REFORMEN Merkels Delta-Force
Die Runde tagte geheim, keine Papiere, keine Protokolle, keine anschließenden Interviews. Im Hinterzimmer des Restaurants »Dressler« in Berlin saßen Angela Merkel und andere Spitzenpolitiker der CDU mit den Finanzwissenschaftlern Stefan Homburg und Reinhold Schnabel zusammen. Es war das Pfingstwochenende. Es ging um die Gesundheitsprämie.
Am Ende der Sitzung war Merkel davon überzeugt, dass sie sich von ihren ursprünglichen Plänen zum Teil verabschieden muss. Sie stimmte einem erneuerten Konzept zu.
Das ist für die CDU-Vorsitzende deshalb heikel, weil sie die Gesundheitsprämie schon zweimal überarbeiten ließ. Zwar darf sie im dritten Anlauf hoffen, bessere Argumente im Kampf gegen ihre unionsinternen Widersacher zu haben. Doch mit jedem Versuch wird es schwerer, das Vertrauen der Bürger für das neue Modell zu gewinnen. Ihre Gegner in der Regierung haben es entsprechend leichter, Merkels Kompetenz in Zweifel zu ziehen.
Schon jetzt schwirren jede Menge Zahlen zur Gesundheitsprämie durch den politischen Raum. Es wird gerechnet und gerechnet, aber wie bei den schlechteren Mathe-Schülern bleibt immer etwas übrig. Nie gehen die Gleichungen auf, und Paukerin Merkel muss ständig Fünfen verteilen, sich aber allmählich selbst fragen, ob nicht die Aufgabe falsch gestellt war. Ist die Gesundheitsprämie überhaupt praktikabel?
Nun hofft Merkel auf das Konzept der Professoren Homburg aus Hannover und Schnabel aus Essen. Grundsätzlich bleibt es dabei, dass nach dem Willen der CDU künftig alle Bürger den gleichen Beitrag für die Krankenversicherung zahlen. Auch sollen die Kosten des Gesundheitswesens weiterhin von den Löhnen entkoppelt werden, damit Arbeit billiger wird und endlich neue Jobs entstehen.
Doch die wichtigsten Eckwerte haben sich geändert. Es soll zum Beispiel keine Kapitalreserve zur Altersvorsorge geben. Aufgehoben ist zudem der Beschluss des Leipziger Parteitags, dass vier Jahre lang kein Versicherter durch die Prämie effektiv höher belastet wird.
Bis Ende voriger Woche kannte nur der engste Führungszirkel das neue Konzept. Nun wird sich zeigen, ob Angela Merkel ihre Kritiker, vor allem aus der CSU, auf eine gemeinsame Linie einschwören kann.
Mit keinem anderen Programmpunkt hat sich Merkel so eng liiert wie mit der Gesundheitsprämie. Viele Jahre in Fragen der Ökonomie eher wankelmütig, stellte sie sich im Herbst 2003 voll und ganz hinter die Pläne der Herzog-Kommission.
Die hatte ein Modell für eine Entkoppelung der Gesundheitskosten von den Löhnen vorgestellt. Merkel sah die Gelegenheit, sich als Radikalreformerin zu profilieren. Prompt wurde sie zur deutschen Maggie Thatcher erhoben, aber nach dem Gipfelsturm folgte eine struppige Ebene.
Die Zahlen, die McKinsey-Berater für die Kommission unter Vorsitz des Altbundespräsidenten Roman Herzog errechnet hatten, erwiesen sich als unbrauchbar. 264 Euro für die Gesundheitsprämie schienen zu viel. Merkel stieß auf Widerstand in der Partei, vor allem bei der CSU.
Kurz darauf stellte Friedrich Merz, Finanzexperte der CDU, ein neues Steuermodell vor, das Unternehmer und Bürger um bis zu zehn Milliarden Euro entlasten sollte. Andererseits brauchte Merkel frische Milliarden aus dem Steuertopf, um den sozialen Ausgleich bei der Gesundheitsprämie zu finanzieren.
Beide Modelle, ätzte CSU-Chef Edmund Stoiber im kleinen Kreis, passten »vorn und hinten nicht zusammen«.
Merkel ließ ihren Plan von Sozialexperten aus der Partei umarbeiten, und heraus kam eine Gesundheitsprämie von 200 Euro. Mit diesem Konzept gewann sie auf dem Leipziger Parteitag im Dezember 2003 eine große Mehrheit. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass der soziale Ausgleich noch immer zu teuer würde.
Merkel ließ wieder rechnen. So entstand das Konzept, das im Dressler abgenickt wurde.
Der neue Plan korrigiert notgedrungen zentrale Punkte des bisherigen Modells:
* So hatte Merkel bislang darauf bestanden, dass die gesetzlichen Krankenkassen nach dem Vorbild der privaten Versicherungen Rücklagen aufbauen sollten, um den Risiken einer immer älter werdenden Gesellschaft vorzubeugen. Davon ist keine Rede mehr. Die geplante »Vorsorgepauschale« von 20 Euro pro Person entfällt.
* Der Parteitagsbeschluss von Leipzig verlangte, dass zumindest anfangs niemand durch das neue System stärker belastet würde als bisher. Dieses Versprechen wird jetzt kassiert.
* Die von der Union geplante Steuersenkung wird niedriger ausfallen als bislang angekündigt. Der Spitzensteuersatz von 36 Prozent soll nicht erst bei 45 000, sondern schon bei 40 000 Euro Jahresbrutto greifen.
* Um Geringverdiener zu schonen, wird die maximale Belastung bei 14 Prozent des Bruttoeinkommens festgesetzt. Bisher waren 15 Prozent vorgesehen. Wer nicht genug verdient, um die Gesundheitsprämie für sich und seine Angehörigen zu zahlen, bekommt vom Staat einen Zuschuss, der über Steuern finanziert werden soll.
Die Gesundheitsprämie bringt auch in ihrer neuen Form für viele Menschen einschneidende Veränderungen. Merkel-Berater Homburg schlägt vor, den Arbeitgeberanteil zur Krankenversicherung nach »einem einmaligen gesetzlichen Akt« in Zukunft den Arbeitnehmern auszuzahlen. Die Bruttolöhne und -gehälter würden damit auf einen Schlag um 6,5 Prozent steigen. Wer bislang 3000 Euro brutto verdiente, bekäme 195 Euro mehr - und müsste diesen Zuschlag versteuern.
Jeder zahlt dann selbst für seine Krankenversicherung. Für Erwachsene liegt der Betrag bei 180 Euro im Monat; für Kinder ist die Hälfte fällig, die von einer steuerfinanzierten »Familienkasse« übernommen werden.
Geschickt haben die Professoren dafür gesorgt, dass die meisten Beschäftigten von dem neuen Modell profitieren würden. Je höher das Einkommen, desto größer die Entlastung (siehe Grafik Seite 34).
Doch auch das neue Konzept verhindert nicht, dass ausgerechnet Menschen mit kleinen Einkommen bei der Reform verlieren würden. Ein Rentner, der 1100 Euro brutto monatlich erhält, müsste für seine Gesundheitsvorsorge etwa 13 Euro mehr bezahlen als bisher. Hat er neben seiner Rente weitere Einkünfte, wird er noch stärker belastet. Jeder Euro aus einer privaten Alterversorgung oder einer vermieteten Wohnung wird angerechnet - der Staat zahlt entsprechend weniger Zuschuss.
Auch Familien, in denen nur einer verdient, werden nach Merkels Plänen schlechter gestellt, wenn das Haushaltseinkommen unter 30 000 Euro liegt.
Bislang sind Ehepartner ohne eigenes Einkommen kostenlos mitversichert. In Zukunft müsste jeder Erwachsene die Gesundheitsprämie zahlen - egal, ob er Geld verdient oder nicht.
Das neue Konzept der CDU-Vorsitzenden fällt sehr viel bescheidener aus als jede Vorgängerversion. Merkel hatte die beiden Professoren beauftragt, das Kopfgeld so zu rechnen, dass es mit den Steuerplänen der Union zusammenpasst. 25 Milliarden Euro müssten nun umverteilt werden.
Detailliert haben Homburg und Schnabel aufgelistet, wo diese Beträge herkommen sollen. Der Staat kann danach 16 Milliarden Euro mehr kassieren, wenn die bisherigen Arbeitgeberanteile ausgezahlt und von den Arbeitnehmern versteuert werden müssen. 2 Milliarden Euro werden gespart, indem die Steuerentlastung geringer ausfällt als bislang geplant.
Bleibt eine Finanzlücke von sieben Milliarden. Um dieses »Delta«, so die Professoren, zu schließen, können entweder die Mehrwertsteuersätze um etwa einen Punkt erhöht oder, wie Homburg vorschlägt, »an anderer Stelle staatliche Ausgaben gekürzt« werden.
Immerhin: Nach monatelangem Rätselraten hat Merkels Delta-Force damit einen Plan vorgelegt, der nicht nur durchgerechnet, sondern auch mit den Steuerplänen der Union abgeglichen ist. Der Darmstädter Finanzwissenschaftler Bert Rürup, der die Grundzüge des Modells inzwischen kennt, lobt: Im Vergleich zu dem »mit heißer Nadel gestrickten Konzept des Parteitags in Leipzig« bringe das Modell »einen deutlichen Fortschritt«. Rürup hatte für die rot-grüne Bundesregierung vor gut einem Jahr selbst ein Kopfpauschalenmodell entwickelt, konnte sich damit aber in der SPD nicht durchsetzen.
Ob das Vorhaben jedoch Merkels Parteifreunde überzeugen kann, ist fraglich. »Sehr viele würden nicht verstehen, wenn alle den gleichen Beitrag zur Krankenversicherung zahlen sollen«, sagt Stoiber. Ihm passt die ganze Richtung nicht.
Auch in der Bundestagsfraktion rumort es. Seit Monaten erregt sich der CSU-Sozialexperte Horst Seehofer über die »aberwitzigen« Reformvorschläge der CDU-Chefin. Schon im vergangenen Sommer hatte er sich geweigert, an den Beratungen der von Merkel eingesetzten Herzog-Kommission teilzunehmen. Er habe keine Lust, so Seehofer, »den Scheinfachgesprächen selbst ernannter Experten« beizuwohnen.
Nun kursiert unter Unionsabgeordneten ein von Seehofer verfasstes Thesenpapier, das der Gesundheitsprämie ein vernichtendes Urteil ausstellt - völlig unabhängig davon, wie Merkel sie ausgestalten will. »Die gleichzeitige Aufhebung des Solidarprinzips in der Krankenversicherung, Abschaffung der paritätischen Beitragsfinanzierung und Umverteilung von oben nach unten wird in der Bevölkerung nicht vermittelbar sein«, behauptet Seehofer. Die Kopfpauschale sei ein »Sympathiekiller«.
Ärger droht Merkel auch von Parteifreunden, die das Modell grundsätzlich gut finden, nun aber an Details herumnörgeln. Als letzte Woche durchsickerte, Merkel wolle die bislang geplante Kapitaldeckung opfern, meldeten Vertreter des Wirtschaftsflügels Bedenken an. Die Rücklage müsse wieder ins Konzept, findet CDU-Präsidiumsmitglied Hildegard Müller: »Eine Alterungsrückstellung ist für mich ein wesentlicher Bestandteil der Gesundheitsprämie.«
Sicher scheint somit nur eines: Merkels jüngstes Modell für eine Gesundheitsprämie wird nicht das letzte sein.
ALEXANDER NEUBACHER,
RALF NEUKIRCH, MICHAEL SAUGA
* Auf dem Leipziger CDU-Parteitag 2003.