DDR/KINDER Messer im Kreuz
Der Mann am Apparat meldete sich als »Dr. Görik von der Menschenrechtskommission«. Seine Organisation, so sagte er, wolle die in der DDR zwangsadoptierten Kinder Ota und Jeannette Grübel »herausholen«; über den Fall dürfe aber nichts mehr veröffentlicht werden, auch kein Photo -»Haben Sie oder Ihr Mann Photos von den Kindern weitergegeben?«
Die Frage galt der Putzfrau Mathilde Wilhelmine Wünsch, 60, aus dem Hessischen, die auf verwickelte Weise zur deutsch-deutschen Politaffäre (Grübel Berührung hat. Ihr Lebensgefährte, der gelernte Ofenbauer Horst Günther Maier, 52, ist ein Bruder von Anneliese Klewin, der Ersatzmutter der in der DDR zurückgehaltenen Grübel-Kinder Ota, 7, und Jeannette, 6.
Der SPIEGEL hatte Ende 1975 die DDR-Praxis aufgedeckt, Eltern gelegentlich aus politischen Gründen das Erziehungsrecht zu entziehen; Adoptionen wurden teils angedroht, teils eingeleitet, teils vollzogen. Die DDR wies damals den SPIEGEL-Korrespondenten Jörg Mettke aus und tat die Veröffentlichung offiziell als »Verleumdung« ab, signalisierte aber insgeheim der Bundesregierung. daß die einschlägigen Fälle bereinigt und die Kinder ihren Eltern wieder zugeführt würden.
An diese Zusage hielt sich die DDR-Führung nicht im Falle Grübel. Vielmehr wurden die Grübel-Kinder, wie der SPIEGEL Ende letzten Jahres herausfand, dem Ehepaar Ulrich und Anneliese Klewin in Eisenhüttenstadt auf Dauer anvertraut. In Nr. 49/1976 veröffentlichte der SPIEGEL auch Photos aus dem Jahr 1975, auf denen die Grübel-Kinder in Eisenhüttenstadt mit ihren Ersatzeltern zu sehen sind.
Auf solche Photos spielte der Anrufer »Dr. Görik von der Menschenrechtskommission« an, der, wie sich bald herausstellte, freilich gar nicht Dr. Görik hieß und schon gar nicht im Namen einer .Menschenrechtskommission tätig wurde. Am Telephon ließ sich vielmehr vermutlich ein Organ des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes vernehmen, und das dämmerte dem Paar Maier/Wünsch spätestens, als es am 22. Dezember zu weihnachtlichem Besuch in die DDR fuhr.
Auf dem Bahnsteig in Eisenhüttenstadt wurden die beiden, wie seit Jah-
* Ota (l.), Jeannette.
ren, von Ersatzvater Ulrich Klewin begrüßt, der sie verabredungsgemäß zu anderen Verwandten brachte. Klewins Abschied: »Ihr kommt doch morgen abend?«
Die Westbesucher kamen nicht. Als sie sich am darauffolgenden Morgen pflichtgemäß polizeilich anmeldeten, dirigierte ein Volkspolizist, vom Eintreffen des Paares bereits informiert, die beiden sogleich zur Eisenhüttenstädter Jugendhilfe: Da sei noch etwas zu klären.
Im Referat Jugendhilfe, den westdeutschen Jugendämtern vergleichbar, nahmen sich der Westbesucher zwei Herren an, die sich als Mitarbeiter der Jugendhilfe ausgaben. Sie zogen ein Exemplar des SPIEGEL Nr. 49/1976 hervor, schlugen die Seiten 52 bis 61 auf und hielten dem Paar die dort veröffentlichten Photos vor. »Wie kommt«, wollten sie von Maier und seiner Begleiterin wissen, »der SPIEGEL an die Bilder von den Kindern?«
Daß auch Maier Photos besaß, wie sie im SPIEGEL abgedruckt waren, hatten die Vernehmer von den Klewins erfahren. Und daß Mathilde Wünsch die Bilder einer Bekannten geliehen hatte, wußten die Vernehmer auch -- eigentlich hätte das nur »Dr. Görik von der Menschenrechtskommission« wissen können.
Doch mehr konnten die beiden Westbesucher nicht sagen, ob die DDR-Vernehmer nun Kaffee anboten oder auf Bauernfängerei ausgingen ("Wir haben hier einen anonymen Brief aus Hamburg, in dem Sie als Schweinehund, Säufer, Drecksau und Hurenbock bezeichnet werden") oder ob sie Bemerkungen über das Ehepaar Grübel ("Dem Jungen gaben sie den Namen Ota -- typisch tschechisch!") machten. Da half auch nicht der erfundene Vorwurf, Maier habe Schmiergelder für die Bilder erhalten die beiden Besucher aus dem Westen blieben bei der Wahrheit: »Wir wissen nicht, wie die Bilder in das Blatt kamen. Fragen Sie doch den SPIEGEL selber.«
Schließlich, nach über drei Stunden, »standen die Beamten auf und gaben uns die Hand«, berichtet Maier, »und einer sagte ganz ruhig, die Kinder »sind und bleiben bei den Klewins«. Wir sollten die Photos der Kinder per Einschreiben an die Klewins schicken und die Klewins allein ein ruhiges Weihnachtsfest feiern lassen. Wir sollten morgen früh, also Heiligabend, wieder in die Bundesrepublik zurückreisen« ehe wir »so ein blaues Auge oder ein Messer im Kreuz' hätten oder ehe wir uns »im Kanal' wiederfänden. Sie hätten so kräftige Bauarbeiter dort, daß man für nichts garantieren könne«.
Mathilde Wünsch und Horst Maier fuhren am 24. Dezember wieder ab, ohne noch einmal die Klewins und ohne die Grübel-Kinder gesehen zu haben -- aber verdeckt halten ließ sich der Fall damit nicht mehr. Denn seit die ZDF-Sendung »Drehscheibe« Mitte Dezember den Aufenthaltsort der Grübel-Kinder in der DDR bekanntgemacht hatte, wurden »die Verwandten in Eisenhüttenstadt wegen der Kinder schon mal auf offener Straße angesprochen« (Maier).
Die Klewins gerieten unter gar nicht mal diskrete amtliche Aufsicht, und als sich am vorletzten Wochenende ein Besucher zu Anneliese Klewins Schwester begeben wollte, wurde er bereits vor der Haustüre von Zivilbeamten gestoppt, notiert, befragt und zurückgewiesen: »Was Sie da tun, ist strafbar.« Post an die Klewins wie an nahe Verwandte wird neuerdings zensiert; nur amtlich Genehmigtes erreicht die Empfänger. Und demnächst, so wissen DDR-Funktionäre, würden sie auch eine andere Adresse haben.