrieben:
Weinend saß sie da. Nein, die Kinder haben sich nicht gefürchtet auf dem nächtlichen Weg durch den Schnee und als das Wasser donnerte. » Die heben nie gedacht, daß Mami sie ins Wasser wirft. Die Kinder töten? Nein, das hätte ich nie getan, ich schwöre Ihnen das. Aber sie haben mich nicht gelassen ... Ich schwör's Ihnen, daß ich die Kinder geliebt hab. Ich hätte mich zerfleischen lassen für sie. Ich hätte niemals irgend so etwas tun können, sie blutig schlagen. Ich hab' sie getötet, aber das brauchte ja niemand zu wissen
Sie ging mit Detlev und Jörg zum Wehr und sagte: »Ihr braucht keine Angst haben.« Es war, als sei das eine Verschwörung zwischen ihr und den Kindern. Mit. einander wollten sie es dem Leben eintränken. Aber dann waren die Kinder im Wasser, und sie erlebte den Augenblick, in dem es zu spät ist für alles; in dem aus etwas, womit einer spielen, drohen mag und was er noch in Freiheit zu erwägen meint -- plötzlich etwas Unwiderrufliches geworden ist: eine Tat, die nicht einmal der Selbstmord einholen kann.
Sie rannte am Geländer entlang: »Hasen, Hasen, Mami kommt.« Und tonlos beschwor sie in Braunschweig ein Bild der Schuld, das keinem Dichter, sondern nur dem in Schuld Verzweifelten gelingt: »Aber das ist gewesen, als ob sie Steine gewesen wären. So schnell waren sie weg.«
Damals führte nichts an der lebenslangen Freiheitsstrafe vorbei. Nur ein Gutachter wurde gehört. Er konnte keine Schuldunfähigkeit, ja nicht einmal verminderte Schuldfähigkeit feststellen. Heute, 1979, in der Verhandlung gegen Helga Nixdorff, werden nicht weniger als drei Psychiater und zwei Psychologen gehört. Und man ringt darum, ob es um Mord oder Totschlag geht. Die verminderte Schuldfähigkeit wird auch von der Anklage nicht angezweifelt und sogar die Schuldunfähigkeit steht zur Diskussion.
Man ist erbittert darüber, daß mehr als fünf Jahre nach der Tat noch immer verhandelt wird. Der Ablauf dieses Strafverfahrens ist ein juristischer Exzeß, den auch drei getötete Kinder nicht rechtfertigen. Doch dann fällt einem wieder die Frau ein, die 1966 verurteilt wurde. Sie war unehelich geboren, wuchs in trostlosen Verhältnissen auf. Später hatte sie mehrere Kinder, nicht nur die beiden, die sie getötet hat.
Die Kinder: Das war immer ihr Versuch, mit einem Mann etwas zu gründen, Boden zu fassen, ans Ufer zu kommen. Scheiterte der Versuch: Dann glitt sie fort, fort von dem Mann, den Kindern. Der letzte Mann, an den sie geriet, machte betrügerischen Konkurs. Es blieben 87 000 Mark Schulden. Die arbeitete sie herunter bis auf 30 000 Mark. Doch dann schrieb ihr der Mann aus der Strafanstalt, es sei das beste, wenn man sich trennen würde.,, Die Kinder bleiben alle bei mir, ja, das habe ich gesagt«, so stand er 1966 als Zeuge vor Gericht. Und seine Frau, die Angeklagte, sollte ihr Motiv dafür nennen, (laß sie die Kinder getötet hatte ...
»Ich hab' mir immer gedacht, ich muß ihm weh tun ... Daß ich für ihn die ganzen Jahre gearbeitet habe. Daß ich alles für ihn angeschafft habe. Sie müssen mich doch verstehen. Aber das versteht man ja nicht.«
Und die Frau, für die es 1966 nur lebenslang geben konnte, wurde auch gefragt, warum sie ihre Tat überlebt habe.
Das habe ich damals der Kripo gesagt, daß ich mir das Leben nehmen wollte. Das haben sie mir nicht geglaubt. Das war der Trotz in mir.« Kühl der Vorsitzende dagegen.,, Ja, nun haben Sie aber die beiden Kinder hineingeworfen. Sie selber haben sich nicht ein bißchen naß gemacht.« Verzweifelte Antwort, während das Publikum zischt: »Wenn ich mich getraut hätte, in das Wasser zu springen. Aber dann habe ich mich gegraut. Ich war so allein.« Müssen wir unsere Erbitterung darüber, daß gegen Helga Nixdorff mehr als fünf Jahre nach ihrer Tat noch immer und zum drittenmal verhandelt wird, mit der Veränderung seit 1966 verrechnen? In Hannover: Freispruch für eine Mutter, die ihre beiden Kinder tötete, wegen Schuldunfähigkeit. In Flensburg: Einweisung einer Mutter, die ihr Kind tötete. Das sind nur zwei Beispiele von vielen. Es hat sich im strafrechtlichen Umgang mit Müttern, die ihr Kind, die ihre Kinder getötet und überlebt haben, etwas geändert.
Seit mehr als fünf Jahren kettet Helga Nixdorff ihr unerledigtes Strafverfahren an den Tod ihrer Kinder. Zum drittenmal hört man die Stimme, die klingt, als würde sie im nächsten Augenblick brechen, die jedoch nicht bricht, sondern fortfährt und fortfährt. Zuletzt hat sie Susanne, die älteste, in der Badewanne ertränkt, auf oder neben den Körpern ihrer Geschwister.
Man wendet sich Helga Nixdorff zu, schon weil sie dies alles zum drittenmal in einer Hauptverhandlung vorzutragen hat. Doch es hat sich nichts geändert in mehr als fünf Jahren in ihrem Ton und im Inhalt ihrer Aussage. Sechs Jahre, Freispruch, Aufhebung des freisprechenden Urteils -- da sich für sie nichts änderte, hat sich auch in ihr nicht viel bewegen können. Und dennoch sieht und hört man Helga Nixdorff und findet keinen Weg zu ihr.
Sie war 21, als sie sich »auf den ersten Blick« in Heinz Nixdorff verliebte. Der war ein Mann ohne Probleme. Der war kein Unmensch, sondern nur ein Mann wie allzu viele Männer. Er ging seinen Neigungen nach. Sport jeder Art war neben dem Beruf sein Lebensinhalt. Daran sollte sich auch in der Ehe nichts ändern. Die Ehe, die Helga Nixdorff sich vorstellte, sah ganz anders aus. Sie konnten nicht mit-, sie konnten nur gegeneinander leben.
Von 1971 an war Helga Nixdorff ständig krank. Sie hatte drei Kinder, denen sie es an nichts fehlen ließ, die sie fast zu sehr mit Fürsorge umgab. Doch mit immer gewichtigeren, seelisch bedingten Ausfällen, Zuständen und Krankheiten signalisierte sie ihren depressiven Verfall. Sie reichte die Scheidung ein, nicht ihr Mann. Sie hoffte, er werde sich besinnen.
Helga Nixdorff erlaubte ihrem getrennt lebenden Mann nicht, die Kinder zu sehen. Die Gerichte wurden bemüht. Am 29. Januar 1974 erhielt Helga Nixdorff einen Brief ihrer Anwältin, dem sie entnehmen mußte, daß sie ihrem Mann die Kinder an jedem Samstag von 15 bis 18 Uhr zu überlassen hatte. Sei sie dazu nicht bereit, so werde der Anwalt ihres Mannes »aus dem Beschluß vollstrecken lassen« hieß es -- doch Helga Nixdorff las, und daran hält sie auch noch in ihrem dritten Prozeß fest, andernfalls würden »die Kinder vollstreckt«.
Die Tat, die danach folgte, war kein Wut-, sondern ein Verzweiflungsausbruch. Die Kinder sollen nicht herumgestoßen werden, sie will ihnen ein schweres Schicksal ersparen. Sie hat
*Stehend, von links: Schöffe Scheibe. Richter Schrader, Protokollführer Frick, Richter Hausmann, Schöffe Bothe. Sitzend: vorsitzender Richter Flotho.
gelesen, die Kinder würden »vollstreckt« werden, als läse sie einen Hinrichtungsbefehl, doch so stand das da nicht, sie hat keine Beziehung zur Wirklichkeit mehr, sie sieht nur noch, was ihr Zustand ihr vorspiegelt.
Zwischen ihrem ersten und ihrem zweiten Prozeß bekommt Helga Nixdorff wieder ein Kind. Sie heiratet den Vater des Kindes nicht, sie lebt mit ihm zusammen, und in ihrem zweiten Prozeß steht er ihr zur Seite. In ihm, so hofft man im März 1977, wird sie einen Partner finden.
Jetzt in der dritten Hauptverhandlung erfährt man, daß diese Beziehung inzwischen gescheitert ist. Helga Nixdorff schildert dieses Scheitern -- und sie schildert es so, wie sie ihre gescheiterte Ehe geschildert hat: Ihr ist etwas angetan worden, sie ist das Opfer, der Partner hat sich verweigert,..
Man leidet mit Helga Nixdorff, aber man leidet auch an ihr. Hat der Mensch keinen Spielraum, kann er sich nicht bewegen, von sich fort, aber auch auf sich zu? Läuft er auf Schienen ab, auf die er gestellt worden ist? Man möchte Helga Nixdorff um jeden Preis für krank halten, man möchte nichts als Krankheit darin sehen, daß nichts sie erreichen, nichts sie beeinflussen konnte. Man möchte, daß sie geheilt wird, daß ihr geholfen werden kann. Denn dann hätte man den Trost, daß nur der kranke Mensch keinen Spielraum hat. Doch hält sich Helga Nixdorff überhaupt für hilfsbedürftig, für krank?
Der Vorsitzende Richter Manfred Flotho, 42, hat die Sachverständigen zu Beginn ermahnt. Sie sollen keine »fertigen, schneidigen Antworten« geben. Doch der Sachverständige, der die Schuldunfähigkeit oder verminderte Schuldfähigkeit feststellt, steht vor einem Kreuzweg:
* Sein Gutachten kann die Einweisung in eine Anstalt bedeuten. In der ist der Eingewiesene noch ärger dran als im Strafvollzug.
* Sein Gutachten kann eine zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe zur Folge haben. Doch in aller Regel ist die zeitliche Begrenzung zu gering, als daß der Verurteilte sie ohne eine endgültige Verschlechterung seines Zustandes überstehen könnte. > Und endlich kann ein Gutachten zu einem Freispruch führen -- zum Freispruch eines Angeklagten, der dringend behandlungsbedürftig ist, der sich jedoch nicht für behandlungsbedürftig hält; den man nicht zwingen kann, sich behandeln zu lassen.
Die Armut der Reaktionen des Strafrechts steht in einem unerträglichen Gegensatz zu der Vielfalt der seelischen Beschaffenheiten und der Verfassungen zur Tatzeit, über die von den Sachverständigen berichtet werden muß.
Nur selten kann von »gesund« oder »krank« die Rede sein. Wir wissen nicht erst seit gestern, daß die Grenze zwischen Gesundheit und Krankheit fließend, daß jeder Mensch gesund und krank ist und daß in aller Regel nur vom Überwiegen des einen oder anderen in einem bestimmten Augenblick gesprochen werden kann.
In Braunschweig wurde zum drittenmal das Ehepaar Schultze gehört. Herr Dr. Schultze ist Psychiater, Frau Elke Schultze Diplom-Psychologin. Warum man ein Ehepaar tätig werden ließ, ist heute noch unerfindlicher als 1975.
Der Psychiater Professor Finzen, auch er zum drittenmal dabei, beendete 1975 sein schriftliches Gutachten mit dem Satz: »Wenn das öffentliche Interesse es nicht erfordert, ist es aus ärztlicher Sicht zu erwägen, ob man der Begutachteten im Hinblick auf die Prognose der notwendigen Therapie eine Gerichtsverhandlung ersparen kann, die zwangsläufig mit der Therapie in Kollision geraten würde.« Es ist zu bewundern, daß Herr Finzen sich überhaupt noch äußert.
Für ihn ist ein Medikament, das Helga Nixdorff zur Verfügung stand und das sie vor der Tat einnahm, möglicherweise der Auslöser gewesen. Dafür spricht viel, jedenfalls für den, dem dieses Medikament schon einmal verordnet worden ist und der bei sich paradoxe Reaktionen auf dieses Medikament beobachtet hat.
Die Psychologin Professor Elisabeth Müller-Luckmann, zum zweitenmal dabei: Sie schildert, wie Helga Nixdorff die Mutter zum Schicksal wurde. Mehr als jede Tochter wollte sie anders werden als ihre schwer gestörte Mutter. Die Mutter stiftete Ängste, Helga Nixdorff erlitt seelische Verletzungen. Die Angst verlassen zu werden, wurde die Angst, die ihr Leben bestimmte. Sie konnte nicht Partnerin sein, sie konnte sich nur an ein Gegenüber krallen.
Sie ist so sehr mit dem Überleben beschäftigt, daß ihr Verhalten zwangsläufig egozentrisch wird. Sie ist neurotisch, sie sitzt im Käfig ihrer Egozentrik, die kein Charakterfehler ist, sondern ein Kennzeichen ihrer schweren, depressiven Neurose. Sie sieht keine Alternative, sie hat keine. In einer »sehr schweren Form« ist ihre Wahrnehmung gestört bis hin zur Wirklichkeitsverkennung. Sie spürt auch nicht, wie sie auf andere wirkt. Wo der Übersprung in die für ihre Kinder tödliche Handlung stattfand, läßt sich nicht rekonstruieren.
Der Psychiater Professor Mende, zum erstenmal in diesem Kreis, spricht von einem »erweiterten Selbstmord«, davon also, daß Helga Nixdorff mit ihren Kindern sterben wollte, daß sie jedoch, als ihre Kinder tot waren, keine Kraft mehr, daß sie sich schon in ihren Kindern getötet hatte. Wer Professor Mende kennt, die Sorgfalt, mit der er darauf achtet, sich den Gerichten nicht aufzudrängen, der weiß, was es bedeutet, wenn er davon spricht, Helga Nixdorff habe »aus einer deutlich krankhaften seelischen Verfassung heraus« gehandelt.
Welche Paragraphen anzuwenden sind, bleibt dem Gericht überlassen. Die Anklage beantragt neun Jahre wegen Mordes. Das Gericht folgt der Verteidigung, indem es wegen Totschlags verurteilt, doch erkennt es auf fünf Jahre Freiheitsstrafe. Es räumt nur eine erheblich verminderte Schuldfähigkeit ein.
Richter Flotho gibt eine unvergeßliche Begründung, denn er versucht, sich zu erklären. Er möchte wohl verständlich machen, warum er Strafrichter ist, obwohl ein Strafrichter an Verfahren wie dieses geraten kann.
Richter Flotho gesteht Helga Nixdorff viel zu, doch er sieht einen »ideologischen Konflikt«. Er fragt: »Darf sich der Mensch psychodynamisch ausleben, oder muß er sich moralisch abblocken lassen?« Es sei ein Rest von Bewußtsein, von Steuerungsfähigkeit vorhanden gewesen. Vor allem aber: Würden wir sagen, sie ist schuldunfähig, so würden wir sie mit dem Etikett der Aussätzigen versehen.« Helga Nixdorff sei fähig gewesen, Verantwortung zu tragen, sie habe fehlen können, und man dürfe ihr nicht nehmen, daß sie das konnte.
Dem läßt sich viel entgegenhalten. Doch Richter Flothos Auffassung, das Gericht respektiere Helga Nixdorff, indem es sie verurteilt, statt sie als Kranke freizusprechen oder einzuweisen -- diese Auffassung ist, wenn auch aus anderer Richtung, das Thema aktueller Auseinandersetzungen.
Im »Kriminologischen Journal«, 1/1979, beispielsweise schreibt der Rechtsphilosoph Peter Strasser, Graz, über »Verbrechenserklärung und Strafkonzeptionen«. Da wird das,, kriminologische Pathologiekonzept« abgelehnt, und da heißt es, daß dem Straftäter die Möglichkeit geboten werden sollte, im Rahmen des Realisierbaren eine psychotherapeutische Hilfe in
* Von links: Professor Mende, Professor Elisabeth Muller-Luckmann, Professor Finzen, Dr. Schultze, Diplom-Psychologin Elke Schultze.
Anspruch zu nehmen, »falls er das möchte«.
Und es ist an die Adresse der »Ideologen der Resozialisierung« zu lesen: »Damit jedoch gerät der Kriminelle in einen Zustand der Entfremdung und Verdinglichung, dessen inhumane Züge umso sichtbarer werden, je besser seine Etikettierung als psychisch krankes Wesen gelingt.«
Wer meint, auf Richter Flotho empört reagieren zu müssen, der lese in Alexander Kluges »Unheimlichkeit der Zeit« die »Eine, deren Unterschrift unter dem Gesellschaftsvertrag gefälscht ist« überschriebene Geschichte. In der sagt eine Sachverständige über eine Angeklagte zum Richter: »Entweder lebt die überhaupt nicht oder so.« Und sie sagt, als der Richter verzweifelt fragt, wie er denn entscheiden solle: »Gar nicht entscheiden. Diese Person kann gar nicht anders leben. Das sind keine Diebstähle, sondern ihre Lebensäußerungen. So wie unsereins Luft holt.«
Das dritte Urteil über Helga Nixdorff ist rechtskräftig geworden. Sie ist behandlungsbedürftig, noch könnte sie mit Aussicht auf Erfolg sogar im Strafvollzug behandelt werden. Doch ist sie bereit, sich behandeln zu lassen? Und wie wäre ihre Entscheidung zu werten. wenn sie nicht behandelt werden möchte?
Wenn unser Strafrecht eine Fülle von möglichen Reaktionen böte, könnte man von der vollen Verantwortlichkeit jedes Angeklagten ausgehen. Doch das Strafrecht ist arm, und da ist auch die Gleichheit vor dem Gesetz. Die ist ein hohes Gut. Doch wie steht es mit diesem Gut, wenn es angemessene Reaktionen unmöglich macht?
Über dem dritten Prozeß gegen Helga Nixdorff lag der Schatten der Frau, die vor 13 Jahren im gleichen Saal ohne Zögern lebenslang erhielt. Man meinte wohl auch, nicht noch weiter unter das Urteil von damals gehen zu dürfen. Wir sind zuversichtlich, daß sich die Nixdorff-Prozesse zugunsten der Frau auswirken, die 1966 lebenslang erhielt.
Seltsam, in den drei Nixdorff-Prozessen war nie von Medea die Rede, davon also, wie alt Helga Nixdorffs Tat ist. Niemand zitierte, was Grillparzer seine Medea zu Jason, dem Mann, der sie verließ und der ihr die Kinder nehmen will, sagt, nachdem sie die Kinder getötet hat:,. Dir scheint der Tod das Schlimmste; / Ich kenn ein noch viel Ärgres: elend sein. / Hättst du das Leben höher nicht geachtet, / als es zu achten ist, uns wär nun anders. / Drum tragen wir! Den Kindern ists erspart!«
Medea in Northeim -- das war wohl ein zu großes Bild. Doch eine Tat wie die der Helga Nixdorff kommt nicht von ungefähr, sondern aus dem Abgrund dessen, wozu der Mensch in seiner Not schon immer fähig war.