ATOMKONTROLLE Meßwert 4,75
Unter den Veteranen jener Genfer Dreimächte-Konferenz, die sich seit dem 31. Oktober 1958 in wohldosierten Streitgesprächen 'der kontrollierten Einstellung aller Kernwaffenversuche widmet, saß in der vergangenen Woche ein Neuling: Kennedys Abgesandter Arthur Hobson Dean.
Amateur-Diplomat Dean, 62 Jahre alt, als renommierter Jurist ehedem Kompagnon des Rechtsanwalts,und späteren Außenministers John Foster Dulles, war bereits 1953 bei den koreanischen Waffenstillstandsverhandlungen in Panmunjon als Eisenhowers Sonderbotschafter aufgetreten. Damals hatten ihn die kommunistischen Unterhändler der »Perfidie« beschuldigt, während republikanische Senatoren in Washington zeterten, Dean sei ein »Appeaser« und, verbreite kommunistische Ideen.
Der verärgerte Dean unterbrach die koreanischen Waffenstillstandsgespräche und quittierte in einem kühlen Brief an Dulles den Dienst. Sein Vergehen: bereits 1954 öffentlich jene »realistische China-Politik« empfohlen zu haben, der sich selbst die Polit-Strategen der Kennedy-Regierung heute nur mit größter Vorsicht nähern. »Wer weiter auf (den nationalchinesischen Generalissimus) Tschiang Kai-schek baut«, verkündete der amerikanische Korea-Unterhändler, »sieht die Lage durch eine viel zu rosige Brille.«
Asien-Experte Dean war damals entschlossen, schwarzzusehen, falls das von seinem Anwaltskollegen Dulles geleitete State Department nicht die amerikanische Politik gegenüber Rotchina grundlegend ändere.
Sieben Jahre wartete er auf diese Änderung vergebens. Dann avancierte Dean unter Kennedy zum persönlichen Emissär des Präsidenten, der jenen bis, her versäumten Kurswechsel am Genfer Konferenztisch behutsam vorbereitet.
Die Bindung Chinas an ein kontrolliertes Atomtest-Verbot ist, wie Kennedys Intellektuellen-Team entdeckt zu haben glaubt, ein gemeinsames amerikanisch-sowjetisches Interesse. Es ist möglicherweise das einzige, was die Sowjets noch an den Genfer Verhandlungen festhalten läßt.
In zweieinhalb geduldig abgesessenen Konferenzjahren hat nämlich der sowjetische Atom-Veteran Semjon K. Zarapkin erreicht, wonach die Sowjetregierung von Anfang an strebte: eine unkontrollierte, unbefristete Einstellung aller Kernwaffen-Versuche (die nur von den drei französischen Versuchsexplosionen unterbrochen worden ist).
Das bisher entwickelte wissenschaftliche Instrumentarium genügt, um jede Durchbrechung dieses freiwilligen Versuchsstopps zu entdecken, sofern es sich um Explosionen in der Erdatmosphäre handelt; es gestattet, die Weltöffentlichkeit unverzüglich gegen den Nuklear-Verbrecher zu mobilisieren.
Für diesen politischen Erfolg hat die Sowjetregierung bisher nur einen theoretischen Preis entrichtet: die Anerkennung des Prinzips - der gegenseitigen Inspektion und Kontrolle.
Von den 25 Artikeln des projektierten Vertrags über das künftige internationale Kontrollsystem sind bereits 17 in diplomatischer Filigranarbeit formuliert worden. Auch bei den übrigen acht wären ohne Zweifel Komprommisse möglich, wenn die Einbeziehung Chinas und die Rolle der Möchtegern-Atommacht Frankreich, die an den Genfer Verhandlungen nicht teilnimmt, geklärt wäre.
»Diese offensichtliche Übereinstimmung«, kommentierte die »New York Times optimistisch, »läßt die Westmächte hoffen, daß die Sowjets wirklich ein Atomtest-Verbot wünschen, und sei es nur, um ihren chinesischen Alliierten von Atomwaffen fernzuhalten.«
Solche Spekulationen wurden durch Äußerungen hochstehender sowjetischer Diplomaten genährt, die zusammen mit ihrem Außenminister in der vorletzten Woche nach Washington kamen, um bei der Fünf-Stunden-Konferenz zwischen Gromyko und US-Außenminister Rusk zu assistieren. Sie gaben die weltweiten politischen Wirkungen zu bedenken, die ein Vertragsabschluß in Genf haben müsse. Auch für
China wäre es dann schwierig, so erläuterten Gromykos Begleiter, ein Atomtest-Verbot zu umgehen. Diesen Optimismus schien auch Präsident Kennedy zu teilen, als er davon sprach, man nähere sich nun »dem Abschluß des ersten Rüstungskontrollabkommens im Atomzeitalter«. Doch die amerikanische Atomenergie-Kommission verteidigt - in diesem Falle gemeinsam mit den Sowjets - eine Barriere, die jede diplomatische Voreiligkeit verhindert: den seismischen Meßwert 4,75**.
Verdächtige Ereignisse, die seismische Erschütterungen unterhalb dieses Werts auslösen, sollen nicht allein durch das Netz der ortsfesten Kontrollstationen überwacht werden, über das sich die drei Atommächte bereits verständigt haben, sondern auch durch Inspektionen an Ort und Stelle.
Nach britischen Untersuchungen gibt es in der Sowjet-Union jährlich etwa hundert solcher verdächtiger Ereignisse, bei denen es sich um Erdbeben oder um unterirdische Atomwaffenversuche handelin kann. Die Sowjetregierung will jedoch nur drei Inspektionen, pro Jahr akzeptieren, während die USA und Großbritannien zwanzig wünschen.
An diesen willkürlich gewählten Zahlen halten beide Seiten fest. Solange die drei Mächte in diesem Punkt einen Kompromiß vermeiden, bleibt, der seismische Wert 4,75
als Barriere wirksam, hinter der gegebenenfalls kleinere Atomwaffen unentdeckt unterirdisch gezündet werden könnten, ohne daß der gegenwärtige unkontrollierte Versuchsstopp vor den Augen der Welt verletzt wurde.
Erst wenn das Problem der »vierten« Atommächte China und Frankreich geregelt ist, über das Sowjetpremier Chruschtschow so sorgenvoll mit US-Botschafter Thompson in Nowosibirsk plauderte, dürfte der Meßwert 4,75 seine magische Bedeutung verlieren.
Chruschtschows Furcht, die beiden angelsächsischen Atommächte könnten eines Tages aus Frankreichs Kernwaffen-Experimenten Nutzen ziehen - de Gaulle hat sich dem freiwilligen Versuchsstopp bisher nicht unterworfen - mag die sowjetischen Bemühungen verstärken, den ungeduldigen Alliierten in Peking zu einer wohlwollenden Prüfung jener modifizierten Zwei-China-Theorie zu bewegen, mit der Kennedys Atom -Emissär Arthur Dean nach Genf reiste.
Nach dieser Theorie bekommt das kommunistische China, sofern es sich den in Genf vereinbarten Atom-Kontrollen unterwirft, den bis heute von Formosa beanspruchten Sitz im -Weltsicherheitsrat, während ein internationalisiertes Formosa das amerikanische Bündnis gegen eine Uno-Garantie eintauschen soll.
Prophezeite Dean: »Wir sehen, wie rasch die Zahl unserer Freunde in den Vereinten Nationen schwindet; wenn das so weitergeht, könnte es bald für Verhandlungen (mit Peking) zu spät sein.«
** Maßstab für Erdstöße: Das Agadir-Beben 1960 wurde zum Beispiel mit einem Meßwert von 5,75 registriert.
Genfer Atomkonferenz*: China binden!
* Dritter von links: US-Chefdelegierter Dean; Mitte oben: Sowjetbotschafter Zarapkin.