Zur Ausgabe
Artikel 48 / 96

ITALIEN Milliarden für »tangenti«

In Rom wird eine neue Regierung gebildet - im Schatten gigantischer Korruptionsskandale. *
aus DER SPIEGEL 13/1988

Der Sizilianer Cristoforo Di Bartolo, 38, einer von 10 000 Arbeitern am Bau des Atommeilers Montalto di Castro, hundert Kilometer nordwestlich von Rom, kann sich den Luxus nicht leisten, Kernkraftgegner zu sein.

»Arbeit brauche ich, ob die Grünen recht haben oder nicht; für Arbeit würde ich sogar nach China reisen, selbst wenn ich dort die Bombe bauen müßte«, schimpft der stämmige Mann, den nach den letzten politischen Ereignissen in Rom eine panische Angst um seinen Arbeitsplatz gepackt hat.

Dabei hatte er schon aufgeatmet. Das Projekt sollte gestoppt werden, nachdem linke Atomkraftgegner ihr Referendum im November 1987 haushoch gewonnen hatten. Die Fünf-Parteien-Koalition unter Giovanni Goria ließ daraufhin prüfen, ob das umstrittene Atomkraftwerk auf Methangas umgestellt werden könnte.

Dabei stellte sich jedoch heraus, daß der Umbau umgerechnet 4,5 Milliarden Mark kosten würde - zusätzlich zu den 6,5 Milliarden Mark, die der Bau seit 1976 bereits verschlungen hat. Also entschloß sich die Regierung, den Weiterbau auf der atomaren Schiene zu genehmigen - und diese Entscheidung führte zum Bruch im Kabinett.

»Die Regierung verfügt nicht mehr über die Autorität«, kritisierte der sozialistische Schatzminister Giuliano Amato, »eine so delikate Entscheidung wie Montalto di Castro fällen zu können.«

Denn Sozialistenchef Bettino Craxi hatte seinen Freunden bei den Grünen versichert, die Regierung werde sich hüten, in Montalto weiterzubauen. Er wollte der PSI ein grünes Profil verleihen - obwohl eine von ihm geführte Regierung für den Bau von Montalto gewesen war.

Das Atom-Veto seines wichtigsten Koalitionspartners kam dem regierungsmüden Goria Mitte März durchaus gelegen. Mit einem »Operettenauftritt«, so die Kommunisten, trat er zurück.

Die Sozialisten reagierten prompt, diesmal in Montalto di Castro. Der sozialistische Bürgermeister des 6000-Einwohner-Nestes nahe der tyrrhenischen Küste verlangte auf einen Wink seiner Parteizentrale hin einen sofortigen Baustopp. Kaum wurde dies bekannt, stürmten 6000 wütende Arbeiter in der vergangenen Woche auf die Bahnlinie Nord, blockierten sie und sperrten tagelang auch die Küstenautobahn.

Der christdemokratische Parteichef Ciriaco De Mita, 60, inzwischen mit der Bildung der 48. italienischen Nachkriegsregierung beauftragt, soll den Wirrwarr wieder auflösen. Es wird ihm nicht leichtfallen. Sein alter Gegner Bettino Craxi, den De Mita vor einem Jahr aus dem Palazzo Chigi trieb, will weiterhin das Atomkraftwerk in Montalto schließen und macht eine neue Regierungsbeteiligung seiner Partei auch von einem »aktualisierten Energieplan« abhängig, der nach »alternativen Energiequellen« forschen soll.

Ein aufsehenerregendes Interview des engsten Craxi-Beraters Gennaro Acquaviva mit der spanischen Tageszeitung »El Pais« verriet die wirklichen Intentionen der Sozialisten: »Wir werden alles daran setzen, daß es De Mita nicht schafft. Die Christdemokraten können ohnehin nur noch bis 1990 mit uns rechnen, bis wir nämlich die Hegemonie der Kommunisten in der italienischen Linken endgültig gebrochen haben.«

Regierungskrisen berühren die italienische Öffentlichkeit wenig. Gleichwohl betreibt sie derzeit heftige Politikerschelte, die grundsätzlichen Zweifeln am System nahekommt.

Es geht um die »tangenti«, die Bestechungsgelder von Millionen und Milliarden Lire, mit denen jede Industriefirma, die sich um öffentliche Aufträge bemüht, ihr Geschäft ölt. Der Skandal um die »Goldenen Gefängnisse«, der gerade aufgedeckt wird, vermittelte den Italienern schockierende Details über die Verderbnis im Staat.

Der Mailänder Bauunternehmer Bruno De Mico, 56, war mit dem Bau von zahlreichen neuen Gefängnissen beauftragt, die 1981 mit einem Sonderetat von 1,5 Milliarden Mark bewilligt worden waren. Vor einer Untersuchungskommission in Genua sagte De Mico jetzt aus, er habe, um den Auftrag zu erhalten, 13,7 Millionen Mark Schmiergelder zahlen müssen.

Telephonisch hätten Ministerialdirektoren bei ihm die Bestechungsgelder angefordert - zuweilen in rüdem Ton.

De Mico flog dann jedesmal mit seiner Privatmaschine nach Rom und teilte die »tangenti« kofferweise aus. Weil der Baulöwe selbst an jedem Auftrag noch einmal 30 Prozent verdienen wollte, bezahlte der Staat zu guter Letzt für die neuen Gefängniszellen mehr »als der Bau teuerster Hotelzimmer kostet«, urteilte das italienische Nachrichtenmagazin »L'Espresso«.

Täglich berichten italienische Zeitungen auch über andere Korruptionsaffären: offenbar wird keine Fensterscheibe in einem Ministerium, kein Wasserhahn in einem staatlichen Krankenhaus, kein Asphaltloch auf einer Straße mehr repariert, ohne daß der Staat, mithin der Steuerzahler, nicht Phantasiepreise dafür zahlt. Die Parteien sahnen die immer üppiger bemessenen Aufschläge für die Bezahlung ihrer immer teurer werdenden riesigen Apparate ab.

In seiner Untersuchung »Über Physiognomie und Pathologie der politischen Korruption« rechnete der Politologe Franco Cazzola aus, daß der Staat allein in den vergangenen elf Jahren durch solche Praktiken um 50 Milliarden Mark betrogen wurde.

Mit feiner Feder hatte der große Schriftsteller Italo Calvino die verheerende Seuche schon 1980 in einem surrealistischen Märchen ausgemalt: »Es war einmal ein Land«, schrieb der Poet, »in dem sich jedes Machtzentrum ohne das geringste Schuldbewußtsein und ohne eigene innere Moral illegal finanzierte.« Ehrlichkeit wurde dort als leicht abartiger Tick oder Charakterschwäche angesehen.

In der Straßenbahn, auf der Piazza, auch in den Live-Sendungen des Fernsehens stöhnen die Italiener inzwischen laut: »Basta mit den korrupten Politikern, wir können nicht mehr.«

Solche Stoßseufzer seien jedoch nur leeres Gerede, kommentierte die Turiner Zeitung »La Stampa": Solange Hunderttausende »ehrliche« Ladenbesitzer, Klempner, Schreiner und »ehrliche« Friseure, Automechaniker oder Zahnärzte mit klammheimlicher Freude den Staat betrögen, dürfe man sich über die Politiker nicht aufregen.

Mehr lesen über

Zur Ausgabe
Artikel 48 / 96
Die Wiedergabe wurde unterbrochen.
Merkliste
Speichern Sie Ihre Lieblingsartikel in der persönlichen Merkliste, um sie später zu lesen und einfach wiederzufinden.
Jetzt anmelden
Sie haben noch kein SPIEGEL-Konto? Jetzt registrieren
Mehrfachnutzung erkannt
Bitte beachten Sie: Die zeitgleiche Nutzung von SPIEGEL+-Inhalten ist auf ein Gerät beschränkt. Wir behalten uns vor, die Mehrfachnutzung zukünftig technisch zu unterbinden.
Sie möchten SPIEGEL+ auf mehreren Geräten zeitgleich nutzen? Zu unseren Angeboten