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FRANKREICH Mein Bulldozer

Aus dem Iran brachte Premier Chirac Milliarden-Aufträge heim, zu Hause eroberte er die Gaullisten-Partei. Er ist Frankreichs Mann des Jahres '74.
aus DER SPIEGEL 1/1975

In Frankreich findet die Bescherung der Kinder traditionell erst am ersten Weihnachtstag statt. Seinen liebsten Sohn beschenkte Staatschef Giscard d'Estaing aber bereits am Heiligen Abend: den Premier Jacques Chirac.

Mit dem Großkreuz des »Ordre national du Mérite« belohnte Giscard seinen Regierungschef für sechs Monate treue Dienste und zwei Kabinettstücke: Im Sturmangriff hatte Chirac die widerborstige Gaullisten-Partei UDR erobert und wenige Tage darauf aus dem Iran den größten Industrieauftrag aller Zeiten mitgebracht -- feste Kontrakte oder Zusagen für insgesamt 35 Milliarden Franc und Aussicht auf weitere 15 Milliarden.

Unter anderem wird Frankreich den Persern eine Metro für Teheran liefern sowie Erdgastanker samt Verflüssigungs-Fabrik, 26 Turbinenzüge und eine Montagefabrik für Renault-Autos. Vor allem aber: Obgleich sich die iranischen Spezialisten für das deutsche Farbfernseh-System Pal stark gemacht hatten, entschied sich Schah Resa für das französische Secam-System. Chirac: »Das war am schwierigsten und deshalb auch« am amüsantesten.«

Psychologisch profitierte der Franzose dabei von des Kaisers Abneigung gegen die in seinen Augen disziplinlosen Zustände in manchen Bereichen der deutschen Gesellschaft und die durch Brandts Sturz angeblich evident gewordene Sorglosigkeit den Kommunisten gegenüber. Deshalb. so ließ der oberste Perser seine Gäste aus Paris wissen, spiele er jetzt stärker die französische Karte.

Trotz der gigantischen Summen -- Frankreich ist damit zu Persiens Handelspartner Nummer eins aufgestiegen -- war für Premier Chirac der Sieg an der Heimatfront wohl noch wichtiger. Die gaullistische UDR nämlich, stärkste Partei der Nationalversammlung, hatte sich angeschickt, im Februar einen der wegen ihrer Bindungen an de Gaulle »Barone« genannten Altgaullisten zum Generalsekretär zu wählen. Ohne ein einziges Parteigremium zu konsultieren, zwang Chirac den amtierenden Generalsekretär Sanguinetti zum Rücktritt und setzte sich selbst in dessen Amt ein,

Jacques Chirac -- so scheint es -- ist damit Frankreichs Mann des Jahres 1974, mit 42 Jahren einer der jüngsten Regierungschefs der Welt. für den es nur noch eine Steigerung geben kann: auch den Elysée-Palast zu erobern,

»Meinen Bulldozer«, hatte einst Giscard-Vorgänger Pompidou seinen Schützling Chirac genannt, und der hat insofern etwas Bulldozerhaftes, als ihn nicht Probleme interessieren, sondern deren Lösung. Seine Lieblingsvokabeln sind »action« und »efficacité«. Chirac ist Zögling der Verwaltungsschule Ena und in vielem ein typisches Produkt dieser Elite-Anstalt: methodisch, schnell im Erfassen neuer Situationen, geübt im Studium von Aktenbergen, fleißig und ohne Originalität.

»Sein Geist quält sich nicht mit Fragen«, schreibt das Wochenblatt »Le Point«, »seine kraftstrotzende Intelligenz ist unfähig zu irgendeinem Zweifel.«

Das reicht, solange es ums Regieren geht. Das reicht nicht mehr, wenn philosophiert werden soll. Und für eine Philosophie halten viele Gaullisten noch immer die Lehre des Meisters, zu deren Interpret sich Chirac aufschwang. Herauskommen dabei zum Beispiel Antworten, wie sie der Premier der Illustrierten »Paris-Match« gab:

FRAGE: Welches Ideal wollen Sie den Franzosen geben?

CHIRAC: Persönlich? Ein Ideal der Würde.

FRAGE: Was nennen Sie Würde«?

CHIRAC: Das Gefühl, Erfüllung zu finden, sowohl individuell als auch kollektiv, also national. Das ist auch ein Verhalten, das es erlaubt, mit sieh selbst in Übereinstimmung zu sein und von anderen respektiert zu werden.

FRAGE: Ist das nicht zu abstrakt?

CHIRAC: Das ist das Wesen des Gaullismus.

Im Juli vergangenen Jahres definierte Chirac den Gaullismus als »die Verweigerung der Leichtigkeit und all dessen. was die Würde des Menschen und der Nation, innerhalb wie außerhalb, in Frage stellt«. Einen Monat darauf bezeichnete sich Chirac als Liberaler und definierte »liberal« als »ein fortwährendes Bemühen um die Verweigerung jeder Leichtigkeit und den Sinn für die innere und äußere Würde Frankreichs«.

So wolkig Chirac denkt, politisch hatte er stets Erfolg, vor allem, weil er seinem jeweiligen Mentor -- früher Pompidou, dann Giscard -- bedingungslos ergeben ist. Chirac: »Wenn ich aus dem Zimmer des Präsidenten komme, bin ich dessen Meinung.«

Über einen Ena-Freund war Chirac 1962 in den Stab des damaligen Premiers Pompidou berufen worden. Pompidou fand Gefallen an dem jungen Draufgänger. Er ließ ihm von dem Flugzeugkonstrukteur Marcel Dassault eine Wahlkampagne finanzieren. durch die Chirac einen Wahlkreis in Mittelfrankreich eroberte. Nach nur 28 Abgeordnetentagen bestellte Pompidou seinen Schützling zum Staatssekretär für Beschäftigungsfragen.

Auch als Charles de Gaulle seineu Premier Pompidou 1968 feuerte, blieb Chirac an der Seite seines Mentors« was der nach seiner Wahl zum Staatspräsidenten mit mehreren Portefeuilles belohnte. Nahezu täglich sprach Chirac im Elysée-Palast vor. Mit Pompidous Beratern Pierre Juliett und Marie-France Garaud teilte er die Abneigung gegen den damaligen Premier Chaban-Delmas, der den dreien zu fortschritt. lieb war.

Noch einen Kontakt pflegte Chirac: zu Valéry Giscard d"Estaing, dem Chef der mit den Gaullisten koalierenden Unabhängigen Republikaner«. Im Sommer 1969 hatte Pompidou seinen Zögling zum Staatssekretär in Giscards Wirtschafts- und Finanzministerium ernannt, er sollte den alerten Minister abservieren. Doch Chirac sah klar. daß Giscard Pompidous Nachfolge anvisierte. Wie er sich vorher bemüht hatte, Pompidou bis zur Mimik nachzuahmen, imitierte er fortan Giscard.

Irr März 1974 ernannte Pompidou Chirac zum Innenminister. Er sollte die Präsidentschaftswahlen für den auf Juni vorgesehenen Rücktritt des kranken Staatschefs vorbereiten. Bei Pompidous vorzeitigem Tod hatte Chirac zwar das Korps der hundert Präfekten auf seine Linie gebracht, der gaullistische Parteiapparat jedoch war noch von »Chabanisten« beherrscht.

Indem er sich jetzt zum Generalsekretär machte, versucht er, eine solide Basis in der Partei zu gewinnen, und vermutlich hat er Erfolg. Zwar bildete sieh eine 34 Mann starke Gruppe Chirac-feindlicher UDR-Abgeordneter, aber die große Mehrheit der UDR-Fraktion will nur eins: wiedergewählt werden.

Für die künftige Doktrin der Gaullistenpartei gab Parlamentspräsident Edgar Faure schon die Losung aus: »Die UDR muß sich giscardisieren.« Jacques Chirac ist der Mann dafür.

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