Michail Gorbatschows nobler Traum
Auch im unwandelbaren Ritual sozialistischer Staaten lebt jeder Politiker mit der Furcht vor dem falschen Satz, der ihn die Karriere kosten kann. Deshalb lesen selbst so helle Köpfe wie Erich Honecker Wort für Wort bis hin zum vollmundigen Hoch auf die große Sowjet-Union vom Manuskript ab: Der Text ist vom Politbüro approbiert, da kann nichts schiefgehen.
Jetzt marschiert an der Spitze des Weltkommunismus einer nach Genf, der extemporiert, ein reines Medien-Vergnügen: wenn er verschmitzt die Augen kneift, die Brauen hebt, genau berechnet stockt und dann sein selbstsicheres Lächeln einsetzt - mit Charme angefüllt bis unter seinen konventionellen Hut.
Man mag ihn, den Michail Sergejewitsch Gorbatschow. Man möchte ihm und sogar seinem antiquierten Regime das Beste wünschen. Doch wenn diese Woche in Genf 3000 Journalisten auf einen Lapsus linguae lauern, muß man sich sorgen, ob ein sowjetischer Parteichef, der sich den Erwartungen westlicher Fernsehzuschauer anpaßt, von Dauer sein kann.
Denn daheim im Russischen Reich macht sich einer, der im Westen gut ankommt, weil er sich aus dem Heer eingetrockneter Apparatschiks entfernt hat, nicht beliebt. Der US-Publizist William Safire hat beobachtet: »Gorbatschow ist dabei zu entdecken, daß dieses Spiel mit der öffentlichen Meinung ein Spiel mit dem Feuer ist.« Das gilt allemal für das Fegefeuer der freien Presse, dem sich der neue Mann offenbar begierig aussetzt, zu unserer Freude, nicht aber mit garantierter Bekömmlichkeit für ihn selbst.
»Die Gegenpropaganda auch vor dem ausländischen Auditorium zu verbessern«, hatte Gorbatschow vor zwei Jahren angekündigt, und: »Eine ehrliche Information ist ein Zeugnis des Vertrauens zu den Menschen. Nicht wir, sondern der Kapitalismus muß manövrieren und sich tarnen, zu Fälschungen und zu Diversionen greifen, um den unerbittlichen Lauf der Zeit zu hemmen.« An der publizistischen Front verfällt mitunter auch Gorbatschow in die alten Manöver.
In seinem ersten Fernsehinterview fragten ihn Journalisten aus Frankreich nach den politischen Gefangenen in der Sowjet-Union und boten ihm dabei die Chance für einen überzeugenden Gegenschlag: Sie nannten die Phantasie-Zahl von vier Millionen Sowjetbürgern, die aus politischen Gründen inhaftiert seien.
Gorbatschow, der Einfallsreiche, hätte nun sagen können: Insgesamt haben wir überhaupt nur eine Million Strafgefangene, das sind 0,4 Prozent der Bevölkerung. Oder: Sie haben sich da um drei Nullen geirrt, wegen Verbrechen gegen den Staat sitzen bei uns nur 40 000 ein, und mir sind das noch 40 000 zu viel.
Gorbatschow aber antwortete den prominenten Zeitungsleuten aus dem stolzen, freien Frankreich: »Das ist absurd, das erinnert, wissen Sie, an die Goebbels-Propaganda!« Der feinfühligere Zensor strich den Goebbels aus der »Prawda«-Wiedergabe des Interviews.
Mit strahlender Miene berief er sich auf ein Lenin-Zitat aus dem Jahre 1922, wonach der Beginn von Beziehungen zu Frankreich »wünschenswert« sei. Wer bei Lenin nachschlägt, findet in demselben Jahr auch ein Lenin-Zitat, die KPF solle endlich mit der Revolution in Frankreich beginnen.
Auch der Wortgewaltige, der so munter kein Blatt vor den Mund nimmt, muß sich öffentlich winden. Als ihm in Paris die Frage nach der Ausreise Sacharows gestellt wird, verweist er auf sein Fernsehinterview, in dem er nach Sacharow gefragt wurde - und gleichfalls die Antwort schuldig blieb.
Auch ein so freier Plauderer wie dieser muß die Widersprüche des Regimes verbreiten. Vor französischen Parlamentariern feierte Gorbatschow seine Sowjet-Union als »in jeder Beziehung moderne Macht« und gab gleichgültig zu, in den Nachkriegsjahren sei die Industrieproduktion auf das 24fache angewachsen, das Realeinkommen der Sowjetbürger aber nur auf das Sechsfache. Was geschah mit der Differenz? Die Marxisten nennen sie Mehrwert.
Beim Festessen im Schloß des Britenkönigs Heinrich VIII. berief sich der Sowjetmensch auf gemeinsames Leiden unter den Deutschen und erinnerte an deutsche Bomben auf Coventry. Das war 1940, als die Sowjet-Union noch auf der Seite der Nazis stand und Molotow mit Hitler über einen Beitritt zum Achsenpakt verhandelte, Gegenleistung: ein Stück von der Konkursmasse des Britischen Empire (Hitler bot Stalin den Persischen Golf, und Stalin war natürlich einverstanden).
Wer weiß das noch? Am wenigsten Michail Gorbatschow, der war da neun Jahre alt; in den sowjetischen Geschichtsbüchern steht nichts davon, und Molotow, 95, wird sich bei seiner Wiederaufnahme in die Partei im vorigen Jahr damit nicht empfohlen haben.
Verheddert sich der Mann aus Moskau einmal im journalistischen Kreuzverhör, kann ihm das in der Sicht ausländischer Betrachter Sympathie einbringen. Doch in seiner Heimat, die sich den Generalsekretär als Inkorporation des objektiven Geistes wünscht, bröckelt danach sein Prestige.
Die Aufpasser sind noch auf dem Posten, sie zensieren schon ihren Parteichef, noch wohlmeinend: Auf einer Inspektionsreise nach Kasachstan hielt er am 7. September in Zelinograd laut »Prawda« eine »große Rede«, die bei ihrer Veröffentlichung - mit vier Tagen Verspätung - zu Begrüßungsworten geschrumpft war, zum Teil in indirekter Rede.
Das sowjetische System, wer könnte es besser wissen als Meister Gorbatschow, scheut die Spontaneität wie der Teufel das Weihwasser. Jede ungeplante Reaktion, alle unkontrollierten Äußerungen gerade aus allerhöchstem Mund verletzen die Regeln einer Ordnung, die so, wie sie besteht, die richtige ist: weil sie besteht.
Jeder rhetorische Wirbelwind, hinter dem ja meist suspekte Reformideen vermutet werden, rüttelt am System und den Fiktionen, die es braucht. Beispielsweise lebt der Vielvölkerstaat UdSSR mit der Legende, alle Nationalitäten seien in ihm gleichberechtigt. Jeder weiß, daß die Russen dominieren, die Legende aber bleibt kraft Konsens: Minderheiten dürfen sich gelegentlich mal auf den Gleichheitsgrundsatz berufen, dafür kann die Regierung damit ständig Außenwerbung betreiben.
Gorbatschow aber spricht nicht mehr wie seine peniblen Vorgänger von »den Völkern der Sowjet-Union«, sondern schlicht von »dem Sowjetvolk«. Auf einem Spaziergang durch das nichtrussische Kiew am 25. Juni lief ihm beim Gespräch mit Passanten flink von der Zunge, welches einzige Sowjetvolk er meint: Statt von der »Sowjet-Union« sprach er von »Rußland«, und das sowjetische Fernsehen übertrug auch noch diese gefährlichen Worte des Vorsitzenden.
Der örtliche, ukrainische, Parteisekretär suchte schleunigst, den taktischen Fehler seines Chefs zu korrigieren, doch Gorbatschow machte es noch schlimmer: »Rußland, ich meine die Sowjet-Union, ich meine - das ist, wie wir es jetzt nennen, und was es wirklich ist.«
Endlich hat einer mal gesagt, wie es ist. In der Ukraine klang es nach großrussischer Arroganz. Ob ihm das nützt?
Und wem hilft es, daß er Rußlands Arbeitern ins Bewußtsein ruft, wie wenig sie zu sagen haben?
Denn das TV-Interview mit den Franzosen wurde auch vom Sowjet-Fernsehen übertragen. Zum ersten Mal vernahmen Millionen Sowjet-Zuschauer vor ihrem Bildschirm, daß sich jemand aus dem Westen um die Menschenrechte in ihrem Lande sorgt.
Gorbatschow reagierte zunächst im alten Propagandastil: Was die politischen Rechte betreffe, so säßen im Obersten Sowjet mehr Arbeiter und Bauern als »in sämtlichen Parlamenten der entwickelten kapitalistischen Länder zusammen«. Es sind genau 51,3 Prozent.
Gorbatschow schlug den Franzosen nun ein Experiment vor: »Schickt wenigstens für ein halbes oder für ein Jahr Werktätige in die Parlamente eurer Länder, und wir sehen dann, was geschieht.«
Sowjetbürger ahnen, warum er das herausgerutschte »halbe« Jahr rasch prolongierte: Innerhalb eines halben Jahres kann es einem Abgeordneten des Obersten Sowjet widerfahren, an überhaupt keiner Sitzung teilzunehmen, weil dieses Pseudo-Parlament nur zweimal im Jahr zwei Tage tagt.
Zum Wechsel des Ministerpräsidenten im September wurde der Oberste Sowjet nicht gefragt, er tagte auch gar nicht, und auch nicht die maßgeblichere Vertretungskörperschaft der einzigen Partei, das Zentralkomitee der KPdSU. Dem gehören nur 5,1 Prozent Arbeiter und Bauern an. Es tagte gleichfalls nicht.
»Natürlich«, sagt Gorbatschow, gebe es in seinem Land (wenn auch nicht in seinem Parlament, anders als in Frankreich) Leute, die nicht in Eintracht mit der Regierungsform leben, sondern sich zu anderen Ideologien bekennen.
Hurra, freut sich da der Andersdenkende in Rußland, weil er heraushören konnte, die höchste Stelle habe damit das Dissidententum akzeptiert: Probleme, so Gorbatschow, entstünden erst bei einem Konflikt mit dem Gesetz.
Die Sowjetbürger, Russen und Nichtrussen, Parteigläubige, Andersgläubige und auch die gar nicht so seltenen Antisemiten im Land, erleben an ihrem Fernsehgerät, direkt bei sich zu Hause, wie der Chef eine seltsame Rechnung aufmacht: Die Juden stellen nur 0,69 Prozent der Gesamtbevölkerung, jedoch »mindestens 10 bis 20 Prozent im politischen und künstlerischen Leben«.
Das ist übertrieben, im Politbüro gibt es keinen, im 90köpfigen Ministerrat zwei. Doch wichtiger und gefährlicher: Jeder Jude und dann auch jeder Russe bekommt von seinem Landesvater die Zusage, wer ausreisen wolle, der könne das auch. Ausnahme (von der »Prawda« gestrichen): Träger von Staatsgeheimnissen. Die müßten »fünf bis zehn Jahre« warten, dann könnten sie reisen.
Auch das stimmt nicht; Geheimnisträger Sacharow wurde vor über fünf Jahren nach Gorki verbannt, nachdem er vor über zehn Jahren den antisowjetischen Friedensnobelpreis empfangen hatte. Aber fortan kann sich jeder auf die Worte des Vorsitzenden berufen.
Er redet zu frei. Er will die Redlichkeit seiner Ideologie nicht mehr »mit der Macht der Waffen, sondern nur und ausschließlich mit der Macht des Beispiels beweisen«. Dies wäre eine hinreißende Änderung der Kremlpolitik. Was aber, wenn sich sein Statthalter Babrak Karmal in Kabul darauf einstellt?
Gorbatschow fand zu einer Idee zurück, die schon Rußlands großer Reformer Nikita Chruschtschow einst vorgebracht hatte: »Wir denken nicht, daß beispielsweise die Möglichkeit, in irgendeiner Form Kontakte zwischen dem Warschauer Pakt und der Nordatlantischen Allianz als Organisation herzustellen, für ewig tabu ist.«
Er denkt dabei offenbar an mehr als an Manöver-Beobachter oder, absurd genug, einen Nichtangriffsvertrag. Chruschtschow wollte Rußland sogar der Nato beitreten lassen. Gorbatschow spricht in diesem Zusammenhang von einer »Überwindung der Spaltung Europas in einander gegenüberstehenden Gruppierungen«, und zwar »in mehr oder weniger überschaubarer Zukunft«.
Unser Rhetoriker muß wissen, daß das, was er da herausgelassen hat, seinen Preis hat: wenn Polen beispielsweise innerhalb seines Blocks jenen Status gewinnen möchte, den Frankreich innerhalb der Nato hat.
Was soll der General Jaruzelski davon halten, daß sich Moskaus Sprecher gegen das »Zimmern von Blöcken« wendet? Wie reagiert die Sowjet-Generalität darauf, daß die Partei nicht nur die Doktrin der militärischen Überlegenheit über alle potentiellen Feinde aufgegeben hat, die bis 1981 gegolten hatte, sondern der Parteichef jetzt auch noch der »Metternichschen Politik des Kräftegleichgewichts« eine Absage erteilt?
Seinem ZK sagt Gorbatschow, er sei für »Erhaltung der Verteidigungsmacht unseres Landes auf erforderlichem Niveau«. Diesmal kürzt ihn der »Prawda«-Zensor nicht nur, sondern legt ihm etwas anderes in den Mund: »Nur auf dem Weg der Beschleunigung ist es möglich, die Verteidigung des Landes zu festigen.« Gerade das hatte er nicht gesagt.
Aber die »Prawda« ist die Stimme der Mehrheit im Politbüro, deren sich der Chef demnach nicht immer sicher sein kann. So darf ihm sein Parteiorgan seine Parole für den Weltsozialismus einer »dialektischen Einheit in der Vielfalt« stutzen, bis die herkömmliche »Einheit« übrigbleibt.
Gorbatschow liest dies ab, hat dafür also die Genehmigung seines Politbüros: »Kein Volk, kein Staat vermag die bestehenden Probleme im Alleingang zu lösen. Und am Zusammenschluß hindert uns das alte Gepäck von Entfremdung, Konfrontation und Mißtrauen.«
Das ist nicht nur zutreffend, sondern auch so schön formuliert, daß man gern wüßte, wer ihm dabei, wie es bei vielbeschäftigten Politikern Brauch ist, die Feder geführt hat. War es etwa, worauf der in Rußlands Politsprache ungewöhnliche Begriff »Entfremdung« deutet, seine persönliche Philosophin Dr. Raissa Gorbatschowa, die Schöne?
Ein Belesener muß es gewesen sein: »Die berühmte Hamlet-Frage Sein oder Nichtsein stellt sich nicht mehr für ein einzelnes Individuum, sondern für das Menschengeschlecht.«
Und: »An der Schwelle des dritten Jahrtausends müssen wir das Schwarze Buch der nuklearen Alchimie verbrennen.« Den Stolz der Sowjetstreitkräfte, die Atomraketen? »Möge das 21. ein Jahrhundert eines Lebens ohne Angst vor dem allgemeinen Untergang werden!«
Das ist fast Tolstoi, die Todgeweihten grüßen den Apokalyptiker, auch wenn ihnen der Sponti noch besser gefällt: Auf der Pariser Pressekonferenz verlor er, endlich, die Beherrschung.
Er schlug mit den Fäusten auf den Tisch und lieferte die ehrliche russische Ambivalenz zwischen jenem Minderwertigkeitsgefühl, aus dem der Westen seinen Partnern endlich heraushelfen muß, und der alten Drohgebärde, die kaum noch schreckt: »Wir sind am Rande unserer Langmut angekommen und wollen jetzt endlich ernstgenommen werden.« So einen sollte man auf beide Wangen küssen. Der »Prawda«-Zensor strich diesen Schrei.
»Der erhabenste Traum vom Glück des Volkes«, sinnierte Gorbatschow vor seinem ZK, »selbst wenn ihn ein Genie hat, bleibt nur ein nobler Traum, wenn er nicht Seelen und Herzen von Millionen gewinnt.«
Aber auch, wenn er nicht die Interessen der Apparatschiki beachtet, das Votum der Marschälle, den Willen der Partei. Dagegen wiegen Millionen Herzen wenig, und eine gute Presse in der Welt des Westens wirkt eher kontraproduktiv. Vorsicht, Michail Sergejewitsch. Wir möchten ihn behalten.