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Jungsozialisten Miese Taktik

Die Jusos sind sich noch nicht sicher, ob ihr neuer Vorsitzender Wolfgang Roth eher opportunistisch oder linientreu taktieren wird.
aus DER SPIEGEL 11/1972

Wolfgang Roth übte Selbstkritik. Im D-Zug nach Bonn rechtfertigte der ranghöchste Juso am Montag vergangener Woche vor mitreisenden Jungsozialistinnen, die Anstoß an seinem Äußeren genommen hatten, den schlechten Sitz seines Anzugs: »Der paßt mir nicht mehr. Ich habe zwölf Pfund zugenommen.« Rat einer Genossin: »Bundesvorsitzender, friß die Hälfte.«

Tags zuvor war Roth auf innere Werte überprüft worden. Auf dem Bundeskongreß der Jungsozialisten »in der Stadthalle zu Oberhausen, wo der 31jährige Sozialdemokrat mit 158 von 202 Stimmen für zunächst ein Jahr zum neuen Juso-Chef gewählt worden war, hatten ihn die Delegierten auf rechte Linksgesinnung ausgeforscht. Letzte Zweifel am Kandidaten suchte Freund Karsten Voigt, Vorgänger im Amt, zu zerstreuen. Auf den Einwand eines Parteifreundes, Roth gelte auch bei Delegierten, die ihn gewählt hätten, als »Opportunist«, versicherte Voigt: »Gerade deshalb wird er beweisen, daß er keiner ist.«

Ob Opportunist oder nicht -- Westdeutschlands Jungsozialisten hatten keine Wahl. Denn Roth war nicht nur einziger Kandidat für den Spitzenjob. Durch die rare Mischung von politischer Gesinnungstreue und Anpassungsfähigkeit empfahl er sich den Genossen zugleich als idealer Wahlkampfstratege. Roths Versprechen: »Wir tun für die SPD alles. Wir stärken sie. Wir sammeln Stimmen.« Die Sammlungsbewegung will mit einem »eigenständigen Wahlkampfbeitrag« aufwarten, der »auch über die Aussagen der Partei hinausgehen kann«.

Nach der neuen Juso-Wahlkampf-Ordnung sollen »sozialistische Ziele« als Programm verkündet und »fortschrittliche Kandidaten« bei der Aufstellung der Landeslisten durchgesetzt werden, zugleich aber soll gemeinsam mit der Mutterpartei der Feldzug gegen die CDU/CSU bestritten werden.

Konkrete Vorstellungen hat Roth bislang vor allem für das Juso-Kontrastprogramm entwickelt. Er will sich mit dem angeschlagenen Wirtschaftsminister Schiller anlegen. Der gelernte Volkswirt, der als Assistent am Kommunalwissenschaftlichen Forschungszentrum des Deutschen Städtetages in Berlin und bei der gewerkschaftseigenen »Neuen Heimat« in Hamburg zum Experten für Stadtplanung und Siedlungsprobleme reifte, hält nichts von der »miesen Taktik« des Ministers, »gegenüber den Wünschen der Industrie zurückzuweichen«.

Den Professor, dessen Wirtschaftspolitik »im Konflikt zum Godesberger Programm steht« (Roth), möchte der Juso-Führer spätestens 1973 nicht mehr in Brandts Kabinett sehen.

Jungsozialist Norbert Gansel, der auf dem Bremer Juso-Kongreß 1970 gegen das Gespann Voigt/Roth unterlegen war und jetzt über ein Direktmandat in den Bundestag strebt, hält freilich Roths Wahlkampfaussagen für »Verbalradikalismus«. Das SPD-Parteiratsmitglied über den geplanten Konflikt mit Schiller: »Ich glaube, der wird verschoben.«

Wie Gansel hält auch Erdmann Linde, Juso-Chef des größten SPD-Bezirks Westliches Westfalen, den gebürtigen Schwaben· »für nicht sehr prinzipienfest«.

Nach Gansels Kalkül wird Roths Rigorismus rasch abkühlen. Wenn dem aufstrebenden Jungpolitiker im Wahljahr ein »aussichtsreicher Listenplatz« angeboten werde, sei der Vorsitzende zu »politischen Zugeständnissen« bereit. Gansel über Roth: »Ein solch begnadeter Opportunist ist mir in der Politik noch nie unter die Augen gekommen.« Roth über Gansel: »Der ist unheimlich unpolitisch.«

Gelegenheit, sich wechselseitig näher kennenzulernen, hatten die beiden Ober-Jusos anläßlich einer DDR-Visite im Sommer 1970 gehabt. Gansel war damals seinen Vorstands-Kollegen Voigt und Roth nach Ost-Berlin nachgereist, um im Auftrag des restlichen Juso-Vorstands ein überraschend angesetztes Treffen mit Walter Ulbricht zu verhindern.

Die fünf zu Hause gebliebenen Mitvorsitzer hatten sich auf die Absage geeinigt, weil ausgerechnet am Tage der geplanten Begegnung im Bundestag über den Kanzleretat abgestimmt wurde und die Jusos wankelmütigen FDP-Abgeordneten keinen Vorwand zum Koaiitionsverrat liefern wollten. Doch Roth sprach gegen den Mehrheitsbeschluß: »Wenn wir da noch in letzter Minute abgesagt hätten, dann hätten wir doch völlig das Gesicht verloren.«

Die Reisenden einigten sich darauf, das Treffen geheimzuhalten. Gansel fühlte sich zu solidarischem Handeln verpflichtet und ließ die Partei-Oberen in Bonn über den wahren Sachverhalt im unklaren.

Mehr Freude machte der »Neue Heimat«-Mitarbeiter linken wie rechten Sozialdemokraten als Autor eines Thesen-Papiers. Auf der letztjährigen Kommunal-Konferenz der Jungsozialisten in Mannheim, wo Prominente und Nachwuchs unter Ausschluß der Öffentlichkeit den städtepolitischen Kurs der Partei diskutierten, pries selbst der konservative Mainzer SPD-OB Jakob ("Jockel") Fuchs das »Roth-Papier« als eine »Magna Charta« der Städtepolitik und als »das umfassendste und gründlichste«, was es je zu bundesdeutschen Kommunalproblemen gegeben habe.

Folgerichtig entsandte der Juso-Bundesvorstand den früheren Asta-Chef an der West-Berliner FU, als es galt, die Hamburger Genossen in ihrem Streit mit Parteihierarchen um Nahverkehrs-Tarife zu unterstützen.

Doch weil Roth bei einer Veranstaltung der »Rote-Punkt-Aktion« gemeinsam mit einem kommunistischen Redner auftrat und damit -- nach Ansicht der Hamburger Sozialdemokraten -- gegen ein vom SPD-Parteirat verhängtes Verbot verstieß, erließ die örtliche Schiedskommission ein zweijähriges Funktions-Verbot. Roth legte Berufung ein.

Fünf Tage nachdem die Jungsozialisten ihren neuen Vorsitzenden gekürt hatten, am vergangenen Freitag, beschäftigten sich erneut Partei-Richter mit dem Delinquenten. Nach zweieinhalbstündiger Sitzung im Hamburger SPD-Haus an der Kurt-Schumacher-Allee erteilten sie dem Führer der 250 000 Jungsozialisten nur noch eine »Rüge« -- wegen »parteiwidrigen Verhaltens«. Roth: »Eine Farce.«

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