Zwangsadoptionen Meister im Weggucken
Der Ost-Berliner Markus Zimmermann, 25, hat sich um die Republik verdient gemacht - wegen Verbreitung unliebsamer Wahrheiten.
Als der CDU-Bezirksstadtrat für Jugend und Familie über Pfingsten zu Hause ein paar in Zeitungspapier eingewickelte Aktenbündel aus dem Archivkeller seines Bezirksamtes Berlin-Mitte sichtete, stieß er auf Sensationelles: Er hielt Adoptionsakten in Händen, aus denen zweifelsfrei hervorging, daß das Bezirksamt Berlin-Mitte in den siebziger Jahren DDR-Kinder ihren Eltern wegen politischer Unzuverlässigkeit entrissen und linientreuen Genossen und Genossinnen zur Adoption übergeben hatte.
Noch kurz vor Bekanntwerden des Akteninhalts hatte Zimmermanns Dienstherr Thomas Krüger, 31, sozialdemokratischer Senator für Jugend und Familie, in einem Ausschuß des Berliner Abgeordnetenhauses erklärt, politisch motivierte Zwangsadoptionen seien in seinem Bereich nicht bekannt.
In dem Aktenbündel aus dem Archivkeller entdeckte Bezirksstadtrat Zimmermann auf Anhieb drei Fälle aus dem eigenen Amt; der größte Teil der aufgefundenen Akten wird erst diese Woche von einer Arbeitsgruppe West-Berliner Beamter geprüft. Weil die meisten anderen ostdeutschen Jugendhilfestellen in ihren Aktenkammern noch gar nicht nachgeschaut haben, ist vorerst ungewiß, wie viele Fälle von Zwangsadoptionen es in der DDR insgesamt gegeben hat.
Der Ost-Berliner Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der über drei Jahrzehnte lang im Auftrag der DDR mit der Abwicklung humanitärer Probleme zwischen den beiden deutschen Staaten betraut war, sagt, er selber kenne nur 3, allenfalls 4 politisch motivierte Zwangsadoptionen; etwa 20 weitere Fälle beträfen den Entzug des Erziehungsrechts, ebenfalls aus politischen Gründen. Die Berliner Orientalistin Gabriele Yonan, in den siebziger Jahren Sprecherin einer Gruppe von Eltern zwangsadoptierter Kinder, hat insgesamt 16 politisch motivierte Adoptionsfälle registriert.
Der Zufall wollte es, daß sich unter der Pfingstlektüre des Bezirksstadtrats Zimmermann ausgerechnet einer jener Fälle befand, mit denen der SPIEGEL die Zwangsadoptionen im Dezember 1975 erstmals publik gemacht hatte: der Fall Grübel - typisch für die perfide DDR-Praktik, in einzelnen Fällen den Versuch der Republikflucht mit einer Art staatlichem Kindesraub zu bestrafen.
Die Eltern, der Wohnraumgestalter Otto Grübel und Ehefrau Bärbel, waren im August 1973 bei dem Versuch, mit ihren beiden Kindern Ota, damals vier, und Jeannette, fast drei, über die Tschechoslowakei in die Bundesrepublik zu flüchten, gefaßt und später in der DDR zu je zwei Jahren und zehn Monaten Haft verurteilt worden. Sie waren vom Zeitpunkt der Verhaftung an von den Kindern getrennt. Alle Bemühungen, mit ihnen in Kontakt zu kommen, blieben erfolglos.
Im Mai 1975 wurden die Grübels von der Bundesrepublik freigekauft und in den Westen entlassen. Ihr Antrag, mit den Kindern zusammen ausgebürgert zu werden, war von der DDR verworfen worden. Das Erziehungsrecht hatte der Staat ihnen bereits während der Haft abgesprochen.
Was die Grübels bis zu Beginn des Jahres 1990 nicht genau wußten: Noch während ihrer Haft waren die Kinder an ein DDR-Ehepaar mit einwandfreiem politischen Leumund weitergereicht worden, das die beiden Kinder am 19. November 1975 dann auch tatsächlich adoptierte - allerdings, ohne die Vorgeschichte der Kinder und ihrer Eltern zu kennen.
Die SPIEGEL-Berichte in den Heften 51 und 52/1975 führten zu einem zwischendeutschen Eklat. Bayerns damaliger Ministerpräsident Alfons Goppel (CSU) lud den gerade in München zu einer Antrittsvisite eingetroffenen Bonner DDR-Vertreter Michael Kohl gleich wieder aus, weil der den SPIEGEL-Bericht über Zwangsadoptionen nicht dementieren mochte.
Nach ostdeutscher Lesart handelte es sich um »schmutzige Verleumdung des Staates der DDR durch ein Magazin« (DDR-Kohl), verfaßt von »Lügenlümmeln« (Leipziger Volkszeitung). Der damalige Ost-Berliner SPIEGEL-Korrespondent Jörg Mettke wurde wegen »Verleumdung der DDR« unverzüglich _(* Sohn Aristoteles als Baby, als ) _(Erwachsener. ) ausgewiesen, obwohl er den Bericht weder angeregt noch recherchiert oder geschrieben hatte.
Die SPD/FDP-Bundesregierung in Bonn führte einen Eiertanz eigener Art auf. Sie sprach zunächst von »sogenannten Adoptionen« in »zwei Fällen«, dann von »wahrscheinlich fünf Fällen«. Doch weil das Kinder-Thema das Klima der damaligen deutsch-deutschen Verhandlungen zu stören begann, übte sich der Minister für Innerdeutsches, Egon Franke, bereits Anfang 1976 bei einer Parlamentsdebatte als Meister im Weggucken: »Es gibt keinen Fall von Adoption oder der Übertragung des Sorgerechts auf andere und von Zwangsadoptionen als zusätzliche Strafe für Republikflucht oder für den Versuch der Republikflucht.«
Dabei hätte Franke wissen müssen, daß das Gegenteil zutraf. Denn speziell das Innerdeutsche Ministerium war von betroffenen Eltern seit 1969 über diese Art Zwangsadoptionen detailliert und laufend informiert worden. So lag dem Franke-Ministerium das Urteil des Stadtbezirksgerichts Berlin-Mitte vor, mit dem den Grübels 1974 das Erziehungsrecht entzogen worden war: _____« Schließlich waren die Eltern bereit - und das beweist » _____« den hohen Grad der Gefährdung der Erziehung und » _____« Entwicklung der beiden minderjährigen Kinder -, beide » _____« Kinder aus einer bisher stabilen sozialen Sicherheit » _____« einer ungewissen Zukunft auszusetzen. »
Mit anderen Worten: Das politische Delikt der versuchten Republikflucht gab die Begründung für den Entzug des Erziehungsrechts ab. Selbst dem Ost-Berliner Grübel-Anwalt Clemens de Maiziere, Vater des jetzigen CDU-Abgeordneten Lothar de Maiziere, erschien die Prozedur so bedenklich, daß er dem Obersten Gericht der DDR zu Protokoll gab: »Ein solches Verhalten ist mit den humanitären Grundsätzen unserer Verfassung unvereinbar. Ich stehe nicht an, es als unmenschlich zu bezeichnen.«
Daß der DDR-Führung das negative Echo der Weltpresse unangenehm war, ließ sie sich nur intern anmerken. So autorisierte SED-Chef Erich Honecker um die Jahreswende 1975/76 einen seiner Spezis zu einer streng vertraulichen Absichtserklärung an die Bundesregierung unter Kanzler Helmut Schmidt: Die DDR-Regierung sei über politisch motivierte Fälle von Entzug des Erziehungsrechts und Übertragung »in Form von Adoption« nicht informiert gewesen. Sie mißbillige das Vorgehen »der mittleren Verwaltungsebene« und werde die politisch motivierten Fälle rückgängig machen - was in einem Fall tatsächlich umgehend geschah.
Alle anderen Fälle blieben trotz gegenteiliger Zusagen ungelöst. Lediglich drei der Eltern kamen mit ihren Kindern Jahre später wieder in Kontakt, nur zwei davon vor der Wende: *___Gabriele Yonan sah ihren 1972 zwangsadoptierten Sohn ____Aristoteles nach zermürbenden Kämpfen mit Behörden in ____Ost wie West 1988 wieder - als 22jährigen. *___Die Diplom-Chemikerin Gisela Mauritz kam mit ihrem 1974 ____zwangsadoptierten Sohn Alexander erst im Februar 1989 ____in der Kanzlei von Rechtsanwalt Vogel zusammen - ____Alexander war mittlerweile 18. *___Otto und Bärbel Grübel trafen im Frühjahr 1990 mit dem ____Adoptivvater Ulrich Klewin und ihren beiden Kindern ____Ota, nunmehr 20, und Jeannette, 19, zusammen. Die ____Kinder konnten sich an ihre leiblichen Eltern nicht ____mehr erinnern. _(* Im April 1990, als Kind. )
Warum der Fall Grübel nicht vor der Wende gelöst werden konnte, obgleich dies den Eltern 1976 von höchster politischer Ebene in Ost wie West definitiv zugesagt worden war, ist bis heute unklar. Anwalt Vogel ("Grübel ist einer meiner Mißerfolge") hält die extensive internationale Pressekampagne »speziell in diesem Fall« für den eigentlichen Grund: »Das hat die DDR-Führung in eine Art Verstocktheit hineingetrieben.«
Der Fall Grübel zeigt überdies, daß alle politischen Instanzen bis zur obersten Ebene mit den politischen Zwangsadoptionen befaßt waren. Unklar ist nur, wer die Idee hatte. »Die Initiative ging immer vom örtlichen Referat Jugendhilfe aus«, sagt Anwalt Vogel, »aber das wiederum war natürlich von der Stasi stets mit entsprechenden Informationen gefüttert worden.«
Aus Zimmermanns Aktenfunden geht hervor, daß sich die Jugendhilfestellen in politischen Fällen häufig im Ministerium telefonisch rückversicherten - und dabei meist auf Zustimmung stießen. Von einer zentralen Weisung aus Margot Honeckers Volksbildungsministerium oder gar von ihr persönlich ist Anwalt Vogel allerdings »nie etwas zu Gesicht gekommen«.
Aber auch ohne zentrale Weisung hätte die staatstrunkene SED-Ideologie eigentlich viel mehr politische Zwangsadoptionen produzieren müssen. Denn einem eingefleischten SED-Genossen mußte es durchaus konsequent erscheinen, republikflüchtige Eltern für asozial zu halten. SED-staatskonforme Kindererziehung war nach dem Familienrecht der DDR Elternpflicht.
Dies wird auch die Chancen des Bezirksstadtrates Zimmermann vermindern, die Verantwortlichen vor Gericht zu ziehen. Zimmermann: »Die werden sagen, das stand doch alles im Gesetz, für das wir leben und sterben sollten.«
* Sohn Aristoteles als Baby, als Erwachsener.* Im April 1990, als Kind.