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KRANKENKASSEN / BEITRÄGE Mehr wäre weniger

aus DER SPIEGEL 13/1967

Länger als zwei Jahre durchleuchtete der Kölner Sozialwissenschaftler Professor Wilfrid Schreiber im Auftrage Bonns die westdeutsche Krankenversicherung. Im Herbst 1966 stellte er die Diagnose: »Der Verdacht, daß das System teurer ist als nötig, läßt sich nicht abweisen.«

Im Frühjahr 1967 bestätigte sich der Argwohn. Der Bundesverband der 401 westdeutschen Ortskrankenkassen teilte dem Bundessozialminister Hans Katzer in einem Brief mit, die Kassen ständen vor der »finanziellen Erschöpfung«. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), bei denen über 30 Millionen Bundesbürger versichert sind, stellten noch für dieses Jahr »volle Zahlungsunfähigkeit« einiger Institute in Aussicht.

Trotz sinkenden Krankenstandes -- am 1. Dezember 1965 waren sechs Prozent der AOK-Mitglieder mit sofortigem Anspruch auf Krankengeld arbeitsunfähig geschrieben, am 1. Dezember 1966 nur mehr 5,3 Prozent -- stiegen die Ausgaben der Kassen im letzten Jahr von 8,5 auf 10,2 Milliarden Mark. Der sogenannte Kopfschaden -- die durchschnittlichen Aufwendungen je Mitglied -- erreichte 1966 den höchsten Stand: 664. Mark. 1957 waren 241 Mark Kopfschaden zu Buch geschlagen.

Fast in jedem Jahr zogen die Kassen die Beitragsschraube an. 285 AOK verlangen schon heute ihren Versicherten und deren Arbeitgebern zwischen zehn und elf Prozent der Löhne und Gehälter ab. Ein Arbeitnehmer mit 900 Mark Monatsverdienst zahlt derzeit durchschnittlich 46 Mark, sein Chef noch einmal den gleichen Betrag. Mehr, so der Geschäftsführer des Bad Godesberger Verbandes, Fritz Kastner, sei »in jedem Fall unzumutbar«.

Die schmerzhafte Kostenschwellung bei den Versicherungen wurde hervorgerufen durch Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäuser und Pharma-Hersteller. Während die Lebenshaltungskosten seit 1957 nur um etwa 25 Prozent wuchsen (siehe Graphik Seite 78), kletterten je erwerbstätigen Versicherten die

> Arzneikosten von 29,16 auf 75,09 Mark (um 157,4 Prozent),

> Arzthonorare von 45,57 auf 123,22 Mark (170,4 Prozent),

> Kranken- und Hausgelder von 88,69 auf 244,67 Mark (175,9 Prozent),

> Krankenhauskosten von 38,10 auf 115,45 Mark (203 Prozent),

> Zahnarzthonorare von 11,13 auf 45,77 Mark (311,2 Prozent).

Die Krankenhaus-Pflegesätze werden von Zeit zu Zeit amtlich festgesetzt, die Kranken- und Hausgelder sind durch Bundesgesetz an die Grundlöhne gekoppelt. Die frei kalkulierten Medikamenten-Preise hingegen stiegen ungeachtet der Mengenkonjunktur und trafen die Krankenkassen »wie ein Naturereignis« (Kastner). Die Präparate sind wie Hüte und Schuhe der Mode unterworfen, ihr Verbrauch steht in direktem Verhältnis zum Werbeaufwand.

Auch die Mediziner, deren Verbandspresse unablässig über »Vermassung« und »Nivellierung« des Standes grollt, taten einen tiefen Griff in die Krankenkassen. Seit dem 1. April 1965 sind die Mindestgebühren für ärztliche Verrichtungen um durchschnittlich 32 Prozent gestiegen, die Zahnärzte durften ihre Gebührensätze im Durchschnitt sogar um mehr als 50 Prozent erhöhen.

Im vergangenen Jahr setzten jene niedergelassenen Ärzte, die mehr als 20 000 Mark abrechneten, im Durchschnitt 128 000 Mark um. Nach Abzug der Praxis-Kosten verblieben ihnen 78000 Mark Jahresverdienst (1957: 33 300 Mark).

Ungeachtet des Aufschwungs schlug Dr. med. Friedrich Thieding in dem Verbandsorgan »Der deutsche Arzt« unlängst erneut die alte Leier: »Wir haben schon wiederholt darauf hingewiesen, daß diese Mindestsätze »Armensätze« geblieben sind und sich in der Bezahlung der ärztlichen. Leistung gegenüber der Jahrhundertwende nichts geändert hat.« Im Fernsehen spottete der Arzt und Sozialkritiker Professor Alexander Mitscherlich ·."Ein Gespräch unter Ärzten beginnt regelmäßig beim Eid des Hippokrates und endet stets beim Geld.«

Verschlimmert wird die finanzielle Auszehrung der Kassen noch durch ein ärztliches Standesleiden: die »Polypragmasie«, das ist die Neigung zu einer »Vermehrung der Behandlungsfälle« (Professor Wilfrid Schreiber in der Sozialenquete). Die Kassenärztlichen Vereinigungen spürten Polypragmatiker auf, die laut eigener Abrechnung ein und demselben Patienten zweimal den Blinddarm herausschnitten oder an einem Tage 22 »durchschnittliche Beratungen«, 54 Hausbesuche und 188 eingehende Untersuchungen vornehmen.

Gegen die Vielbehandlung sind die Kassen heute praktisch wehrlos. Früher hatten Kassenärztliche Vereinigungen und Kassen eine Gesamtvergütung ausgehandelt, in die sich die Ärzte eines jeden Bezirks teilen mußten. Kassenlöwen konnten damals ihr Einkommen nur auf Kosten der Kollegen mehren. Neuerdings aber honorieren viele Kassen die ärztlichen Verrichtungen einzeln; 1966 schütteten die AOK an Ärzte insgesamt 35 Prozent mehr Honorar aus als 1964, an Zahnärzte sogar 66 Prozent mehr.

Den Versicherungen bleiben nur zwei Wege aus der Finanzmisere. Laut Paragraph 389, Absatz zwei, der Reichsversicherungsordnung (RVO) können sie, wenn der dort fixierte Beitrags-Höchstsatz (elf Prozent) nicht mehr ausreicht, die Städte und Landkreise um Hilfe angehen. Der Deutsche Städtetag -- er bezeichnete die kommunalen Finanzen noch kürzlich als »katastrophal« -- aber empfahl den Stadtkämmerern durch Rundschreiben, »Anträge auf Beihilfe ... abzulehnen«.

Danach bliebe den Kassen nichts anderes übrig, als die Elf-Prozent-Bremse der RVO selbst zu lockern und die Beiträge hinaufzuschieben. Jedes Prozent mehr bringt ihnen etwa eine Milliarde Mark.

Der Bundesverband der Ortskrankenkassen aber bezeichnete es als »außerordentlich unheilvoll«,. die Beitragsschleuse zu öffnen: Jene Interessenten, die bereits das derzeitige Finanz-Desaster heraufbeschworen, würden den Kassen jede Million Mehreinnahme mit Sicherheit wieder entreißen. Zahnärzte, Ärzte, Apotheker und Krankenhaus-Verwalter fordern erneut und unmißverständlich mehr Geld.

AOK-Sprecher Kastner: »Was nützen uns Beitragserhöhungen? Am Ende haben wir weniger als jetzt.«

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