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STERILISIERUNG Methode Dohrn

aus DER SPIEGEL 8/1961

Just in der Woche, da der Staat von Bonn die Subventionierung seiner Zweitkinder proklamierte, wurde ruchbar, daß die rheinische Fertilitäts-Politik erstmals auf Widerstand getroffen ist: Nicht weniger als 1039 deutsche Frauen und Mütter aus dem rustikalen Niedersachsen haben weiterem Kindersegen samt der staatlichen Prämie entsagt und sich operativ sterilisieren lassen.

Der Operateur, ein Dr. med. Axel Dohrn, 52 Jahre alt, Facharzt für Chirurgie, wirkte seit 1946 als ärztlicher Leiter des Kreiskrankenhauses Großburgwedel im Landkreis Burgdorf bei Hannover. Am 30. Januar 1961 wurde er auf Beschluß des Kreisausschusses fristlos entlassen und durch Hausverbot am Betreten seiner Kreis-Klinik gehindert: Die erste freiwillige Massen-Sterilisierung in Deutschland war beendet.

Nachdem das Ärztliche Berufsgericht Hannover schon 1959 auf Antrag der Ärztekammer ein berufsgerichtliches Vefahren gegen Dohrn eröffnet hatte, nahm die Staatsanwaltschaft Hannover gegen den Arzt Ende Januar ein Ermittlungsverfahren wieder auf, das erst im September 1960 eingestellt worden war.

Der Burgdorfer Oberkreisdirektor Dr. Rotermund attestierte dem Dohrn in der Entlassungsurkunde vom 30. Januar 1961, daß »es für den Kreis nicht zumutbar« sei, ihn weiter zu beschäftigen. Rotermunds Begründung: »Das Vertrauen der Organe des Kreises zu Ihnen und Ihrer Tätigkeit ist ... endgültig zerstört worden.«

Daß die Burgdorfer Kreis-Organe dem Chefarzt ihres Hospitals 15 Jahre lang vertrauten und erst im 16. Jahr »endgültig« mißtrauten, erklärt sich soll wohl aus der Mentalität der Kreis-Demokraten als auch aus der Operier-Passion des Dr. Dohrn: Der Landkreis Burgdorf, dank der Qualität seiner Schnäpse und Konserven ("Burgdorfer Spargel") bislang vortrefflich beleumdet, möchte sich eilends von jenem Mann distanzieren, dessen Tätigkeit zwar ortsbekannt war, der den guten Burgdorf-Namen aber mit dem Odium eines umstrittenen medizinischen Eingriffs zu belasten drohte.

»Sterilisieren« heißt die christlich verbrämte Bonner Bevölkerungspolitik sabotieren, was den Burgdorfern denn doch zu gewagt erschien. Das penible Wort weckt überdies Assoziationen zu jenen Mitteln, derer sich das Dritte Reich bediente, um angebliche Regime-Feinde an der Fortpflanzung zu hindern.

Die operativen Eingriffe des Großburgwedeler Arztes haben freilich mit den NS-Sterilisierungen weit weniger gemein als die CDU-offizielle Bonner Kindersegen-Politik mit der Mutterkreuz-Ethik der NSDAP.

Als die Staatsanwaltschaft Hannover vor zwei Jahren erstmals auf das angeblich gesetzwidrige Treiben im Burgdorfer Kreiskrankenhaus aufmerksam gemacht wurde, fiel dem ermittelnden Staatsanwalt Klahr die Arbeit vergleichsweise leicht. Klahr konnte feststellen, daß Sterilisierer Dohrn seit Jahren gleichsam im Licht der Öffentlichkeit praktiziert hatte, ohne je Anstoß zu er regen:

Die operativen Eingriffe - Sterilisierung* durch Unterbinden der Eileiter, medizinisch: Tubenligatur -

- waren im Operationsbuch, in den Krankenblättern, in den Arztbriefen an die nachbehandelnden Ärzte verzeichnet,

- waren den Ärzten der Burgdorfer Region bekannt (Dohrn: »Mancher Gynäkologe in Hannover wußte es") und

- wurden von Dohrn im Schwestern-Unterricht des Hospitals erläutert.

Zur Entlastung des Arztes stellte Staatsanwalt Klahr außerdem fest, daß »finanzielle Vorteile durch die Vornahme der Sterilisationen für Dr. Dohrn« nicht zu ermitteln waren, »zumal es sich fast durchweg um Kassenpatienten gehandelt hat": Für sämtliche innerhalb eines Monats behandelten Kassenpatienten bezog der Operateur ob mit oder ohne Sterilisierung - ein pauschales Salär von 750 Mark.

Überwiegend zum Vorteil für den Arzt wirkte sich auch jenes Gutachten aus, das der Oberstaatsanwalt in Hannover bei dem renommierten Göttinger Gynäkologen Professor Kirchhoff zur Beurteilung der Dohrn-Operationen einholte. Gutachtete Kirchhoff nach Durchsicht der 162 von der Staatsanwaltschaft herausgefischten Fälle:

- »Es besteht kein Grund, an der Angabe des Herrn Dr. Dohrn zu zweifeln, daß er die Sterilisierungen nur auf Wunsch ... der Patientinnen und deren. Ehemänner vorgenommen hat.«

- »(Es) besteht kein Grund daran zu zweifeln, daß Herr Dr. Dohrn aus innerer Überzeugung gehandelt hat ... (Ihm darf) zugute gehalten werden, daß er ein ethisch zu bejahendes Ziel zu verfolgen glaubte.«

Der geschaßte Dr. Dohrn verfolgte mit seinen Sterilisierungen ein Ziel, das man zwar ethisch bejahen kann, das aber der expansiven Bevölkerungspolitik der Bonner Familien-Hüter konträr entgegensteht und vor der Rechtsordnung der christlichen deutschen Republik als verwerflich gilt: Dohrn, Vater von, drei Kindern, sterilisierte zum Zweck der Geburtenbeschränkung.

Nach dem Gesetz kann sich der Kliniker aus Großburgwedel auch nicht dadurch entlasten, daß er seine Patientinnen lediglich auf deren Wunsch operierte: Wer sterilisiert, begeht schwere Körperverletzung, die laut Paragraph 225 StGB mit einer Mindeststrafe von zwei Jahren Zuchthaus bedroht ist; bei Zustimmung der Sterilisierten gilt der Eingriff jedoch als rechtmäßig, wenn er nicht gegen die guten Sitten* verstößt.

Wenngleich die Vorstellungen über gute und böse Sitten naturgemäß niemals auf einen Nenner zu bringen sind, ist doch unbestritten, daß etliche der Sterilisationen (Dohrn: »Dauer vier bis sechs Minuten") auch den sittenstrengsten Ansprüchen gerecht werden, nämlich jene Fälle, in denen

- die Operation zu Heilzwecken nötig war (sogenannte medizinische Indikation) und in denen

- Eltern, die an einer nachweislich vererbbaren Krankheit leiden, auf Kinder verzichten möchten, um die Krankheit nicht zu vererben (sogenannte eugenische Indikation).

Nun finden sich unter den zu Großburgwedel sterilisierten Frauen (Dohrn: »Viele waren katholisch") nur 36,8 Prozent medizinisch und nur 5,2 Prozent eugenisch indizierte Fälle.

Die restlichen 58 Prozent klassifizierte Dohrn in seiner 47 Seiten umfassenden Rechtfertigungsschrift an die Staatsanwaltschaft überwiegend als Sterilisierungen aus »ärztlich-ethischen« Gründen. Diese neuartige Indikation mochte Gutachter Kirchhoff freilich nicht bejahen.

Kirchhoff: »Der wissenschaftliche Gutachter kann nur feststellen, daß eine solche Indikationsstellung unüblich ist und seines Wissens nirgends in Deutschland in dieser Form gehandhabt wird oder anerkannt ist.« Und: »Er (der Gutachter) kann jedoch nicht dazu Stellung nehmen, ob diese Indikationsstellung ,den guten Sitten widerspricht'.«

Einziges Kriterium für die Privat-Indikation des Dohrn: Die Eheleute mußten

- bereits Kinder - meist drei oder mehr - haben und

- ernsthaft entschlossen sein, auf weiteren Nachwuchs zu verzichten.

Nach angemessener Belehrung über die irreparablen Folgen** der Operation wurden in Großburgwedel Frauen sterilisiert, wie andernorts Blinddarme operiert: 1039 in fünfzehn Jahren. Kommentierte Professor Kirchhoff: »An der großen Universitäts-Frauenklinik in Göttingen sind es etwa fünf bis sechs Sterilisierungen im Jahre.« Und: »(Man muß) die Mehrzahl der von Herrn Dr. Dohrn ausgeführten Eingriffe am treffendsten als ,Gefälligkeitsoperationen' bezeichnen.«

Gutachtete aber der Gynäkologe Kirchhoff über die von Dohrn geübte Gefälligkeit mit Zurückhaltung, so brach der Göttinger Gerichtsmediziner Professor Dr. med. Dr. jur. Otto Schmidt in seinem Gutachten über den Großburgwedeler den Stab. Schmidt: Dohrns Verhalten »verstößt gegen die Grundregeln der ärztlichen Ethik und ist sittenwidrig«.

Dazu Dohrn: »Ich lasse mir den Vorwurf, gefällig zu sein, gern machen, wenn es ,Gefälligkeitsoperationen' sind, mit denen ich Frauen und- Ehen aus wirklicher Not und Bedrängnis durch einen legalen Eingriff helfen kann.«

Daß er, obschon gefällig, dennoch legal sterilisiert habe, folgert Chefarzt Dohrn aus dem Persönlichkeitsrecht der Menschen. Dohrn: »Es ist in das Ermessen des Einzelnen beziehungsweise der Ehepartner gestellt, ihre Kinderzahl selbst zu bestimmen und zu begrenzen.«

Spätestens an dieser Stelle wird der Streit, ob eine Sterilisierung nach Methode Dohrn sittlich oder unsittlich ist, aus der rechtlichen in die weltanschauliche Sphäre gerückt und mündet schließlich in der delikaten Frage, ob eine Frau gegenüber sich selbst und gegenüber dem Staat verpflichtet ist, fruchtbar zu bleiben oder nicht.

Dr. Axel Dohrn kann bei der Entscheidung dieser Frage auf einen prominenten Bundesgenossen verweisen, den Heidelberger Strafrechtslehrer Eberhard Schmidt, der eine solche Pflicht, zumindest dem Staat gegenüber, entschieden verneint hat, wenn auch nicht so radikal wie der Arzt aus Großburgwedel.

Dohrn beruft sich nämlich zur Rechtfertigung seiner Eingriffe nicht nur auf das im Grundgesetz verankerte Persönlichkeitsrecht, sondern führt darüber hinaus ärztliche und bevölkerungspolitische Motive an:

Nach einer von dem Medizin-Statistiker Professor Freudenberg aufgestellten und von Dohrn zitierten Rechnung wird sich die Bevölkerung der Erde »in 46 Jahren verdoppeln, in 92 Jahren vervierfachen und in 138 Jahren verachtfachen«. Konsequenz für Dohrn: Geburtenkontrolle ist unumgänglich.

Die Bevölkerungspolitik des Dr. Dohrn ist freilich im Gegensatz zu der in Bonn gepflegten von ärztlichen Rücksichten durchsetzt. Belehrte Dohrn die Staatsanwaltschaft: »(Durch die Sterilisierung) befreie ich die Ehen von dauernder Schwangerschaftsangst. Ich befreie von unerwünschtem Nachwuchs, von Schwangerschaftsunterbrechungen und kriminellen Fehlgeburten mit den nachfolgenden Krankheiten. Ich befreie sie auch von den unnatürlichen Methoden der Empfängnisverhütung, von deren Schädlichkeit (und Unsicherheit) sich leider auch die Ärzte im allgemeinen kaum die rechten Vorstellungen machen.«

Kann der Medizinmann auch kaum darauf rechnen, daß seine so geartete-Ehe-Hilfe vor den Augen bestallter deutscher Familienwächter Gnade findet, so hofft er doch, die Lauterkeit seiner Absichten glaubwürdig nachzuweisen und alle Wuermelinge zu beschämen:

Der gleiche Mann, der den deutschen Staat um Tausende potentieller Säuglinge brachte, lehnt jede Schwangerschaftsunterbrechung, auch die behördlich genehmigte, als »unsaubere, gegen ärztliches und menschliches Empfinden verstoßende Handlung« grundsätzlich ab.

Dohrn: »Dagegen ist die Tubenligatur ein sauberer Eingriff, auf freier Entscheidung der Operierten basierend, kein Leben vernichtend und säubernd in einer Problematik, die durch keine andere Maßnahme einwandfrei, gelöst wird.«

Dieser Problematik - der »ständigen Schwangerschaftsangst« der Frau sowie ihrer »ständig wachsenden Abneigung gegen das sexuelle Zusammenleben und schließlich auch gegen den Ehemann« hat sich Ehe-Helfer Dohrn freilich auch in zweifelhaften Fällen angenommen. Unter den 162 von der Staatsanwaltschaft überprüften Dohrn-Patientinnen befanden sich nämlich allein 17 Frauen zwischen 20 und 23 Jahren, in einem Alter also, in dem man die Konsequenzen einer derart definitiven Entscheidung gemeinhin noch nicht übersieht.

Diese Fälle waren es denn auch, die dem Operateur Dohrn besonders angelastet wurden, als der Staatsanwalt Klahr gegen ihn ermittelte. Der Strafverfolger konnte nicht umhin, »einen Teil der vom Beschuldigten vorgenommenen ... Sterilisationen objektiv als schwere Körperverletzungen« zu werten.

Daß Klahr das Verfahren dennoch einstellte, da der sterilisierfreudige Arzt in entschuldbarem Verbotsirrtum gehandelt habe, fand bei seinem Vorgesetzten, dem Celler Generalstaatsanwalt, freilich keine Gegenliebe: Er ordnete, mit Zustimmung des Justizministeriums, die Wiederaufnahme an und gab damit den Burgdorfer Kreisbehörden die gewünschte Gelegenheit, den kompromittierenden Arzt auf die Straße zu setzen: Außer Entlassung und Hausverbot verfügten sie zugleich die Kündigung seiner Dienstwohnung.

Geheuer war den Burgdorfer Kreis-Oberen ihr selbstherrliches Gebaren freilich nicht. Während sich der Oberkreisdirektor in seinem Kündigungs-Manifest auf das neueröffnete Ermittlungsverfahren berufen hatte, ließ der Landrat nunmehr verlauten: »Wegen des Ermittlungsverfahrens ... hätten wir Dr. Dohrn unter keinen Umständen entlassen.«

Neuerdings kaprizieren sich die Burgdorfer auf, eine andere Kündigungs-Version auf das langjährige, tiefgreifende persönlich-organisatorische Zerwürfnis« zwischen dem Chirurgen Dohrn und dem Leiter der internistischen Abteilung des Krankenhauses, Dr. Hindemith.

Dieses Hindemith hatte Chefarzt Dohrn in einem 34 Seiten starken hausinternen Schriftsatz gewichtiger Verfehlungen bezichtigt: Hindemith habe in seiner Abteilung »hoffnungslose Unordnung Und Stümperei« geduldet; er habe Patienten zu deren Schaden zu spät an die chirurgische Abteilung abgegeben und gesunde Patienten, wochenlang stationär behandelt«.

Der solcherart attackierte Hindemith rächte sich mit Exempeln für die angeblich »primitive Chirurgie« des Chefarztes und mit einer Strafanzeige: Er meldete die Sterilisationen Dohrns der Staatsanwaltschaft. Die Burgdorfer aber folgerten, daß die Querelen zwischen beiden Ärzten am elegantesten durch sofortige, Entlassung Dohrns beendet werden könnten.

Der Sterilisierer von Großburgwedel, den das dankbare hannoversche Landvolk mit Ovationen und Solidaritätsadressen überschüttet (Dohr: »In jedem Nachttopf stehen bei uns Blumen"), blieb die Antwort nicht lange schuldig. Vor dem Arbeitsgericht Hannover erhob er gegen die Burgdorfer Obrigkeit Klage auf Wiedereinstellung und Schadenersatz.

* Im Gegensatz zur Kastration bleiben bei der Sterilisierung sämtliche Eigenschaften und Funktionen des weiblichen (beziehungsweise männlichen) Organismus mit Ausnahme der Konzeptionsfähigkeit erhalten.

* Paragraph 226 a StGB: »Wer eine Körperverletzung« mit Einwilligung des Verletzten vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.«

** Die Tubenligatur kann zwar wieder beseitigt werden, eine neue Konzeption ist praktisch jedoch selten.

Chirurg Dohrn: 1039 Frauen sterilisiert

Gutachtender Gynäkologe Kirchhoff

»Aus Gefälligkeit«

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