»Mein Gott, sie bringen uns alle um!«
3. Fortsetzung und Schluß
Zwei Tage nach John F. Kennedys Tod, am Morgen des 24. November 1963, wurde aus der Tragödie von Dallas ein amerikanischer Alptraum.
Bis zu jenem Sonntagvormittag waren die meisten Amerikaner bereit gewesen, in Lee Oswald einen Geistesgestörten zu sehen, dem es auf irgendeine Weise gelungen war, seine wahnwitzige Idee in die Tat umzusetzen.
Doch als wir dann vor den Fernsehschirmen saßen, als wir den kleinen, untersetzten Mann ins Bild stürzen und schießen sahen, als Oswald unter Jack Rubys Kugel zusammenbrach, da regten sich in uns die ersten Zweifel. Und diese Zweifel wurden nie ganz ausgeräumt.
Die Warren-Kommission berichtet ausführlich über Jack Rubys Leben. Sie bombardiert uns mit Einzelheiten über den kleinen Jack, der in den Slums von Chicago in einer von Alkohol und Schwachsinn zerrütteten Familie aufwuchs. Sie erzählt uns von Rubys finsteren Geschäften, seinen kleinen Konflikten mit dem Gesetz und von den Sorgen, die er sich über seinen Haarausfall und seine schlanke Linie machte. Ein bißchen plaudert sie sogar aus seinem Geschlechtsleben.
Sie läßt Zeugen aufmarschieren, die Ruby einerseits als niederträchtig genug schildern, Trunkenbolde fast zu Tode geprügelt zu haben, und andererseits doch als so gutmütig, daß er gern kleine Hunde streichelte und selbst flüchtigen Bekannten in der Not finanzielle Unterstützung gewährte.
Sie schildert Ruby als einen Mann, der zwar enge Beziehungen zur Unter-Copyright © LXV by Sylvan Fox.
welt, doch keinerlei Verbindungen zu Verbrecher-Organisationen hatte.
Sie will uns mit diesem Wasserfall von Einzelheiten offenbar davon überzeugen, daß Ruby nicht in eine Verschwörung zur Ermordung Präsident Kennedys oder des Präsidenten-Mörders verwickelt gewesen sein kann.
Eines jedoch erzählt uns die Warren-Kommission nicht, und gerade das interessiert uns am meisten: Warum hat Ruby Lee Oswald umgebracht?
Pieser Frage weicht die Kommission aus prinzipiellen Gründen aus: Als der Warren-Report erschien, schwebte noch Rubys Verfahren, das ihn auf den elektrischen Stuhl hätte bringen können, und die Kommission vermied sorgfältig, in dieses Verfahren einzugreifen.
So heißt es zu Beginn der Ruby-Biographie, die dem Warren-Report als Anhang beigefügt ist: »Der Wunsch der Kommission, nicht in ein schwebendes Verfahren einzugreifen, begrenzt notwendigerweise den Umfang dieses Anhangs, der nicht den Zweck hat, die während des Ruby-Prozesses aufgeworfenen rechtlichen Fragen oder Rubys mögliches Motiv für die Erschießung Oswalds zu erörtern.«
Das ist natürlich eine grobe Unterlassung, denn gerade die Frage nach Rubys Motiv ist ja eine der wesentlichen Fragen, die uns im Zusammenhang mit dem Attentat interessieren. Die Antwort darauf, die wir nirgends im Warren-Report finden, könnte unsere Meinung über das Attentat erheblich beeinflussen.
Anstatt diese Frage zu beantworten, versichert uns die Kommission, Ruby habe wie Oswald völlig allein gehandelt. Und wie in Oswalds Fall überläßt die Kommission es uns, einen Schluß zu ziehen: Ruby habe wie Oswald ein unverständliches Motiv gehabt.
Angesichts solcher Schlußfolgerungen können wir uns nicht wohl fühlen. Hätte die Kommission sich auf ein Motiv für die Ermordung Oswalds festgelegt, wären dann nicht ihre Schlußfolgerungen, Ruby und Oswald hätten jeweils für sich allein gehandelt, möglicherweise ernstlich in Frage gestellt worden?
Betrachten wir die Sache einmal rein theoretisch und unterstellen wir, Ruby habe einen verständlicheren Grund gehabt, Oswald umzubringen, als nur den Wunsch, Mrs. Kennedy die Aussage in Oswalds Prozeß zu ersparen. Unterstellen wir, er tötete Oswald, um ihn daran zu hindern, Einzelheiten über das Attentat zu verraten. Angesichts einer nationalen Tragödie solchen Ausmaßes muß diese Frage gestellt und untersucht werden.
Nun war Oswald aber in eine Zelle gesperrt, sicher vor jedem Zugriff. Sollte er bald umgebracht werden, mußte dies am Sonntagvormittag, während seiner Überführung vom Polizeipräsidium zum Bezirksgefängnis, geschehen. Nur in dieser Zeitspanne würde er -- wenn auch für noch so kurze Zeit -- der Pistole eines Mörders preisgegeben sein.
Die Chronologie der Ermordung Oswalds ist interessant. Für die Überführung war keine genaue Zeit festgesetzt. Am Vorabend hatte Dallas-Polizeichef Curry den Reportern lediglich erzählt, Oswald würde am Sonntag gegen zehn Uhr abtransportiert. Tatsächlich geschah das jedoch erst um 11.20 Uhr.
Ruby erzählte der Warren-Kommission, er habe am Sonntagmorgen beschlossen, Oswald zu töten. Andere versicherten, Ruby habe den Mord bereits Freitag nacht geplant. Unabhängig davon, wann Ruby nun wirklich den Mord beschloß -- als er am Sonntagmorgen seine Wohnung verließ, hatte er seinen Entschluß bereits gefaßt:
Normalerweise bewahrte er seine Pistole im Kofferraum seines Autos auf. Doch als er an jenem Sonntagmorgen aus der Wohnung ging, steckte er die Waffe in die Tasche.
Im Gegensatz zu den Reportern, die über Oswalds Überführung berichten wollten und bereits vor zehn Uhr am Schauplatz eintrafen, hatte Ruby es nicht eilig, in die Stadt zu kommen.
Er verließ seine Wohnung um kurz vor elf, ganz offensichtlich überzeugt, daß er für einen Schuß auf Oswald noch zur rechten Zeit im Polizeipräsidium eintreffen würde. Woher wußte ausgerechnet er, daß er sich bis elf Uhr Zeit lassen konnte, während die Reporter, die in engem Kontakt zu den Behörden standen, meinten, Oswald würde gegen zehn Uhr abtransportiert?
Während die Polizei die letzten Vorbereitungen für Oswalds Transport traf, fuhr Ruby in die Innenstadt, parkte seinen Wagen einen Block vom Polizeipräsidium entfernt gegenüber einer Filiale der Telegraphengesellschaft »Western Union«, legte seine Brieftasche mit allen Ausweisen in den Kofferraum und ging ins Büro der »Western Union«.
Dort überwies er 25 Dollar an eine Angestellte, die ihn um Vorschuß gebeten hatte. Der Schalterbeamte der »Western Union« stempelte Rubys Empfangsabschnitt um 11.17 Uhr.
Gerade in diesem Augenblick wurde Oswald aus dem Büro der Mordkommission ins Kellergeschoß des Präsidiums geführt.
Der Angestellte der »Western Union« erinnerte sich: Ruby sei, nachdem er das Geld eingezahlt hatte, hinaus- und direkt auf das Polizeigebäude zugegangen. Dort muß er um 11.18 oder 11.19 Uhr angekommen sein.
Um 11.20 Uhr kam Oswald im Kellergeschoß an. Um 11.21 Uhr wurde er erschossen.
Ruby erreichte sein Ziel also ganz genau im richtigen Augenblick. Das »timing« war unglaublich perfekt. Genau in dem Augenblick, da Oswald eine Angriffsfläche bot, erreichte Ruby ihn und schoß.
Es fällt tatsächlich schwer, solche Präzision als Zufall anzusehen.
Wäre Ruby -- wie die Reporter -- um zehn Uhr eingetroffen, hätte er eine Stunde und zwanzig Minuten auf Oswald warten und befürchten müssen, daß seine unerlaubte Anwesenheit im Polizeigebäude vorzeitig entdeckt worden wäre.
Hätte Ruby andererseits seine Wohnung nur wenige Minuten später verlassen, oder hätte er sich auch nur eine oder zwei Minuten länger in der »Western Union« -Filiale aufgehalten, hätte er Oswald überhaupt nicht mehr angetroffen. Doch Ruby beging keinen solchen Fehler. Er ging mit der Präzision eines Uhrwerks vor und erreichte sein Ziel genau im richtigen Augenblick.
Konnte Ruby diesen Anschlag ohne fremde Hilfe geplant haben?
Ruby selbst behauptete das vor der Warren-Kommission. An einem Punkt seiner Aussage bemerkte er zu dem sorgfältigen Zeitplan: »Wäre der Mord an Oswald in dieser Weise zeitlich geplant gewesen, dann muß jemand von der Polizei schuldig sein, der die Information weitergab, wann Oswald herunterkommen sollte.
Ruby kannte viele Polizisten in Dallas. Die Warren-Kommission zitiert zwar die Bemerkung des Polizeichefs Curry, daß es »nicht mehr als 25 bis 50 der fast 1200 Polizisten von Dallas« waren, bemerkt jedoch, Rubys Bekanntschaften mit der Polizei seien wesentlich umfangreicher gewesen als die eines durchschnittlichen Bürgers.
Die Kommission fügt aber sogleich hinzu: »Es gibt keinen glaubwürdigen Beweis dafür, daß Ruby bei den Polizeibeamten besondere Vorteile gesucht oder versucht hätte, sie zu bestechen. Obwohl es hinreichend Beweise dafür gibt, daß Ruby den Polizisten Rabatt gewährte und ihnen kostenlos Kaffee und alkoholfreie Getränke ausschenkte, stellt diese Gastfreundlichkeit dennoch für einen Nachtklubbesitzer in Dallas nichts Ungewöhnliches dar. Rubys persönliche Zuneigung zu Polizeibeamten ist durch Berichte erwiesen, wonach er mindestens einmal der Beerdigung eines im Dienst getöteten Polizisten beigewohnt und für die Witwe eines anderen eine Wohltätigkeitsveranstaltung aufgezogen habe. Ruby betrachtete mehrere Beamte als seine persönlichen Freunde ...
»Und schließlich: Wenigstens ein Polizist traf sich regelmäßig mit einer Strip-tease-Tänzerin aus Rubys »Carousel Club, und heiratete sie später.«
Ruby, so möchte uns die Warren-Kommission glauben machen, war aus
* Rechts: Einfahrt zum Kellergeschoß, in dem Oswald erschossen wurde.
reiner Herzensgüte so nett zu Polizisten nicht etwa, weil er »besondere Vorteile suchte«.
Jack Ruby hatte, wie Lee Oswald, eine unruhige Kindheit. Er wurde 1911 als Jacob Rubenstein in Chicago geboren. Seine Eltern, ein Zimmermann und eine Analphabetin, waren polnische Einwanderer.
Ruby wuchs in getto-ähnlichem Milieu auf. Dort lernte er den Rassenhaß kennen, und dort wurde er sich seiner jüdischen Abstammung bewußt.
Wenn schon das Leben auf den Straßen unerträglich war -- das Leben in Rubys Familie war noch schlimmer. Sein Vater war ein Säufer und wurde mehrfach verhaftet. Seine Mutter litt an unkontrollierbaren Tobsuchtsanfällen und prügelte sich mit ihrem Mann oft in widerlichster Weise.
Als Ruby elf Jahre alt war, wurde er vom Büro des jüdischen Sozialdienstes an ein Institut für Jugendpsychologie überwiesen. Die Psychologen bezeichneten ihn als »reizbar und ungehorsam«, folgerten, Mutter Rubenstein sei »in keiner Weise in der Lage, den Jungen weiterhin zu erziehen«, und empfahlen seine Einweisung in ein Pflegeheim.
Rubys Ausbildung war unzulänglich. Der Warren-Kommission zufolge hat er wohl das achte Schuljahr abgeschlossen, mehr nicht.
1933 ging er mit ein paar Freunden für vier Jahre an die Westküste, wo er als singender Kellner arbeitete. Dann kehrte er nach Chicago zurück und arbeitete für die Gewerkschaft der Schrott- und Altwarenhändler als Organisator. Zwei Jahre später, als einer seiner Freunde von dem Vorsitzenden der Gewerkschaft erschossen wurde, trennte sich Ruby wieder von der Gewerkschaft.
Nachdem er eine ganze Reihe Jobs hinter sich hatte -- er handelte zum Beispiel mit Roosevelt-Büsten und Pearl-Harbour-Gedächtnisplaketten -, wurde Ruby 1943 zur Luftwaffe eingezogen. Drei Jahre später wurde er, im Range eines Gefreiten, entlassen.
1947 eröffnete seine Schwester Eva Grant in Dallas den Nachtklub »Singapore Supper«, und Ruby zog zu ihr, um ihr zu helfen. Schnell hatte er mit einer ganzen Schar von Unterwelttypen Kontakt. Einige dieser Kriminellen, die unter anderem wegen versuchter Bestechung, Sodomie und Vergehen gegen das Rauschgiftgesetz verurteilt gewesen waren, verkehrten regelmäßig in dem damals von Jach Ruby geleiteten »Singapore« -Klub.
Zwischen 1947 und 1959 stieg Ruby in verschiedene Nachtklub-Unternehmen in Dallas ein und wieder aus. Keines lief gut. 1953 übernahm er den »Vegas Club« und 1959 den »Sovereign Club«, den er ein Jahr später in »Carousel« umbenannte. Am Tag, als er Oswald ermordete, betrieb er noch beide als anrüchige Strip-tease-Lokale.
Von der Ermordung Kennedys hatte Ruby im Anzeigenbüro der »Dallas Morning News« erfahren, als er gerade eine Annonce für seine Nachtklubs aufgab. Er muß offenbar heftig auf die Nachricht reagiert haben: Einer der Angestellten sagte, Ruby sei »offensichtlich erschüttert und aschgrau« eben sehr blaß« gewesen, »mit einem wirren Ausdruck in den Augen«.
Von diesem Augenblick an bis zur Ermordung Oswalds raste Ruby wie ein Wahnsinniger durch die Stadt und führte zwischendurch zahlreiche Orts- und Ferngespräche. Er rief Freunde in Dallas, Verwandte in Chicago und sogar einen Jugendfreund in Los Angeles an. Mal weinte er hemmungslos, mal hatte er sich jedoch wieder so gut in der Gewalt, daß er ein von ihm erfundenes Übungsgerät vorführen und für die Polizisten von Dallas Sandwiches einkaufen konnte.
Im Anzeigenbüro der »Dallas Morning News« machte er einem Bekannten gegenüber eine interessante Bemerkung. »John«, so sagte er, als er von Kennedys Tod erfuhr, »ich werde Dallas verlassen müssen.«
Vor der Warren-Kommission erläuterte Ruby diese Bemerkung so: »Ich weiß nicht, warum ich das gesagt habe, aber es war eine so komische Reaktion, die Stadt hatte durch die Tragödie so schrecklich an Ruf verloren.«
Der Warren-Kommission zufolge ging Ruby am 22. November von der »Dallas Morning News« kurz vor 13.30 Uhr zum »Carousel Club«. Doch in diesem Punkt besteht eine Unstimmigkeit: Seth Kantor, ein erfahrener Reporter, bezeugt, Ruby an eben diesem Tag um 13.30 Uhr im Parkland Hospital gesehen zu haben.
Ob Ruby nun im Krankenhaus war oder nicht -- auf jeden Fall ging er schließlich in seinen Klub, dann zu seiner Schwester, dann wieder in den Klub, danach in ein Feinkostgeschäft (wo er für zehn Dollar für seine Schwester einkaufte) und zurück zu seiner Schwester. Dort aß er, bekam Magenschmerzen« ruhte sich kurz aus und raste dann wieder umher.
Als er Evas Wohnung verließ, sah er, wie sie aussagte, »ziemlich schlecht« aus: »Daran kann ich mich erinnern. Ich kann Ihnen das nicht erklären. Er sah gebrochen aus ... Er sagte: »Ich hab' mich in meinem Leben noch nie so schlecht gefühlt, nicht mal, als Ma und Pa starben.«
Ruby telephonierte wieder ein paarmal, ging in seine Wohnung und dann in eine Synagoge, wo er gegen 22 Uhr kurz vor Ende eines zweistündigen Gottesdienstes ankam. Rabbi Hillel Silverman erinnert sich: Er sei überrascht gewesen, daß Ruby -- obwohl offensichtlich bekümmert -- nur über die letzte Krankheit seiner Schwester, nicht aber über das Attentat sprach. Ruby trank in der Synagoge noch einen Schluck und machte sich dann wieder auf den Weg. Diesmal steuerte er das Nachtklubviertel an, um nachzusehen, ob außer seinen eigenen auch andere Klubs zum Gedenken an den toten Präsidenten geschlossen hatten.
Im Autoradio hörte er von der harten Arbeit, die die Polizei in jener Nacht hatte. Er kaufte acht Sandwiches und zehn Flaschen Sprudel und rief im Polizeihauptquartier an. Aber die Polizisten hatten bereits gegessen, und so beschloß er, den Angestellten der Rundfunkstation KLIF die Brötchen zu bringen. Da er dort jedoch telephonisch niemanden erreichen konnte, fuhr er schließlich doch zum Polizeipräsidium. Dort kam er gegen 23.30 Uhr an.
Zum erstenmal seit dem Attentat begab sich Ruby In Oswalds Nähe. Wenn man bedenkt, was dann beim zweitenmal geschah, fragt man sich, ob seine Absichten in jener Nacht wirklich so harmlos waren, wie er vorgab.
Ruby sagte, er sei ohne große Schwierigkeiten in das Gebäude gelangt: »Ich fuhr zur Commerce und Harwood Street »runter und stellte mein Auto mit meinem Hund -- nebenbei, ich habe meinen Hund immer mit -- auf dem Parkplatz ab, ließ die Sandwiches im Wagen, ging ins Polizeigebäude, nahm den Fahrstuhl zum zweiten Stockwerk, und dort war dann ein Polizeibeamter, und ich sagte: »Wo ist Joe Long?' (Long war ein Angestellter der KLIF, den er dem Namen nach kannte.) Ich sagte: »Kann ich mal sehn, wo er ist?'«
Ruby fuhr fort: »Ich spielte mich noch ein bißchen auf und wurde »reingelassen. Ich fragte verschiedene Reporter und eine Menge anderer Leute da: »Sind Sie Joe Long?', konnte ihn aber nicht ausmachen ...
»Und dann, wie ich da in dem schmalen Korridor bin, ist da einer -- ich kann mich nicht erinnern, war's nun Captain Fritz oder Chief Curry -, der den Gefangenen herausbringt, und ich stehe einen halben bis einen Meter von ihm weg, und da sind einige Reporter, und ich weiß nicht, ob sie mich fragten oder ob ich es ihnen freiwillig erzählte, weil ich wußte, daß sie versuchten herauszufinden, wer das war, und ich sagte, »Das war Chief Curry' oder »Das ist Captain Fritz' oder wer es gerade war.«
Wegen des Gedränges der Reporter, der Fernsehleute und der Fernsehkameras beschloß die Polizei, ihre Pressekonferenz in einem größeren Versammlungsraum im Kellergeschoß abzuhalten. Alle gingen hinunter -- auch Jack Ruby.
»Ich ging in den Versammlungsraum unten im Keller. Ich fühlte mich völlig Unbehindert, als ich dort »reinging. Niemend fragte mich oder wollte irgendwas. -Ich stieg auf einen kleinen Tisch ... und stand mit dem Rücken an einem Pfeiler. Dann brachten sie den Gefangenen, und verschiedene Fragen wurden gestellt.«
Ruby erinnerte sich, daß Staatsanwalt Wade, der diese berühmte Pressekonferenz leitete, »die Reporter wissen ließ, daß das der Schuldige war, der das Verbrechen beging«.
Nach der Pressekonferenz versuchte Ruby von neuem, die KLIF telephonisch zu erreichen. Als er endlich durchkam, arrangierte er für die Rundfunkstation ein Interview mit Wade. Dann verließ er das Gebäude und brachte seine Sandwiches zur Rundfunkstation.
Dort blieb Ruby bis gegen zwei Uhr morgens und ging dann zum »Dallas Times-Herald«, wo er den Angestellten in der Mettage sein Übungsgerät, ein »Twist-Brett«, vorführte.
»Als eine Angestellte das Brett vorführte, gab es einen Heiterkeitser-
* Auf der Oswald-Pressekonferenz am Abend des 22. November 1963.
folg«, berichtet die Warren-Kommission. »Auch Ruby selbst demonstrierte den Anwesenden die Handhabung.«
Gegen 4.30 Uhr am Sonnabendmorgen fuhr Ruby in seine Wohnung, weckte seinen Zimmergenossen George Senator und diskutierte mit ihm über eine Annonce in der »Dallas Morning News«, die -- so die Warren-Kommission -- »die Juden diffamierte«. Er erzählte dem verschlafenen Senator auch von einem Plakat, das er gesehen hatte und auf dem gefordert wurde, (den Obersten Richter) Earl Warren wegen Hochverrats vor Gericht zu stellen.
Plötzlich überkam Ruby eine andere verrückte Idee. Er rief seinen Angestellten Larry Crafard an, bestellte
ihn zur Garage neben dem »Carousel Club« und sagte ihm, er solle seine Polaroid-Kamera mitbringen. Ruby, Senator und Crafard fuhren vom Klub zu dem Anti-Warren-Plakat, und auf Rubys Anweisung machte Crafard davon drei Aufnahmen.
Senator sagte später zu diesem Vorfall: »Als er sich das Schild ansah, und dann die Anzeige in der Zeitung -- da wollte er wirklich wissen, warum diese Dinge eigentlich sein müssen. Er versuchte, die beiden Geschichten miteinander zu kombinieren ... Und ich hörte ihn sagen: »Dies ist die Arbeit der (rechtsextremistischen) John-Birch-Society oder der Kommunistischen Partei oder vielleicht von beiden.«
Immer noch in Fahrt, fuhr Ruby mit Crafard und Senator zur Post. Dort erkundigte er sich, wer hinter dem Postfach -- das auf dem Plakat angegeben war -- steckte, doch der Postangestellte verweigerte Ruby die Auskunft. Ruby suchte und fand das Postfach. und, so Senator, »verlor die Fassung, als er es mit Post vollgestopft fand«.
Vom Postamt gingen die drei in eine Imbißstube, und Ruby sprach weiter von dem Plakat und der Anzeige. Gegen sechs Uhr morgens schließlich ging er endlich schlafen.
Er schlief nur zwei Stunden: Ein Anruf hatte ihn geweckt, und daraufhin sah er eine Weile fern. Dann fuhr er zur Dealey Plaza, dem Schauplatz des Attentats. Nachdem er den Platz besichtigt und geweint hatte, begann er wieder wie verrückt zu telephonieren.
Ein Zeuge, der Bruchteile von einigen dieser Gespräche mithörte, berichtete, Ruby habe Bemerkungen über die geplante Überführung Oswalds gemacht und gesagt: »Sie wissen ja, ich werde da sein.
Was Ruby sonst an diesem Tag tat, ist ungewiß. Einige Reporter meinten. ihn am Nachmittag noch einmal im Polizeipräsidium gesehen zu haben. Der Warren-Kommission erzählte er, er habe sich in jener Nacht gegen halb zwei zur Ruhe begeben.
Am Sonntagmorgen stand er um neun oder halb zehn auf, sah fern und frühstückte. Um 10.19 Uhr, so berichtet die Warren-Kommission, wurde er von seiner Tänzerin Karen Lynn angerufen.
Karen Lynn sagte aus: »Jack meldete sich, und ich sagte ihm, wer dran war, und er sagte »Yeah', und ich sagte, »Ich rufe an, Jack, um etwas Geld zu kriegen, weil die Miete fällig ist und ich etwas Geld für Lebensmittel brauche und du mir gesagt hast, ich soll anrufen. Er sagte: »Wieviel brauchst du?«, und ich sagte: »Ich werd' meinen Mann fragen. Und dann sagte ich: »Ungefähr 25 Dollar. Er sagte, »Gut, ich muß sowieso in die Stadt, ich werd' dir das also durch die Western Union schicken.«
George Senator sagte aus, Ruby habe den ganzen Morgen einen äußerst verstörten Eindruck gemacht: »Er murmelte sogar was vor sich hin, was ich nicht verstand. Und sofort nach dem Frühstück hat er sich angezogen. Und dann, als er sich angezogen hatte, lief er auf und ab, vom Wohnzimmer zum Schlafzimmer, vom Schlafzimmer zum Wohnzimmer, und seine Lippen bewegten sich. Was er da vor sich hinbrabbelte, weiß ich nicht ... Ich würde sagen, er ist fünf bis zehn Minuten auf und ab gegangen.«
Dann verließ Ruby das Haus. Senator: »Er sagte: »George, ich nehm' den Hund mit »runter zum Klub. Das war's, und weg war er.«
Ruby behauptete, ein Zeitungsbericht hätte an jenem Morgen sein Gemüt in dramatischer Weise angesprochen. »Jemand hatte an Caroline (Präsident Kennedys Tochter) einen Brief geschrieben«, erzählte Ruby, »einen herzzerreißenden Brief ... Und neben diesem Brief stand ein Kommentar, der -- ich weiß nicht, wie -- ausdrückte, daß Mrs. Kennedy zum Prozeß gegen Oswald vielleicht zurückkommen müßte ... Das veranlaßte mich zu tun, was ich tat ...«
Und Ruby fuhr fort: »Ich weiß nicht ... Aber es hat mich so fortgerissen. Ich erinnere mich ... Vor diesem Gedanken, da hat es in mir niemals einen anderen Gedanken gegeben. Ich war nie böse auf diese Person. Und niemand hat mich aufgefordert, irgendwas zu tun. Ich sprach mit niemandem darüber, daß ich irgend etwas tun wollte. Keine Untergrundorganisation gab mir irgendeinen Impuls. Niemand aus der Unterwelt versuchte, sich mit mir in Verbindung zu setzen ... Alles ist an jenem Sonntagmorgen passiert ...
»Das letzte, was ich las, war, daß Mrs. Kennedy zum Prozeß gegen Oswald vielleicht nach Dallas zurückkommen müßte, und ich weiß nicht, was sich da in meinem Kopf festgesetzt hat ... Plötzlich stieg in mir das Gefühl auf, daß irgend jemand es unserem geliebten Präsidenten schuldig war, ihr das Fegefeuer einer Rückkehr nach Dallas zu ersparen. Ich weiß nicht, warum das durch meinen Kopf ging ...«
Diese Aussage wird freilich durch den Polizeibeamten Patrick Dean in Frage gestellt, der sofort nach der Ermordung Oswalds mit Ruby gesprochen hatte. Zum Verdruß eines Kommissions-Mitarbeiters erklärte Dean: Ruby habe zugegeben, bereits Freitag nacht beschlossen zu haben, Oswald zu töten.
Ruby sagte aus: Als er an jenem Morgen das Polizeipräsidium erreichte, »war da schon eine Menge versammelt. Und ich vermute, ich dachte, ich wußte, er sollte um zehn Uhr verlegt werden -- ich weiß nicht. Ich hörte Radio und kam an einer Menge vorbei, und es sah aus -- ich nahm an, er war schon abtransportiert.
»Ich hab' mich nicht eingeschlichen, ich hab' da nicht »rumgelungert, mich nicht »rumgedrückt oder hinter irgend jemandem versteckt ... Ich ging die paar Stufen »runter, und da war die Person -- ich möchte nicht sagen, ich sah rot -, es war ein Gefühl für unseren geliebten Präsidenten und Mrs. Kennedy -- und daß er unbedeutend war verglichen mit dem, was ich vorhatte ...
»Ich hatte das Schießeisen in meiner rechten Hüfttasche, und ganz impulsiv, falls das der richtige Ausdruck hier ist, sah ich ihn, und das ist alles, was ich sagen kann. Und es war mir egal, was mit mir passierte.
»Ich glaube, ich gebrauchte die Worte, »Du hast den Präsidenten umgebracht, du Ratte' ... Dann war ich am Boden. Ich sagte: »Ich bin Jack Ruby. Ihr kennt mich alle. ... Und ich glaube, alles, was ich noch sagte, war: »Ich wollte nicht, daß Mrs. Kennedy zum Prozeß zurückkommen muß.«
Die Warren-Kommission kaufte Ruby diese Darstellung so gut wie ganz ab.
Als der Polizist Dean behauptete, Ruby habe gleich nach dem Mord eine etwas andere Darstellung gegeben, wurde er von Rechtsanwalt Burt Griffin, einem Assistenten der Kommission, in die Mangel genommen. Dean berichtete der Kommission, er sei von Griffin bereits zwei Stunden verhört worden, als der Anwalt beschloß, die Unterhaltung ohne Protokoll fortzusetzen. »Er sagte dem Stenographen, daß er kein Protokoll mehr zu führen brauche und daß er hinausgehen könne, auf eine Zigarette oder eine Cola
»Nun, nachdem der Protokollführer hinausgegangen war, begann Mr. Griffin, mit mir zu reden, als wolle er mir helfen und als habe er das Gefühl, ich würde in Zukunft vielleicht Hilfe brauchen.
»Da ich nicht wußte, worauf er hinauswollte, bat ich Mr. Griffin, er solle nur anfangen und mich fragen, was er wolle. Er wiederum bat mich, ihm gut zuzuhören. Ich sagte ihm schließlich, er könne mich nach allem fragen, was er wissen wolle, und wenn ich es wüßte, würde ich ihm die Wahrheit sagen ...«
Laut Dean begann Griffin von den beiden Berichten zu sprechen, die Dean nach dem Mord an Oswald zu den Akten gegeben hatte -- über das Verhör Jack Rubys unmittelbar nach der Ermordung Oswalds und über Deans Tätigkeit im Kellergeschoß zum Zeitpunkt des Mordes.
»Er sagte, in diesen Aussagen gäbe es Dinge, die nicht wahr seien, und ich fragte ihn, welche Absätze er nicht für wahr halte, und dann sagte er sehr entschieden: »Jack Ruby hat Ihnen nicht erzählt, daß er das Kellergeschoß über die Auffahrt Main Street betreten hat' ...
»Natürlich war ich darüber konsterniert ... Und dann sagte Mr. Griffin noch: »Jack Ruby hat Ihnen nicht erzählt, daß er zwei Nächte vorher bereits gedacht oder geplant hatte, Oswald zu töten. Und er sagte: »Ihre Aussage war falsch, und diese Berichte an Ihren Polizei-Chef sind falsch.«
Dean bestand darauf, daß seine Angaben wahr seien; und er fragte Griff in, warum er ihn beschuldigte, falsch ausgesagt zu haben; und Griffin erwiderte, laut Dean: Er sei nicht Defügt, Dean seine Gründe darzulegen.
Bevor er den Stenographen wieder hereinbat, sagte Griffin: »Ich respektiere Sie als Zeugen. Ich respektiere Sie in Ihrem Beruf. Ich habe Ihnen meine Hilfe angeboten, und ich werde Ihnen meine Unterstützung noch einmal anbieten, und ich glaube nicht, daß Sie sich dem Risiko aussetzen, Ihre Stellung zu verlieren -- sofern Sie nun anfangen, mir die Wahrheit zu erzählen.«
Dean: »Ich erklärte Mr. Griff in nochmals, daß dies die Tatsachen seien und daß ich sie nicht ändern könne. Damit kehrten wir zum Protokoll zurück.«
Schließlich übernahm die Warren-Kommission Deans Darstellung, daß Ruby das Polizei-Hauptquartier über die Auffahrt Main Street betreten habe; der Ansicht, Ruby habe schon vor dem Sonntagmorgen beschlossen, Oswald umzubringen, pf lichtete sie jedoch nicht bei.
Andere Zeugen bestritten Rubys Darstellung, er habe das Polizeigebäude über die Auffahrt Main Street betreten.
Roy Vaughn, ein Polizist, der den Eingang zur Auffahrt Main Street bewachte, schwor: Ruby sei nie an ihm vorbeigekommen.« Niemand kam an mir vorbei«, erklärte Vaughn der Warren-Kommission.
»Jetzt wissen Sie natürlich, daß Ruby gesagt hat, er sei über diesen Weg gekommen«, erinnerte ihn ein Anwalt der Kommission.
»Ja, das ist mir klar«, sagte Vaughn. »Was meinen Sie dazu?« »Ich glaub' es nicht.«
»Sie glauben, er kam anders »rein?« »Das weiß ich nicht«, sagte Vaughn, »aber ich sage: Er kam nicht die Auffahrt hinunter ... Wie er 'reingekommen ist, das weiß ich nicht. Aber ich glaube nicht, daß er über die Auffahrt »reinkam.«
Seine Aussage wird durch eine Erklärung des Polizeileutnants Rio 5. Pierce unterstützt, der zu eben der Zeit, da Ruby die Einfahrt heruntergegangen sein müßte, im Wagen zur Main Street hinauffuhr. Pierce sagte: Er kenne Jack Ruby schon zwölf oder dreizehn Jahre und hätte ihn ohne weiteres erkannt. Als er die Auffahrt hinauffuhr, so meinte er, habe er ein Menschenknäuel gesehen; Jack Ruby sei nicht dabeigewesen.
In Rubys Darstellung gibt es einige bedeutsame Widersprüche. So sagte er an einer Stelle, daß er am Sonntagmorgen, kurz bevor er seine Wohnung verließ, den Entschluß faßte, Oswald umzubringen. An einer anderen Stelle sagte er, er habe das Haus einige Minuten vor elf verlassen. Und wieder an einer anderen Stelle sagte er, er habe das dunkle Gefühl gehabt, Oswald werde gegen zehn Uhr vormittags abtransportiert.
Wie konnte Ruby die Wohnung gegen elf Uhr verlassen und den Plan hegen, Oswald zu töten -- und zur selben Zeit der Meinung sein, es sei zu spät für ihn, in das Kellergeschoß des Polizeihauptquartiers zu gelangen und auf Oswald zu schießen?
Ruby wurde belauscht, wie er am Telephon sagte: »Sie wissen ja, ich werde da sein.« Dennoch beeilte er sich durchaus nicht, das Polizeigebäude etwa bereits um zehn Uhr zu erreichen -- zu dem Zeitpunkt nämlich, zu dem Oswald nach Ansicht der Reporter verlegt werden sollte.
Ruby sagte auch: Als er in die Stadt fuhr und vor der »Western Union«-Filiale hielt, habe er eine Menschenmenge vor dem Polizeigebäude gesehen und daraus geschlossen, man habe Oswald bereits weggefahren. Dennoch ging Ruby hinüber und kam gerade rechtzeitig, um Oswald zu begegnen.
Es ist durchaus möglich, daß Ruby -- als er um elf Uhr in die Stadt fuhr -- sicher war, Oswald noch nicht verpaßt zu haben. Es scheint gleichfalls möglich, daß Ruby um 11.18 oder um 11.19 Uhr -- als er in das Gebäude der Polizei ging -- wußte, daß Oswald noch nicht unterwegs war.
Wie wir gesehen haben, ist Rubys Aussage oft zusammenhanglos, gelegentlich jedoch voller rätselhafter Andeutungen.
Ruby sagte mal: »Wer sonst wohl hätte es so exakt nach Sekunden planen können?« Und er sagte auch: »Wäre es in dieser Weise geplant gewesen, dann muß jemand von der Polizei schuldig sein, der die Information weitergab, wann Oswald herunterkommen sollte.«
Derlei Bemerkungen lassen die Frage aufkommen, was in Rubys Aussage möglicherweise verborgen sein könnte.
Doch nicht nur eine -- viele Fragen bleiben offen; und besonders drei müssen noch einmal gestellt werden:
* Hält die Darstellung der Warren-Kommission einer genauen Untersuchung stand?
* Beweist die Kommission ohne jeden Zweifel, daß Oswald den Präsidenten ermordete?
* Kann sie belegen, daß Oswald und Ruby jeweils für sich und ohne jeden Komplicen handelten?
Die Antworten müssen, leider, negativ sein. Ungewißheit herrscht über
* Oswalds Motive,
* die Anzahl der Schüsse auf Kennedy,
* die Art und Lage der Wunden,
* die Ereignisse während Oswalds Haft und Verhör,
* Rubys Weg ins Polizeigebäude,
* Rubys Motive, und schließlich über
* die Frage, ob zur Ermordung Kennedys oder zur Ermordung Oswalds oder in beiden Fällen eine Verschwörung bestand.
Was bleibt? Die Gewißheit, daß Oswald
* an dem Attentat auf Präsident Kennedy beteiligt war -- ob er es nun allein oder mit anderen ausgeführt hat;
* den Polizisten Tippit ermordete -- wenngleich unklar bleibt, unter welchen Umständen;
* von Ruby erschossen wurde.
Dies also ist das große Werk der Warren-Kommission: Sie bewies die Hälfte dessen, was sie zu beweisen gehofft hatte.
Sie wies nach, daß Oswald ein Gewehr besaß, wie es beim Attentat benutzt wurde; daß er sich im sechsten Stockwerk des Buchlagers befand, als die Schüsse auf Kennedy fielen; und daß er ein Gewehr bei sich hatte.
Und alle, bis auf die hartnäckigsten Skeptiker, konnte sie davon überzeugen, daß der Polizei von Dallas kein Fehler unterlief, als sie Oswald knapp 90 Minuten nach der Ermordung des Präsidenten als Attentäter verhaftete.
Doch da sie unbequeme Aussagen ignorierte, Zeugen übersah, Beweise zurückhielt und Dutzende von Fragen unbeantwortet ließ, konnte sie den zweiten Teil ihrer Behauptungen nicht beweisen -- daß Oswald und Ruby für sich allein gehandelt haben.
Es sei hier festgestellt: Daß die Warren-Kommission diese Behauptung nicht belegen kann, beweist natürlich noch nicht, daß es eine solche Verschwörung gegeben hat. Es Ist durchaus möglich, daß Oswald und Ruby jeweils allein gearbeitet haben.
Das Problem ist ein anderes: Die Kommission, unsere bislang einzige amtliche Informationsquelle über das Attentat, hat eine Menge Fragen, die eine solche Schlußfolgerung zulassen, nicht zufriedenstellend beantwortet. Und offene Fragen führen nun mal schnell zu falschen Schlüssen.
Seinerzeit, in einem Augenblick äußerster Not, hatte die Warren-Kommission die Aufgabe, das amerikanische Volk zu beruhigen, um klarzumachen, daß die amerikanische Gesellschaft nicht krank, sondern stabil sei. Und die Kommission streichelte und versicherte uns, daß die Ereignisse, deren Zeugen wir geworden waren, nichts anderes als Missetaten verirrter Einzelgänger gewesen seien.
Doch die Zeit ist weitergegangen. Der Report wurde gelesen und geprüft. Und beharrlicher denn je sind unsere Zweifel.
»Die Warren-Kommission«, so meint das Magazin »Liberation«, »hat ihren auf den ersten Blick plausiblen Report und 26 Bände voller Beweise vorgelegt -- von den meisten Leuten als Lektüre überhaupt nicht zu bewältigen -, um ihre Schlußfolgerungen zu untermauern ... Aber es ist denkbar unwahrscheinlich, daß die Kommission tatsächlich erwartet, damit auf die Dauer davonzukommen.«
Und weiter: »Es ist schon längst kein Geheimnis mehr, daß der Warren-Report einer wissenschaftlichen Analyse und einer objektiven Prüfung nicht standhalten wird ...«
Die Kommission hatte die Verpflichtung, so hartnäckig wie nur menschenmöglich die Wahrheit zu suchen. Um sie zu finden, hätte sie auch dem geringsten Verdacht nachgehen müssen.
Daß sie das versäumte, daß sie Zeugen und Aussagen ignorierte und sich selbst sogar die Röntgenaufnahmen und Photos von der Leiche und den Wunden des ermordeten Präsidenten vorenthielt, haben wir bereits betont.
Nahezu all ihre Beweise bezog die Kommission von den Behörden in Dallas, von FBI, Secret Service und CIA. Eigene, unabhängige Rechercheure hatte sie nicht.
Aber anders als vor Gericht konnte niemand während der Untersuchungen irgend etwas in Frage stellen. Es wurden keine Beweismittel abgelehnt -- es sei denn von der Kommission. Es wurden keine Fragen gestellt -- es sei denn von der Kommission. Es wurden keine Aussagen gewürdigt -- es sei denn von der Kommission. Und kein einziger Zeuge wurde ins Kreuzverhör genommen.
In diesem drittklassigen Drama spielte die Kommission alle Rollen selbst -- den Staatsanwalt wie den Verteidiger, den Richter wie die Geschworenen.
Und so wurden nirgends Zweifel laut, tauchten nirgends Meinungs-
* Am 6. Januar 1967. Ruby war drei Tage vorher In einem Krankenhaus in Dallas an Krebs gestorben.
verschiedenheiten auf, war nirgends die Spur von Widerspruch zu finden.
Konnte die Kommission unter derlei Bedingungen überhaupt vernünftigerweise hoffen, die Wahrheit zu finden?
Hätte sie abweichende Aussagen zur Kenntnis genommen, wäre das Bild vom Attentat vermutlich anders ausgefallen -- dann wären die offenen Fragen möglicherweise beantwortet worden.
Hätte sie alle Faktoren -- auch wenn sie nicht in ihr vorgefaßtes Bild paßten -- berücksichtigt, dann hätten die vielen Einzelteile sich vielleicht plötzlich in ein anderes Ganzes gefügt.
Wie verteidigt sich die Kommission? Sie betont im Vorwort zu ihrem Report: »Der Weg, den die Kommission bei der Sicherung der Beweise einschlug, unterschied sich notwendigerweise von dem eines Gerichts, das einen Strafprozeß gegen einen anwesenden Angeklagten führt. Denn unser Rechtssystem sieht kein posthumes Gerichtsverfahren vor.
»Lebte Oswald noch, so wäre ihm ein ordentliches Gerichtsverfahren zuteil geworden. Er wäre in der Lage gewesen, alle ihm nach dem Gesetz zustehenden Rechte in Anspruch zu nehmen. Ein Richter und eine Geschworenenbank hätten ihn so lange für unschuldig angesehen, bis seine Schuld nach menschlichem Ermessen erwiesen gewesen wäre.
»Es hätte ihm zugestanden, Aussagen zu machen, die wohl nicht ohne Einfluß auf den Verlauf des Verfahrens geblieben wären. Er hätte sich selbst verteidigen oder seine Verteidiger beraten können.
»Eine Untersuchung hätte stattgefunden, in der zu klären gewesen wäre, ob er nach den geltenden Rechtsnormen geistig zurechnungsfähig sei.
»Alle Zeugen, einschließlich des Beklagten selbst, wären der bei amerikanischen Gerichten üblichen Methode des Kreuzverhörs durch die Parteien unterworfen gewesen.«
Dann heißt es: »Die Kommission sah ihre Aufgabe weder darin, als Gericht zu arbeiten, vor dem streitende Parteien erscheinen, noch konnte sie als Ankläger auftreten. Sie mußte sich vielmehr als eine Institution verstehen, die Fakten zur Ermittlung der Wahrheit festzustellen hat.«
Wie soll man begreifen, daß die Kommission allen Ernstes geglaubt haben will, auf eingehende Untersuchungen verzichten zu müssen -- nur weil Oswald tot war?
Die Ungereimtheit solcher Argumentation wird noch deutlicher, wenn man bedenkt, daß ein Teil des veröffentlichten Beweismaterials nie zugelassen worden wäre, hätte man einem lebenden Oswald das Verfahren gemacht.
»Der Warren-Report«, so schrieb Alfredda Scobey (übrigens eine Mitarbeiterin der Kommission) im »American Bar Association Journal«, »strotzt nur so vor Angaben, die in einem Strafverfahren unzulässig wären.«
Miss Scobey beeilt sich aber, darauf hinzuweisen, daß sie sehr wohl zugelassen werden konnten, weil Oswald tot war, nicht vor Gericht stand -- und die Kommission somit nicht mehr an die Vorschriften der Strafprozeß-Ordnung gebunden war.
Was für eine Logik ist das?
Die Kommission war, wie zu vermuten, selbst nicht ganz glücklich über ihre Methoden und Möglichkeiten.
Drei Monate nachdem sie ihre Untersuchungen begonnen hatte, lud sie plötzlich Walter E. Craig, den Präsidenten der amerikanischen Anwaltskammer, ein. Er sollte »an der Untersuchung teilnehmen und die Kommission beraten, ob ihr Vorgehen ... mit den Grundprinzipien der amerikanischen Gerichtsbarkeit vereinbar sei«.
Mit anderen Worten: Nach dreimonatiger Arbeit war sich die Kommission -- ein Gremium aus sieben Juristen mit dem Obersten Richter an der Spitze -- im Zweifel, ob sie wirklich nur noch ermittelte oder bereits eine Anklage ausarbeitete. Sie hielt es für erforderlich, bei einem unabhängigen Juristen Rat und Hilfe zu suchen.
Aber auch Craig nahm niemanden ins Kreuzverhör, zog keinen Beweis in Zweifel, stellte kaum eine Frage.
Mark Lane, ein redegewandter Anwalt, hatte die richtige Idee, war aber für die Kommission offenbar der falsche Mann. Er bat, während der Untersuchungen Oswalds Interessen vertreten zu dürfen. Aber die Kommission wies ihn ab.
Wahrscheinlich war die Entscheidung richtig. Denn nicht die Interessen Oswalds, sondern die Interessen des amerikanischen Volkes hätten gegen das Establishment vertreten werden müssen. Und dieser Anwalt des Volkes hätte die Fragen stellen müssen, die die Amerikaner beantwortet wissen wollten; er hätte Zeugen ins Kreuzverhör nehmen und eigene Zeugen benennen müssen.
Hätte er seine Aufgabe erfüllt, wäre auch die Kommission besser dran gewesen: Dann hätte sie als reine Ermittlungsbehörde arbeiten können, und uns wäre eine Menge Ungewißheit erspart geblieben.
Denn ein solcher Anwalt des Volkes hätte der Kommission nie gestattet, die Röntgenbilder und die Photos von Kennedys Leiche zu unterdrücken.
Er hätte im Namen des Volkes gefordert, so wichtiges Beweismaterial einsehen und sich anhand der Photos ein genaues Bild über die Lage der Wunden machen zu können.
Er hätte alle Zeugen der Ermordung Tippits aufgerufen.
Er hätte auch die Zeugen gehört, die meinten, beim Attentat auf Kennedy seien auch vom Grashügel Schüsse gefallen.
Er hätte darauf bestanden, alle Zeugen der Verhaftung Oswalds im »Texas Theater« zu vernehmen.
Er hätte nicht lockergelassen, Captain Fritz zu fragen, warum Oswalds Aussagen nicht protokolliert wurden.
Er hätte die Hupsignale des angeblichen »Streifenwagens« vor Oswalds Haus genauer untersucht.
Er wäre den Begleitumständen um Oswalds Tod viel penibler nachgegangen.
Kurzum -- er hätte sich bemüht, die Myriaden an Rätseln zu lösen.
Unglücklicherweise müssen wir sagen: »Hätte Denn ein solcher Anwalt des Volkes wurde nie bestellt. So bleiben seine Fragen, die auch unsere Fragen sind, ohne Antwort.
Die Warren-Kommission hat uns diesen Anwalt versagt -- und uns so das Vertrauen in ihre Untersuchung genommen.
Die Warren-Kommission hat ihr Werk vollendet -- aber wir wissen noch immer nicht mit Sicherheit, was am 22. November 1963 geschah. Verlierer ist das amerikanische Volk. ENDE