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MILLIARDEN FÜR EINE ILLUSION

aus DER SPIEGEL 7/1963

Der führende britische Militär-Experte Basil Henry Liddell Hart, der seit über 30 Jahren mit mehr als 30 Büchern das strategische Denken Europas und Amerikas maßgebend beeinflußt hat, untersucht in dem folgenden Artikel die Schwachen der britischen und insbesondere der französischen

Atomrüstung. Liddell Hart kommt dabei zu dem Schluß, daß de Gaulles eigensinniges Spiel mit einer vergleichsweise winzigen atomaren »Force de frappe«, die erst 1968 über Wasserstoffbomben verfügen wird, das Risiko eines amerikanischen Rückzugs aus Europa enthält.

Vor mehr als zehn Jahren ging die britische Regierung daran, eine eigene Nuklearstreitmacht zu schaffen, anstatt sich ausschließlich auf die abschreckende Wirkung der viel größeren Atomstreitkräfte zu verlassen, die bereits die Vereinigten Staaten mit ihrem Strategischen Bomberkommando entwickelt hatten. Nun strebt auch General de Gaulle danach, in den kommenden, Jahren - unabhängig von Briten und Amerikanern - eine französische Atomstreitmacht zu schaffen.

Welchen Wert hat eine derartige unabhängige nationale Atomstreitmacht als Abschreckung gegen einen Angriff oder eine Kriegsdrohung? Und welche Wirkung - so muß man ergänzend fragen - werden die Anstrengungen, eine derartige Streitmacht zu schaffen, auf das bereits vorhandene Ausmaß an Sicherheit haben, das durch das kollektive Verteidigungssystem der Nato gewährleistet wird? Diese zweite Frage ist wiederum mit einer dritten verbunden - ob nämlich die Sicherheit des betreffenden Landes, das versucht, durch eigene Atomstreitkräfte einen zusätzlichen Schutz zu erlangen, durch diesen Versuch wirklich vergrößert oder aber verkleinert wird.

Englands Erfahrungen während seiner mehr als zehnjährigen Anstrengungen, einen Platz im Atomklub zu behaupten, fördern keineswegs die Vorstellung, daß es einen Sinn habe, auf atomarem Gebiet eine kleine Macht zu sein. Obgleich England mit ungeheuren Kosten eine Streitmacht von fast 200 Vulcan-Bombern aufgebaut hat, die Wasserstoffbomben von Megatonnen -Sprengkraft tragen können, hat diese Streitmacht weder in amerikanischen noch in russischen Augen jemals wirkliche Bedeutung gehabt.

Während der Suez-Krise im Jahre 1956 hielten Englands V-Bomber Chruschtschow nicht davon ab, Großbritannien ebenso wie Frankreich mit dem Beschuß nuklearer Raketen zu drohen, sobald er erkannt hatte, daß die US-Regierung unter Präsident Eisenhower nicht gewillt war, die britische Regierung in diesem Konflikt zu unterstützen.

Während der Kuba-Krise im letzten Herbst forderte Kennedy den sowjetischen Premier heraus, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, die britische Regierung zu konsultieren, oder sicherzustellen, daß die britischen Bomberstreitkräfte die ihnen zugedachte Rolle in dem kombinierten Aktionsplan spielen würden, falls die Krise zum Kriege führte.

Damit ist deutlich geworden, wie wenig Grund die britische Regierung für ihren Glauben hat, daß der Besitz einer eigenen nuklearen Streitmacht ihr größeren Einfluß auf die amerikanische Politik innerhalb der Allianz geben würde. Das war bisher eines der Hauptargumente, mit dem in politischen

Diskussionen innerhalb Englands auf die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer solchen Streitkraft gedrängt wurde.

Westdeutschland hat weit mehr Gewicht und Einfluß in Washington gewonnen, indem es starke konventionelle Streitkräfte als Beitrag zum Nato -Schild in Europa aufstellte und in dieser Weise zur allgemeinen Abschreckung einer möglichen russischen Aggression beitrug. Präsident Kennedy und seine Berater haben wiederholt zu erkennen gegeben, daß sie weitaus stärker beeindruckt sein würden, wenn Großbritannien daranginge, mehr Truppen in Europa zu stationieren und sie bei voller Kampfstärke zu halten, als fortgesetzt

zu versuchen, die V-Bomberverbände zu modernisieren oder sie durch andere nukleare Kampfmittel zu ersetzen.

Während der letzten Jahre hat die britische Regierung, die sich dagegen sträubte, Englands Status als Atommacht preiszugeben, fieberhaft versucht, neue Waffen zu entwickeln, um diesen Status aufrechtzuerhalten. Zuerst vertraute sie auf die rein britische Langstreckenrakete »Blue Streak« und verschwendete über 100 Millionen Pfund (1,12 Milliarden Mark) für dieses Projekt, ehe sie sich darüber klarwurde, daß die endgültigen Kosten untragbar hoch sein würden.

Danach übertrug sie ihre Hoffnungen auf die von den Amerikanern entwikkelte Luft-Boden-Rakete »Skybolt«, die eine Reichweite von mehr als 1500

Kilometern haben sollte, denn es bestand die Aussicht, diese Waffe für die britischen Bomberstreitkräfte im Jahre 1965 oder bald danach kaufen zu können. In der Zwischenzeit Ließ Englands Regierung die britische Flugzeugrakete »Blue Steel« mit 300 Kilometern Reichweite (die möglicherweise verdoppelt werden kann) produzieren, um mit ihrer Hilfe die Lebensdauer der V-Bomberstreitkräfte zu verlängern.

Diese Hoffnungen brachen im Dezember 1962 zusammen, als die amerikanische Regierung zu der Überzeugung kam, die Entwicklungskosten für Skybolt seien unkalkulierbar und würden eine erschreckende Höhe erreichen, verglichen mit dem möglichen

Wert der Waffe, so daß sich die Fortsetzung der Skybolt-Versuche nicht mehr lohnte.

Das wahrscheinliche Datum der Serienproduktion eines leistungsfähigen Skybolt-Typs war ebenfalls in weite Ferne gerückt und schien kaum noch vor 1970, wenn nicht noch später, zu liegen, weil sehr viele Schwierigkeiten zu überwinden waren: So galt es das Problem zu lösen, mit der erforderlichen Genauigkeit von einem Flugzeug aus, also einem schnell beweglichen und verhältnismäßig unstabilen Raketenträger, zu schießen.

Die britische Regierung sah sich deshalb gezwungen, als Alternative das Angebot der »Polaris«-Raketen zu akzeptieren, die von Unterseebooten abgefeuert werden. Die Briten müssen die Polaris -Unterseeboote allerdings erst noch

bauen, und diese Schiffe dürften kaum vor 1970 in Dienst gestellt werden - ein Zeitpunkt, zu dem sie angesichts neuer Gegenmittel bereits wieder als veraltet gelten könnten.

Die Anstrengungen der britischen Regierung, eine eigene nukleare Streitmacht aufrechtzuerhalten, sind bisher auf jeder Stufe mit einer außerordentlichen Steigerung der Kosten und gleichzeitig mit einer wachsenden Abhängigkeit von amerikanischer Hilfe verbunden gewesen. Die Vorspiegelung, daß Britanniens Atomstreitmacht nach wie vor »unabhängig« sein werde, ist so absurd, daß sie nur die stursten Mitglieder der Regierung und deren Anhänger zu täuschen vermag.

Die britischen Erfahrungen bilden jedoch ein nützliches Hilfsmittel, die Pläne der französischen Regierung zu studieren, die nun ihrerseits versucht, eine eigene unabhängige Atomstreitmacht zu entwickeln. Denn die entscheidende Frage lautet, ob es sich vom strategischen und technischen Standpunkt aus um ein tatsächlich ausführbares Projekt handelt.

Nach den Plänen, die im letzten Frühjahr in Paris amtlich verkündet worden sind, soll die französische Luftwaffe 50 leichte Überschallbomber vom Typ »Mirage IV« bis 1964 in Dienst stellen.

Zu diesem Zeitpunkt soll sie auch mit Atombomben von Kilotonnen-Sprengkraft und möglicherweise auch mit Luft -Boden-Raketen von 300 Kilometern Reichweite ausgestattet werden. Derartige Raketen würden das Risiko für die Bomber verringern, die sonst ihre Ziele direkt anfliegen müssen, und zugleich ihren begrenzten Aktionsradius geringfügig vergrößern.

Spätere Berichte ließen erkennen, daß die französische Regierung hoffte, ihre Mirage-Bomber mit Wasserstoffbomben von Megatonnen-Stärke innerhalb der nächsten zwei Jahre auszurüsten; sie hoffte ferner, bis 1970 eine Luft-Boden -Rakete von ähnlich großer Reichweite zu entwickeln wie die inzwischen aufgegebene Skybolt.

Aber die jüngsten Berichte lassen vermuten, daß die französischen Hoffnungen allmählich schwinden, selbst bei der ersten Stufe den vorgesehenen Zeitplan einzuhalten. Was Briten und Amerikanern so oft passierte, erleben nun auch die Franzosen: Nur eine kleine Handvoll Mirage-IV-Bomber wird wahrscheinlich bis 1965 fertig sein, und Wasserstoffbomben nicht vor 1967 oder 1968.

In jedem Fall bleibt die geplante französische Atomstreitmacht klein, verglichen mit derjenigen, die sich die Briten geschaffen haben, und wirkungslos, weil geradezu winzig, im Vergleich mit den Kernwaffen der Amerikaner und Russen.

Die Hoffnung, daß diese Streitmacht militärisch wirksam sein könnte, wenn sie erst einmal existiert, beruht zum größten Teil auf der Vorstellung, daß diese sehr schnellen Mirage-Bomber im Tiefflug die russische Luftverteidigung durchstoßen und ihre Ziele erreichen könnten. Aber seit diese Idee formuliert worden ist, sind die Luftabwehrraketen so rasch weiterentwikkelt worden, daß dieses Konzept nun sehr fragwürdig aussieht.

Die Treffsicherheit der russischen Sam-II-Luftabwehrraketen, die auf Kuba stationiert sind, hat den Amerikanern einen ernsten Schock versetzt,

als ihre hoch fliegenden U-2-Aufklärungsflugzeuge über der Insel kreisten. Diesem Raketentyp ist bereits ein weiterer gefolgt, die Sam-III, die insbesondere zur Abwehr von Tiefflugangriffen bestimmt ist.

Zu dem Zeitpunkt, an dem Frankreich eine nennenswerte Streitmacht mit Atombomben ausgerüsteter Mirage -Bomber produziert haben wird, werden sich deren Chancen, zu irgendeinem wichtigen und gut verteidigten Ziel vorzudringen, noch weit mehr verringert haben und in russischen Augen kaum noch glaubhaft sein. Der Versuch, eine derartige unabhängige nukleare Abschreckung zu schaffen, ist also ein riskantes Glücksspiel mit vielen Unbekannten. Es ist ironischerweise sehr treffend, daß jenes Flugzeug, das dazu bestimmt ist, Frankreichs nukleare Waffen zu tragen, »Mirage« genannt werden soll*.

Falls Frankreich mit Rußland oder mit irgendeinem anderen Land, das von Rußland unterstützt wird, in einen Konflikt geraten sollte, in dem es keine amerikanische Unterstützung erhält, so ist es kaum vorstellbar, daß die kleine französische Atomstreitmacht, die für die Zukunft geplant ist, den Russen genug Furcht einjagen würde, um sie von der Verfolgung ihrer Ziele abzuschrecken. Der schwachen Möglichkeit, daß es ein paar Mirage-Bombern gelingen könnte, einige wenige der vielen wichtigen Ziele in Rußland zu erreichen, muß die unumstößliche Tatsache gegenübergestellt werden, daß Rußland bereits über eine Fülle von Atomraketen verfügt, durch die es in der Lage ist, alle Städte Frankreichs sowie die relativ kleine Zahl von Flugplätzen auszuradieren, von denen aus die Mirage-Bomber operieren könnten.

Um das Überleben wenigstens eines Teils der Mirage-Bomber zu sichern, deren Gesamtzahl ohnehin sehr klein sein dürfte, wäre es notwendig, einen gewissen Teil von ihnen ständig einsatzbereit in der Luft zu haben. Sprecher der französischen Regierung waren sich jedoch der ungewöhnlich hohen Kosten kaum bewußt, die ein solcher Daueralarm verursachen würde.

Je weiter man in die Zukunft blickt

- bis zum Ende der sechziger oder der siebziger Jahre -, um so zweifelhafter werden die Möglichkeiten für einen der kleineren Staaten, eine eigene moderne nukleare Streitmacht zu entwickeln oder aufrechtzuerhalten, die eine wirkliche Sicherheit garantiert, und sei es auch zu ruinösen, ständig steigenden Kosten. Es ist viel wahrscheinlicher, daß jedes dieser Länder bei dem vergeblichen Versuch, Atommacht zu werden oder zu bleiben, Bankrott machen würde.

Das Ziel, eine unabhängige nukleare Abschreckung zu besitzen - von Patrioten gepriesen, die noch immer in der Vergangenheit leben -, hat die charakteristischen Eigenschaften einer Luftspiegelung (mirage), einer Fata Morgana: Es weicht zurück und verschwindet schließlich bei dem Versuch, es zu erreichen.

Die britische Regierung hat in zehnjähriger kostspieliger Erfahrung diese

Lektion qualvoll lernen müssen. Die französische Regierung würde gut daran tun, sie ebenfalls zu lernen, bevor sie zuviel von Frankreichs Wohlstand für die gleiche Illusion verschwendet.

Inzwischen schwächt der französische Versuch ernsthaft die kollektive Sicherheit, die von der Nato geschaffen worden ist. Frankreichs Atomrüstung wird zum Haupthindernis für die Aufstellung einer ausreichenden Schild -Streitmacht für Westeuropa, die in der Lage ist, einen Vorstoß russischer Bodenstreitkräfte ohne Rückgriff auf nukleare Waffen - also ohne das Risiko eines Abgleitens in die totale Verwüstung - zurückzuschlagen.

Vor zehn Jahren betrug der versprochene Beitrag an aktiven Divisionen zu diesen Schild-Streitkräften: von Frankreich 14, von Deutschland 12, von Belgien vier, von den Niederlanden zwei, von Großbritannien vier und von den Vereinigten Staaten fünf Divisionen.

Die Vereinigten Staaten haben ihr Versprechen von Anfang an erfüllt. Deutschland hat jetzt den Punkt erreicht, wo es seine Zusage einhalten kann; auch die Niederlande haben es getan. Großbritannien ist mit einer Division im Rückstand, Belgien mit zwei und Frankreich mit zwölf, mit sechs Siebenteln dessen, was frühere französische Regierungen bereitzustellen versprachen. -

Nach dem Ende der Kämpfe in Nordafrika gibt es keine Rechtfertigung mehr für dieses Versagen, das viel größer ist als das irgendeines anderen Nato-Mitgliedes. Die einzige Entschuldigung ist der Wunsch der gegenwärtigen französischen Regierung, ohne Rücksicht auf die gemeinsamen Interessen ihren kostspieligen Traum einer eigenen unabhängigen Atomstreitmacht weiterzuverfolgen.

Einem vernünftigen Argument für diesen politischen Kurs kommt bisher der Gedanke am nächsten, daß die Regierung der USA in einer Krise zögern könnte, ihre europäischen Verbündeten zu unterstützen - aus Furcht, ihr eigenes Land und Volk damit in eine nukleare Katastrophe zu stürzen.

Die deutlichste Antwort auf diesen Einwand und zugleich die beste Sicherheit gegen solch ein Risiko hat General Ferdinand Foch (1851 bis 1929)* bereits im Jahre 1909 gefunden, als ihn ein britischer Militär, General Henry Wilson, danach fragte, was wohl der kleinste britische Beitrag wäre, der für Frankreich im Falle eines Krieges mit Deutschland von Nutzen sein könnte. Foch erwiderte: »Ein gewöhnlicher Soldat genügt. Wir würden schon dafür sorgen, daß er getötet wird.«

Heute gibt es mehr als 400 000 amerikanische Soldaten in Europa, die im Falle eines Krieges unausweichlich in die Kämpfe hineingezogen würden. Darin liegt die Garantie der amerikanischen Unterstützung - solange die Amerikaner in Europa bleiben. Der unabhängige Kurs, zu dem sich Frankreichs Regierung entschlossen hat, ist das einzige ernsthafte Risiko, das einen amerikanischen Rückzug auslösen könnte.

(World copyright reserved)

* Mirage = Luftspiegelung, Fata Morgana.

* Generalstabschef der französischen Armee und Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte im Ersten Weltkrieg.

Wehrexperte Liddell Hart: Bankrott der kleinen Atommächte?

Weltkrieg-I-Marschall Foch

Ein britischer Soldat genügt

Atombomber »Mirage IV": 50 französische Maschinen sind zuwenig

Basil Liddell Hart
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