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»Meine Lügen haben verdammt kurze Beine«

SPIEGEL-Reporter Gerhard Mauz im Prozeß gegen den entlassenen Oberfähnrich Uwe Helling in München *
Von Gerhard Mauz
aus DER SPIEGEL 52/1986

Nein, diese Anklage muß falsch, ein böser Irrtum der Staatsanwaltschaft beim Landgericht München I sein. Da sitzt ein junger Mann, der den Beruf des Soldaten schon früh als das Höchste empfand, was man erreichen kann; ein junger Mann, der auch aus Nationalstolz zur Bundeswehr ging, um sich unter härtesten Umständen zu bewähren. Und dieser junge Mann soll einen Mord begangen, einen Wachmann getötet haben der auf einem Gelände der Bundeswehr Dienst tat?

Ratlos betrachtet man den schlanken großgewachsenen jungen Mann. Daß Menschen, denen Mord vorgeworfen wird, nicht so aussehen, weiß man - aber dieser disziplinierte junge Mann?

Der Angeklagte wird zur Person befragt. Er eilt durch seine Daten. Die gehören, er läßt das gleich spüren, nicht hierher. Sie gehören nicht an die Öffentlichkeit, weil er unschuldig ist. Sie gehören aber auch nicht an die Öffentlichkeit, weil der Soldat seinen privaten Lebensbereich bedeckt zu halten hat.

Der Vorsitzende Richter Heinz Alert, 50, muß den Angeklagten bremsen: »Nicht ganz so schnell, Herr Helling:...« Uwe Helling, 22, ist von der Bundeswehr am 4. November fristlos entlassen worden und hat dagegen Beschwerde eingelegt. Zuletzt ist er Oberfähnrich gewesen, doch Soldat ist er weiterhin. Seine Sätze sind kurz, seine Antworten knapp.

Der Vorsitzende Richter bemüht sich, mit dem Angeklagten in ein Gespräch zu kommen. So fügt er der Feststellung, daß Uwe Helling zwei Brüder hat, 20 und 15 Jahre alt, die Bemerkung hinzu: »Sie sind also der älteste.« Uwe Helling: »Exakt.« Zur Feststellung, daß seine Grundausbildung am 4. Juli 1983 in Landsberg am Lech begann: »Richtig.« Aber auch, als davon die Rede ist, er habe unmittelbar nach dem Abitur einrücken müssen, ein »Nein« - einfach ein »Nein« ohne Erklärung. Die muß erfragt werden:"Das ist also nicht richtig?« Der Soldat antwortet auf Fragen.

Persönliches ist kaum in Erfahrung zu bringen. Die Erziehung lag vor allem bei der Mutter. Der Vater war beruflich oft abwesend, aber dennoch ein Vorbild. Warum? »Streng, aber gerecht.« Freunde? Beschränkt auf den »Kameradschaftskreis«. Freundinnen? Nein, keine, nie eine. Er hat dafür keine Zeit gehabt, oder, und das ist für Uwe Helling schon erstaunlich weitgehend, geglaubt, keine Zeit zu haben.

Überhaupt, hier wird er ein wenig mitteilsamer. »Ablenkung vom Studienziel« an der Bundeswehruniversität war zu erwarten von einer Freundin. »Wenn man ständig eine Frau herumschleppt...« Und da kommt denn auch die behutsame Frage des Vorsitzenden Richters, auf die Uwe Helling gewartet hat, zu der er sich erklären möchte, wegen der er begonnen hat, ein wenig mitteilsamer zu werden.

»Nein, ich war nie ein warmer Bruder. Und ich habe auch nicht die Absicht, einer zu werden«, sagt Uwe Helling. Das mußte er, der Soldat, klarstellen. Er stellt auch in einem anderen Punkt klar, als er auf Zeichnungen aus dem sadomasochistischen Bereich angesprochen wird, die man bei ihm gefunden hat.

»Kurzzeitig« hat ihn das »akademisch« interessiert. Aber er ist zu dem Schluß gekommen, »daß es sich bei einem angehenden Berufsoffizier nicht gehört, solchen Sachen nachzugehen«. Seinem Soldatenbild hat er alles untergeordnet, sein Bild vom Soldaten hat ihn bestimmt. Welches Gewicht dieses Bild hat, wie mächtig es ist, lassen Antworten Uwe Hellings ahnen, die er auf Fragen des Staatsanwalts Michael Kruse, 34, gibt.

Ob er enttäuscht wurde von der Bundeswehr? In einigen Punkten ist er »nicht so zufrieden« gewesen. Er habe härtere Vorstellungen von Ausbildung gehabt, strengere Disziplin erwartet. Der Drill sei bei der Bundeswehr nicht so scharf wie in anderen Ländern. Das liege am Beschwerderecht.

Auf die Frage des Vorsitzenden Richters nach seiner politischen Orientierung antwortet Uwe Helling: »Schwarz, ohne die entsprechende Brauntönung.« Ob er ein Einzelgänger sei? »Ja, das kann man sagen.« Dem Staatsanwalt bestätigt er, daß er durch sein Einzelgängertum so etwas wie ein »Fremdkörper in der Ausbildung« gewesen ist. Doch, wenn er das auch nicht ausspricht - ein Fremdkörper war er, weil seine Auffassung vom Beruf des Soldaten strenger, härter und entschiedener war als die der anderen.

Die ehemaligen Kameraden, inzwischen Leutnants, einen spricht Uwe Helling mit »Herr Leutnant« an, bestätigen das indirekt als Zeugen. Ratloser Respekt ist ihr Unterton. Unter ihnen hat Uwe Helling als der Urtyp eines guten Soldaten schlechthin gegolten, als überdurchschnittlich motiviert, als ein »harter Mann«. Die Zeugen bestätigen ihre früheren Aussagen nur ungern. Eine »Kampfsau und einen Waffennarren« hatte ihn einer genannt. Jetzt fügt er hinzu, daß aber auch andere »Kampfsau« genannt werden.

In der Nacht vom 4. auf den 5.Februar 1986 wurde der zivile Wachmann Heiner Benecke, 45, zwischen 3.22 und 3.35 Uhr auf seinem Rundgang im Hörsaalgebäude der Universität der Bundeswehr in Neubiberg bei München überfallen und getötet. Er verblutete nach zahlreichen Messerstichen und -schnitten. Es fehlten bei der Leiche der Schlüsselbund, den der Wachmann mit sich geführt hatte, und die Dienstwaffe, die er trug. Erst am Vormittag gegen 9.00 Uhr wird entdeckt, daß in einem anderen Gebäude auf dem Gelände versucht worden ist, in das Zimmer 2408 einzudringen. Das Zimmer ist das Dienstzimmer des Vorsitzenden des Prüfungsausschusses für den Fachbereich Informatik, des Professors Braun.

Der Täter muß erbittert versucht haben, sich Zugang zu verschaffen. Nachdem er mit Schlüsseln keinen Erfolg hatte, hat er noch, gleichfalls erfolglos, auf das Schloß geschossen. Die Fahndung bekommt damit eine Richtung. Der Wachmann ist überfallen worden, weil sich der Täter in den Besitz seines Schlüsselbundes setzen wollte. Der Täter nahm - fälschlich - an, zu dem Bund gehöre auch ein Schlüssel, mit dem sich das Zimmer des Professors öffnen läßt. In dem Zimmer befanden sich bereits korrigierte Examensklausuren der letzten Vordiplomprüfung, die am 9. Januar 1986 geschrieben wurden.

So geraten die Informatikstudenten in Verdacht, die an dieser Prüfung teilgenommen haben. Es handelt sich bei ihnen um jene Offiziersanwärter, die bei der Teilprüfung im Fach Informatik II am 25. September 1985 scheiterten. Mit der Note 4,7 ist damals auch Uwe Helling durchgefallen, der in den anderen vier Prüfungsteilen bestanden hatte. Im Rahmen seiner Routineüberprüfung im Polizeipräsidium in München verwickelt er sich in Widersprüche. Nachdem auch noch eine Schmauchanhaftung an seiner rechten Hand nachgewiesen wird, was bedeutet, daß er vor kurzer Zeit geschossen haben muß, wird er in der Nacht zum 7. Februar 1986 vorläufig festgenommen.

Die von Staatsanwalt Kruse erarbeitete und verfaßte Anklage ist ein Muster von einer Anklageschrift. Sie fügt ein belastendes Detail nicht ohne Abwägung zum anderen. Da heißt es beispielsweise daß bestimmte Angaben des Angeschuldigten »gewissen Zweifeln unterliegen«. Allenfalls geht Staatsanwalt Kruse bis zu dem Satz: »Diese Einlassung (des Angeschuldigten) ist nicht nachvollziehbar.« 120 Seiten ohne ein Wort der Jagdlust - vor Uwe Helling türmt sich ein Gebirge.

Uwe Hellings Einlassung zur Person hat die Ratlosigkeit verstärkt, in der man sich ihm gegenüber befindet. Sein Bild vom Soldaten - ein verkrampftes Bild, ein Bild von gestern, Lust am Stahlgewitter; das Bild eines Soldaten, der nicht der Soldat in dieser Zeit sein darf, wenn denn Soldaten sein müssen.

Gerade dieses überanstrengte, unwirkliche Soldatenbild macht es einem jedoch noch unvorstellbarer, daß Uwe Helling getötet haben könnte. Sein Bild vom Soldaten quillt über von Ethik, es hat geradezu unmenschlich starre Vorstellungen von Gut und Böse zum Inhalt. Daß dieser Uwe Helling getötet haben soll, grausam und um eines unsäglich egoistischen Zieles willen...

Doch der Uwe Helling, der zur Sache aussagt, der versucht, sich all dessen zu erwehren, was Staatsanwalt Kruse zusammengetragen hat, ist plötzlich ein ganz anderer Uwe Helling. Aus seiner diszipliniert wirkenden Knappheit wird fast Redseligkeit. Der Vorsitzende Richter Alert ist ein Richter, der diesen Angeklagten nicht in die Enge zu treiben sucht. Seine Vorhalte und Fragen sind Appelle, sind Angebote. Der Vorsitzende Richter spricht die Intelligenz und die Vernunft des Angeklagten an. Er weist auf die Widersprüche zwischen dem Anspruch hin, den Uwe Helling in seiner Aussage zur Person erkennen ließ - und dem kläglichen Winden und Würgen mit dem er sich zur Sache einläßt.

Dem Studium hat sich Uwe Helling nur unterzogen, weil es Voraussetzung für die Offizierslaufbahn ist, er hatte das Gefühl, daß es »lasch« macht. Er hätte die Nachprüfung noch einmal wiederholen können, wenn er auch im zweiten Anlauf gescheitert wäre. Erst dann, nach einem dritten Scheitern, wäre es mit dem Beruf, der für ihn die Erfüllung war und ist, aus gewesen.

Einmal erwähnt er, daß er eben gewisse Grundkenntnisse nicht gehabt habe. Er kann schon in Sorge gewesen sein, obwohl seine Kameraden sich erinnern, daß er sagte, er habe ein gutes Gefühl, was den zweiten Anlauf angehe. Er irrte sich nicht, wenn das so war. Er hatte mit

2,7 bestanden. Aber er hat wohl von einem guten Gefühl nur gesprochen, um seine Panik zu tarnen. Er hat verzweifelt versucht, seine Note im voraus zu erfahren, unstreitig.

Und da sind Blutspuren, da ist nicht nur die Schmauchspur, da ist ein Fingerabdruck. Ein teures US-Messer, wie Uwe Helling eines besessen, aber verloren hat, wie er behauptet, ist nahe einem Ort gefunden worden, in dem Uwe Helling einen Teil seiner Jugend verbrachte in einem Waldstück, das ihm vertraut gewesen sein muß. Dort fanden sich auch der Schlüsselbund und die Pistole des Wachmanns...

Gipfel der Einlassung Uwe Hellings ist »die Gruppe«, ein paramilitärischer Zusammenschluß von vier, fünf oder sechs Soldaten, Offiziere darunter. Diese Gruppe soll sich heimlich getroffen und Schießübungen und anderes in der Nacht veranstaltet haben. Diese Gruppe hat sich Verschwiegenheit geschworen, und Uwe Helling fühlt sich an diesen Eid gebunden. »Meine Ehre heißt Treue«, und alles womit er sich entlasten könnte, läßt diese Treue nicht zu.

Uwe Helling, wenn er den Wachmann Heiner Benecke getötet hat, beging eine gräßliche Tat. Er hat einen korrekten und tüchtigen Mann umgebracht, der nach einem Leben im Ausland, das er wegen Krankheit aufgeben mußte, in der Bundesrepublik wieder Fuß zu fassen suchte. Doch das Entsetzen über die Tat und das Mitgefühl für das Opfer - lassen auch Raum dafür, daß man einen Menschen, auch den schuldigsten nicht, nicht so erleben mag, wie man Uwe Helling erlebt. Er lügt nicht einfach wie einer, der nicht zu dem stehen will, was er getan hat. Sein Winden und Würgen hat etwas Zwanghaftes. Einmal sagt er, als spräche er von einem anderen: »Meine Lügen haben verdammt kurze Beine.«

Der Psychiater Professor Hans-Jürgen Möller, 41, erstattet ein Gutachten, das nicht zu einem Strafmilderung ermöglichenden Ergebnis kommt. Professor Möller spricht von einem emotional extrem kühlen und verschlossenen Menschen und von einseitiger Betonung moralischer Wertnormen, von Vorstellungen vom preußischen Offizier, die »extrem pervertiert werden«. Demokratische Grundprinzipien akzeptiere der Angeklagte nur formal. Er sei eine »schizoide und zwanghafte Persönlichkeit«. Menschen, die später schizophren würden böten vorher ein Bild, wie es Uwe Helling bietet.

Wie es zu Handlungen kommen könne, wenn der Angeklagte der Täter sei die außerhalb seiner sonst geltenden Vorstellungen liegen, lasse sich nur sagen, wenn Uwe Helling sich öffne. Wäre der Angeklagte nicht gerade über den 21. Geburtstag hinaus gewesen, als die Tat geschah, so würde der Sachverständige nicht zögern, wenn der Angeklagte der Täter ist, ihm Unreife zu attestieren. Mit der telephonischen Mitteilung eines Verwandten, daß es in der Familie des Angeklagten zwei Falle von Schizophrenie gegeben haben soll, kann der Sachverstandige mangels näherer Angaben nichts anfangen.

Uwe Helling wird vom Rechtsanwalt Martin Amelung verteidigt, einem hervorragenden Mann, seiner juristischen und menschlichen Qualitaten wegen. Verteidiger Amelung beantragt danach die Hinzuziehung eines weiteren Sachverständigen, eines in Göttingen ansässigen Psychiaters, der versuchen kann, mit der dort wohnenden Familie seines Mandanten ins Gespräch zu kommen. Das Gericht, dem außer den drei Berufsrichtern zwei Schöffinnen angehören, lehnt diesen Antrag ab.

Zuvor hat noch der Vater des Angeklagten auf sein Aussageverweigerungsrecht verzichtet. Er hat ausgesagt, daß es in seiner engeren Familie nicht zwei Fälle, doch einen schwerwiegenden Fall von Schizophrenie gegeben hat. Professor Möller ist noch einmal gekommen, er nimmt neben dem Zeugen Platz und versucht, das Publikum ist vorübergehend ausgeschlossen worden, ein ärztliches Gespräch zu führen.

Professor Möller sagt nicht, daß er nun doch auch mit der Mutter sprechen müsse. Er verzichtet darauf, sich um Einblick in die Krankenakten der nahen Verwandten des Angeklagten zu bemühen, obwohl diese in der Nähe, in Erlangen und München-Haar, liegen. Er sieht keinen Anlaß, sein Gutachten zu ändern.

Es wird plädiert. Staatsanwalt Kruse beantragt die lebenslange Freiheitsstrafe. Er sieht ein »irrwitziges Mißverhaltnis zum Motiv«, zur Notenpanik, doch er schließt diese Lücke damit, daß er auch von Mordlust spricht- davon, daß der Angeklagte sich habe erproben wollen, daß er herausfinden wollte, ob er fähig sei zu töten. Verteidiger Amelung beanstandet auch die Kraft der Indizien, doch vor allem beschwört er das Gericht. Wenn das Gericht meine, der Angeklagte sei der Täter - dann müsse es auch prüfen, »ob dieser Mensch normal ist«. Er bittet darum, das von ihm beantragte zusätzliche Gutachten doch noch einzuholen.

Ein Termin für die Urteilsverkündung wird bekanntgegeben - und diese findet nicht statt. Es sollen, was die mögliche Bedeutung einer Erbbelastung angeht, »keine Zweifel bleiben«. Das Gericht beschließt, da Professor Möller unmittelbar nach seinem Zusatzgutachten nach Puerto Rico zu einem Kongreß abgereist ist und längere Zeit abwesend sein wird, Professor Mende, München, ein weiteres Gutachten erstatten zu lassen. Uwe Helling hat noch einmal eine Chance, sich zu eröffnen, sich anzuvertrauen. Ein Gericht von außerordentlichem Rang hat sich dazu entschlossen, auch dem allerletzten Zweifel Raum zu geben. In Professor Werner Mende, 67, hat es einen Psychiater gewählt, der wirklich ein letzter Appell an Uwe Helling ist.

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