2800 Menschen werden vermißt
Entführungen im Libanon sind älter als der Bürgerkrieg, der im April 1975 zwischen Moslems und Christen entbrannte.
Milizionäre der christlichen Falange-Kampftruppe kidnappten Anfang 1975 Palästinenser auf dem Wege vom westlichen Stadtgebiet in die im christlichen Osten des Großraums Beirut gelegenen Flüchtlingslager Tell el-Saator, Dschije und Karantina.
Palästinenser entführten daraufhin christliche Armeeoffiziere, die sie für das Verschwinden ihrer Landsleute verantwortlich machten.
Als die »Grüne Linie«, die Demarkationslinie zwischen dem christlichen Ost- und dem moslemischen West-Beirut entstand, artete das Kampfmittel Entführung aus: Christen machten Jagd auf Moslems, die ihnen in ihrem Machtbereich ausgeliefert waren. Angehörige der Schiiten-Miliz »Söhne Alis« zerrten christliche Jugendliche in ihr Hauptquartier im Nabaa-Viertel, betäubten ihre Opfer und zapften ihnen Blut ab - bis auf den letzten Tropfen.
Immer häufiger kamen Entführte um, oft nach grausamer Folter. Besonders gefürchtet war der Übergang am Barbir-Krankenhaus, wo in wenigen Wochen mehrere tollkühne Grenzgänger ihre Freiheit verloren.
Damals wie heute war die drei Kilometer lange Flughafenstraße besonders gefürchtet. An ihren Seiten liegen schiitische Wohngebiete und Palästinenserlager - Entführungen gehen hier schneller vonstatten als anderswo.
Nur selten forderten die Entführer für die Freigabe ihrer Opfer einen politischen Preis. Meistens wurden die Entführten später ausgetauscht, in einigen makabren Fällen sogar Leichen gegen Überlebende.
In Beiruts Hamra-Viertel, einst das Geschäftszentrum der Stadt, wagten nicht einmal Polizeipatrouillen, den schwerbewaffneten Entführungsbanden das Handwerk zu legen. Der Besitzer des bekannten Restaurants »Lambhouse« in der Nähe des Hotels »Commodore« ließ von seiner Privatmiliz 100 christliche Mitbürger entführen - und gegen Lösegeld wieder laufen.
Zwar entführten auch im christlichen Bergland gelegentlich Falange-Milizionäre Mitglieder christlicher Großfamilien. Da aber im christlich beherrschten Teil des Libanon nur eine straff disziplinierte Miliz herrscht und die staatlichen Institutionen noch weitgehend intakt sind, verlagerte sich die Entführungsszene immer mehr in das chaotische moslemische West-Beirut, wo etliche Milizen einander blutig bekämpfen und der Staat nicht mehr funktioniert.
Insgesamt werden inzwischen an die 2800 Menschen vermißt. Da alle in Frage kommenden Milizen nicht mehr als knapp 350 Entführte gemeldet haben, dürften die meisten der libanesischen Entführungsopfer längst nicht mehr leben.
Am vorigen Freitag, morgens um 9.30 Uhr, wurden mitten im Gewühl der geschäftigen Pavillon-Straße von West-Beirut »zwei Fremde« mit Waffengewalt verschleppt: Augenzeugen berichten, drei oder vier Männer hätten die Ausländer in einen Mercedes gezerrt. Die Unbekannten hätten in einer unverständlichen Sprache heftig protestiert.
Mit dem Leben kommen die entführten Ausländer, seit Freitag sind es damit 21, meist davon. Doch von dreien - dem französischen Forscher Michel Seurat, dem amerikanischen Diplomaten William Buckley und dem britischen Journalisten Alec Collett - muß angenommen werden, daß sie tot sind.
Wer verschleppt wird, bestimmt häufig der Zufall: Zu den Opfern zählen sowohl Reporter und Lehrer als auch Geschäftsleute und Botschaftsangestellte.
Die Angehörigen der vielen entführten Libanesen haben sich zu einer Vereinigung zusammengeschlossen, konnten aber bisher ebensowenig erreichen wie seinerzeit die Mütter der argentinischen »desaparecidos«, der von Armee und Polizei deportierten und ermordeten wahren oder vermeintlichen Regimegegner.
Offenbar gehen einige Entführungen auch auf das Konto syrischer Geheimdienste. So verschwand im Februar 1980 auf der damals von Syrern bewachten Flughafenstraße der Herausgeber des Wochenmagazins »EI-Hawadith«, Salim el-Lausi, der wegen seiner rücksichtslosen Kritik am syrischen Besatzer-Regime in Damaskus Persona non grata geworden war. Seine verstümmelte Leiche wurde später in einem Wald gefunden.
Eine »Unabhängige Bewegung für die Befreiung der Entführten« machte im vergangenen Jahr von sich reden. Um ihrem Verlangen nach Freilassung aller entführten Moslems Nachdruck zu verleihen, kidnappten die Menschenfreunde erst einmal eine Handvoll Landsleute.