»Meißner Porzellanpuppe, aber innen Nirosta«
Als Margaret Hilda Thatcher über die gußeiserne Wendeltreppe hinab in die Halle des »Grand Hotel« von Brighton schwebt, stimmt die Regie: erwartungsvolles Publikum, viktorianisehe Pracht, sie selbst in der königlichen Hauptrolle, in knöchellangem Abendkleid, mit pfirsichfarbenem Make-up und makellosem Haar, den Prinzgemahl einige Schritte hinter sich.
Wenig später wird aus der engelsgleichen Gestalt übergangslos die zielstrebige Politikerin. die in einer Diskothek bei den Jung-Konservativen einen Geburtstagskuchen anschneidet.
Die Szene wirkt grotesk: die konservative Parteiführerin, 53, die gute Aussichten hat, bei den nächsten Parlamentswahlen der erste weibliche Regierungschef Europas zu werden, als viktorianische Leibgabe im Königreich Travoltas.
Die psychedelische Beleuchtung der konservativen Kellerkinder bekommt ihr schlecht, Ihre steifen Bewegungen und ihre gleichsam ondulierten Phrasen fallen wie die verzögerten Schläge eines Vorschlaghammers in die plötzlich gefrorene Atmosphäre von Saturday Night Fever.
Dem Fegefeuer wieder entronnen. mag Margaret Thatcher das getan haben. was sie den Leserinnen der Frauenzeitschrift »Woman's World« Anfang Oktober in einem Interview anvertraute: »Es gibt Zeiten. wenn ich abends nach Hause komme und mir alles zuviel geworden ist, dann vergieße ich einige Tränen. allein und in aller Stille.«
Dichtung oder Wahrheit, Margaret Thatcher jedenfalls hat das Gefühl, daß sie nicht verstanden wird, Immer häufiger fühlen ihre Ratgeber die Notwendigkeit, das menschliche und verwundbare Gesicht hervorzuheben, das sich hinter der gutsitzenden Maske verbergen soll, in der Margaret Thatcher im harten Politgeschäft von Englands konservativer Männerwelt nicht nur bestehen, sondern auch führen will.
Denn Margaret Thatcher ist nicht populär. Fast vier Jahre nachdem es ihr als erstem Tory-Politiker gelungen war, einen amtierenden Parteiführer in der Fraktion zu stürzen, liegt sie in Meinungsumfragen fast zehn Prozent hinter ihrem Gegner bei den nächsten Wahlen. dem Labour-Regierungschef James Callaghan -- und das, obschon Callaghans Partei nach einer Gallup-Umfrage vom September um sieben Prozent in der Popularität hinter den Konservativen liegt.
Noch immer also ist Margret Thatcher für ihre Partei bei möglichen Wahlen eher eine Belastung als eine Attraktion. Die Vorwürfe zielen alle in eine Richtung: Sie gilt als unnatürlich und gezwungen, als »eiserne Lady«, als typisch Mittelklasse, als affektiert, als »Meißner Porzellanpuppe -- aber innen aus Nirosta«, wie ein Mitglied ihrer eigenen Fraktion spöttelte.
Die Angegriffene versucht, solche Vorwürfe zu widerlegen und zugleich zu erklären, wie es dazu kommen konnte: »Ich weiß, daß ich nicht kalt bin, und ich kann mir das Bild nur so erklären, daß die Jahre wissenschaftlicher und juristischer Ausbildung mich äußerlich so geprägt haben.«
Margaret Thatcher wurde als Tochter eines Lebensmittel-Kaufmanns in einer Kleinstadt in Lincolnshire geboren. Jene Qualitäten, die ihr später eine steile Karriere ermöglichten, die ihr aber heute auch oft angelastet werden, fallen früh auf: starker Wille, grenzenloser Ehrgeiz, puritanische Frömmigkeit, verbissener Fleiß und eine gehörige Portion Berechnung.
Halb im Scherz, aber sicherlich nur halb, umriß sie in Studientagen in Oxford im Gespräch mit einem Kommilitonen ihr Programm für die Zukunft so: »Reich heiraten und in die Politik gehen.«
Von Anfang an kam für Margaret Thatcher nur jene wahre Klassen-Partei in Frage, in der einerseits, wie Sir Cyril Osborne einst formulierte, über den Erfolg allein entscheidet »das Bett. in dem man geboren wird, oder das Bett. in das man hineinsteigt«. und die andererseits jenen Kinderglauben der kleinen Margaret noch immer, und unter ihrer Führung jetzt erst recht, zum Kernprogramm hat: nämlich daß die unternehmerische Freiheit, und sei es auch nur die kleine Freiheit des Lebensmittel-Krämers, »die einzige und notwendige Garantie für die große Freiheit der Demokratie ist«.
Denn Margaret Thatcher war und ist Überzeugungstäterin, eine Frau von unerschütterlicher Prinzipientreue und instinktiver konservativer Grundhaltung. Sie verteidigt ein System, an dem nichts falsch sein kann, weil es ihr den Aufstieg an die Spitze ermöglichte.
In ihrer ersten Pressekonferenz nach ihrer Wahl zur Parteiführerin antwortete sie auf die Frage, was sie von Women's Liberation halte, mit einem knappen Satz: »Was hat Women's Lib jemals für mich getan?« Experimente, die eine Neuverteilung liebgewordener Rollen vorsehen, liegen ihr nicht.
Sie spricht von der »christlichen Zivilisation«, als ob die ein zeitgenössischer Begriff von ungeheurer Dynamik sei -- und in dieses Konzept paßt für sie auch ihr Widerstand gegen fast alle wichtigen Reform-Gesetze der sechziger und siebziger Jahre. Sie stimmte gegen die Liberalisierung der Strafbestimmungen über Homosexualität, sie lehnt die soziale Indikation der gegenwärtigen Abtreibungsgesetze ab, sie ist, natürlich, für die Todesstrafe.
Kirche, Familie und persönlicher Erfolg, das sind die drei Quellen, aus denen sich Margaret Thatchers Energien speisen. Das Buch, von dem sie sagt, es habe sie am nachhaltigsten beeinflußt, hat den programmatischen Titel »A Time for Greatness«, wurde im Krieg (1943) geschrieben und liest sich wie eine Hymne auf die Tugenden der Selbstverbesserung und Willenskraft.
Zu Willenskraft und Selbstverbesserung ist in den vergangenen Jahren und mit zunehmendem Erfolg ein erhebliches Maß an Selbstgerechtigkeit gekommen. Das Bewußtsein, recht zu haben und ihre Geringschätzung für die Gegenargumente anderer hat ihren Ursprung in einer beinahe abenteuerlichen Naivität: »Ich glaube, Frauen tun sich leichter und sind direkter in der Analyse von Problemen -- weniger Argumente, mehr Handeln.«
Kein Wunder, daß bei solcher Einstellung die Diskussionen im Schattenkabinett wenn nicht kürzer so doch einseitiger geworden sind: »Sie spielt ganze Programme gut sortierter Vorurteile ab, sobald ein entsprechendes Reizwort fällt«, berichtet ein Mitglied der Tory-Reform-Group und faßt ihre Schwäche in einem bösen Krankheitsbefund zusammen: »Verbale Diarrhöe«.
Als eine Delegation Jung-Konservativer von einem Besuch in der Volksrepublik China zurückkehrte und die Parteiführerin über ihre dortigen Erfahrungen informieren wollte, schnitt sie dem Vortragenden an einer entscheidenden Stelle, bei der es um spezifische Unterschiede zwischen den chinesischen und den sowjetischen Interessen ging, das Wort ab: »Beide Seiten sind aber Kommunisten, wissen Sie.«
Diese Szene steht für viele und beleuchtet vor allem eine Schwäche, die sie nach Ansicht selbst vieler Parteifreunde für das Amt des Premierministers disqualifizieren müßte -- einen angestrengt kaschierten Mangel an Gleichgewicht: »Sie hat eine niedrige Reizschwelle, jenseits davon übernehmen Emotionen das Kommando über ihren Intellekt«. behauptet ein Abgeordneter.
Niemand weiß genauer um diese Gefahr als Margaret Thatcher selbst: »Kühl bleiben ist die erste Lektion, die man in der Politik lernen muß. denn Selbstbeherrschung ist Stärke« -- ein entwaffnendes Wort jener Frau. die sieh immer häufiger gegen den öffentlich erhobenen Vorwurf unpersönlicher Kälte. unerschütterlicher Fassung. vollkommener Selbstkontrolle zur Wehr setzen muß.
Margaret Thatcher kann es nur wenigen recht machen, vielen Männern nicht, weil sie eine Frau ist: den emanzipierten Frauen nicht, weil sie das Spiel der Männer spielt und gleichzeitig ihre herbe Weiblichkeit als Waffe benutzt; den Fortschrittlichen nicht, weil sie zu reaktionär, den Arbeitern nicht. weil sie zu gewerkschaftsfeindlich ist. Eine Analyse von Nachwahlen hat jedoch, mit einiger Logik. Verständnis und Sympathie für Margaret Thatcher ausgerechnet da geortet, wo sie gar nicht hinzupassen scheint: in den Küchen der Arbeiterhaushalte Nordenglands. Den Arbeiterfrauen von Yorkshire imponiert die »eiserne Lady«, die geheim abgegebene Stimme für sie ist zugleich stiller Protest gegen den Tyrann in der eigenen Sozialwohnung. Sie glauben Margaret Thatcher aufs Wort, wenn sie sagt: »Wenn es eine Frau mit einem Mann auf gleiche Stufe gebracht hat, dann ist sie ihm überlegen.«
Wer das akzeptiert, akzeptiert Margaret Thatcher. Eine solche Frau darf ihren Mitarbeitern das Wort abschneiden und dennoch auf deren Loyalität rechnen, vorausgesetzt, daß sie Verständnis für die persönlichen Schwierigkeiten ihrer Kollegen zeigt.
Und das kann Margaret Thatcher. Wenn es nicht um ihre Überzeugung geht, im persönlichen Umgang. scheut sie sich auch nicht. herzlich und mitfühlend zu sein. Eine tiefverwundete Fraktion griff bereitwillig nach dieser Medizin. die ihr eine mutige Frau in der Stunde der Verzweiflung nach bitteren Wahlniederlagen reichte.
So stieg Margaret Thatcher zur Parteiführerin auf, und so erklärt sich, warum die Fraktion in ihrer großen Mehrheit trotz negativer Meinungsumfragen zu ihr steht -- mindestens bis zur Wahl.
Dann entscheidet allein Erfolg oder Niederlage darüber, ob Margaret Thatcher ihr großes Lebensziel erreicht und der erste weibliche Regierungschef der ältesten parlamentarischen Demokratie der Welt wird, oder ob sie mit der ganzen Brutalität, deren enttäuschte Männer fähig sind, verstoßen wird.