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»MEIN MANN IST LEIDER VERHINDERT ...«

aus DER SPIEGEL 36/1969

Seine Freunde fürchten, er könnte ihnen Verluste zufügen; seine Gegner müssen damit rechnen, daß sie ihm Gewinn verschaffen: In diesen Tagen will niemand den Bundeskanzler einer Erörterung seiner Tätigkeit unter Hitler aussetzen. Freunde und Gegner sind in Sorge um Kurt Georg Kiesinger vereint. Die einen wie die anderen können den Effekt einer Reise in die Vergangenheit nicht berechnen. So waltet denn in dieser Hinsicht Kulanz im Wahlkampf: Wo man die Wirkung nicht berechnen kann. dort eben fängt die Fairneß an.

Ein verbales Patt regiert die Vorwahlstunden: Haust du meinen Nazi. schlag ich deinen Emigranten -- und dann beziehen wir beide Prügel, ein jeder von seinem Computer. Schließlich haben die uns das verboten, weil sie in dieser Gegend nicht mehr kalkulieren können.

Inzwischen ist die von befreundeter und gegnerischer Fürsorge geschaffene Windstille im Zentrum des Wahlsturms allerdings so groß geworden, daß sie Kurt Georg Kiesinger beunruhigen muß. Denn die Lebenserfahrung lehrt, daß eine derart ausdauernde Rücksicht nur Personen zuteil wird, die ihre Umgebung für überaus bedürftig hält. Es gibt einen Grad von Satisfaktionsunfähigkeit, der den rüdesten Herausforderer zurückprallen läßt.

Wer von Freund und Gegner so hartnäckig karitativ behandelt wird wie Kurt Georg Kiesinger hinsichtlich seiner Tätigkeit unter Hitler, kann nicht ewig Trost darin finden, daß er ein Posten unter den letzten noch unberechenbaren ist.

Im Juli vergangenen Jahres mußte Kurt Georg Kiesinger als Zeuge in einem NS-Prozeß aussagen. Er gab an, er sei »nicht aus Überzeugung und nicht aus Opportunismus« am 1. Mai 1933 in die Partei eingetreten. Wäre Kurt Georg Kiesinger von Zweifeln, von Bedenken oder gar Kritik hinsichtlich seiner Tätigkeit unter Hitler umstellt gewesen, so wäre er doch wohl unverzüglich in der Sitzung gefragt worden, warum er denn dann überhaupt, wenn schon nicht aus Opportunismus oder Überzeugung, in die Partei Hitlers eingetreten sei.

Kurt Georg Kiesinger wurde nicht gefragt. Die Hinnahme dieser Äußerung durch das Gericht und später durch Freund und Gegner war eine außerordentliche Versuchung. Daß Kurt Georg Kiesinger ihr erlegen ist, geht nicht nur ihn an.

Kurt Georg Kiesingers Auftritt als Zeuge im Juli vergangenen Jahres war ruinös: nicht weil er unerträgliche Dinge einzugestehen hatte, sondern weil er banale Dinge unerträglich vortrug. Kurt Georg Kiesinger ist nicht einfach zu unaufmerksam gewesen, um sich mit den Gerüchten über Judenmord ernsthaft auseinanderzusetzen, bewahre: Er leistete Widerstand. »Mein Widerstand dagegen war -- am zähesten.« Er hat nicht etwas gehört, bewahre: Wenn er auf solche Meldungen gestoßen sein sollte, dann »waren es sicherlich diese, die ich für Greuel-Propaganda gehalten hätte«. Und erst zuletzt, erst gegen Kriegsende: » ... dann wäre ich viel eher geneigt gewesen, eine entsprechende Meldung zu glauben«.

* Mit den Rechtsanwälten Egon Geis (l.) und Horst Mahler.

Kurt Georg Kiesinger ist nach seinem Zeugenauftritt ein wenig verspottet worden, mehr nicht. Er fand Trost, mochte meinen, ihn trüge nicht nur Arithmetik. Und als Beate Klarsfeld ihn im November vergangenen Jahres ohrfeigte, da war auch das nur wieder eine Versuchung, der er zum Opfer fiel. Er wurde dazu überredet, Strafanzeige zu erstatten, wo er die Staatsanwaltschaft ihrem Verfolgungszwang hätte überlassen können. Und fortan war er entlastet, was den fatalen Ablauf dieser Strafsache anging, denn er war eben schlecht beraten worden, und das kann jedem passieren.

Die fixe Verurteilung Beate Klarsfelds zu sensationellen zwölf Monaten Gefängnis ohne Bewährung setzte Kurt Georg Kiesinger, den derart in Wahrheit bestraften, noch weiter ab, denn immerhin, er hatte auf dieses Strafmaß nicht gedrängt, geschweige denn auf das Urteil des Einzelrichters Einfluß gehabt.

Beate Klarsfeld ist die einzige, die mit Kurt Georg Kiesinger in die Vergangenheit reisen will. Das hat ihrem »Kampf«, der sich nach ihrer massiven Verurteilung auf ihre Berufung hätte konzentrieren sollen, schrille Töne hinzugefügt. Ste ist nicht Judith, der Bundeskanzler nicht Holofernes; doch nur was ihn betrifft, wissen es alle. Über Auftritten, Konferenzen. einer Gegenkandidatur in Kiesingers Wahlkreis und forschen Sprüchen verrannte sie sich in den Versuch einen NS-Verbrecher Kurt Georg Kiesinger dokumentarisch belegen zu wollen, den es nicht gegeben hat. Sie zielte hoch über die simple Angst und das advokatische Geschick hinaus, aus der und mit dem sich Kurt Georg Kiesinger als Zeuge eingelassen -- und unter Hitler behauptet hatte.

Es ist leicht, sich den schrillen Tönen der Beate Klarsfeld zu entziehen. Niemand hat es Kurt Georg Kiesinger schwergemacht, sich abzuwenden, am wenigsten Beate Klarsfeld. Ihre Dokumentenjagd hat nur Papier erbracht, aus dem sich mittelbare Überlegungen, aber keine zwingenden Schlüsse ergeben.

Rechtsanwalt Geis, Frankfurt, einer der Verteidiger Beate Klarsfelds, der Wiederentdecker des Paragraphen 220 der StPO, welcher es dem Angeklagten gestattet, Zeugen unmittelbar zu laden, die er für erforderlich hält, lud Kurt Georg Kiesinger durch den Gerichtsvollzieher zur Berufungsverhandlung in der vergangenen Woche.

Kurt Georg Kiesinger erklärte sich für ordnungsgemäß geladen -- und ließ dem Berufungsgericht durch seinen Staatssekretär Carstens zugehen, er sei durch »anderweitige Verpflichtungen« am Erscheinen verhindert. Das Berufungsgericht nahm die Entschuldigung als hinreichend an. Beate Klarsfeld und ihre Verteidiger verzichteten danach auf weitere Äußerungen in der Sitzung. Das Gericht reduzierte die Strafe auf vier Monate Gefängnis, die es zur Bewährung aussetzte. Im April hatte es eine erste Berufungsverhandlung ergebnislos abgebrochen, weil es keine Zeit mehr hatte, sich mit der Ladung Kiesingers zu befassen. Wenn Staatssekretär Carstens nunmehr schreiben kann, wie Marlene Dietrich in einem Chanson singt: »Mein Mann ist verhindert, er kann Sie leider nicht sehen« -- warum nicht schon im April?

Die Verteidigung hat Revision eingelegt. Was die Staatsanwaltschaft wenigstens vorsorglich tut, ist noch nicht bekannt. Ihr Vertreter, der im November 1968 die berüchtigten zwölf Monate beantragt hatte, blieb in der vergangenen Woche bei seinem Antrag. Zur Begründung. führte er an, auch Karl-Heinz Pawla, jener Kommunarde, der im September 1968 vor einem Berliner Schöffengericht seine Notdurft verrichtete, habe zehn Monate ohne Bewährung bekommen.

Pawlas Durchfall hat durchgeschlagen. Wozu dieser Haufen doch alles gut ist. Irgendwann wird sich die Staatsanwaltschaft allerdings entscheiden müssen, ob beides auf einer Ebene liegt: eine Kanzlerohrfelge und Fäkalienwurf. Das ist nicht angenehm für den Bundeskanzler, wenn er eine »demütigende« Ohrfeige erleidet und später auch noch Strafzumessungsüberlegungen, die ihn dann zwangsweise durch etwas ziehen.

Kurt Georg Kiesinger hatte sich als Zeuge über die NS-Vergangenheit zu nichts zu bekennen. Er hat nichts gewußt, würde, wenn er tatsächlich gehört haben sollte, nichts geahnt haben, und erst die totale Niederlage hat ihn zu Erkenntnissen geweckt, die man als guter Deutscher gar nicht früher haben durfte. In bevorstehenden und laufenden NS-Prozessen, beispielsweise in Frankfurt, spielt die Frage keine geringe Rolle, was »man« seinerzeit wußte, wissen mußte und wie man sich zu seinem Wissen zu verhalten hatte.

Kurt Georg Kiesinger hat die Subtilität seiner Darlegungen recht stark entwickelt. Das könnte ihn denn doch in Zukunft zu einem Zeugen machen, dessen Verhinderung nicht jedes Gericht hinnehmen mag. Man kommt nicht umhin, die Mörder und die Mordgehilfen an Kurt Georg Kiesinger zu messen. Wenn soviel Subtilität wie die Kurt Georg Kiesingers nötig war, um nicht morden zu müssen -- dann entlastet das manchen. Wenn soviel Begabung wie die Kiesingers nicht begriff, wenn eine Informationsmöglichkeit wie seine ihn nicht vor dem Ende belehrte -- dann ist das ebenfalls entlastend.

Man sollte nicht um Kurt Georg Kiesinger in Sorge sein. Man sollte sich Sorgen um jene machen, deren Verurteilung sich an Kurt Georg Kiesinger gemessen als zu selbstgerecht erweisen könnte. Die Sorge um Kurt Georg Kiesinger besagt, daß wir fürchten, es könnte unmöglich sein, uns auf Kosten jener zu entlasten, die als der letzte Mann getötet haben.

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