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SCHWEDEN »Minderwertige Elemente«

Berichte über Zwangssterilisierung von vermeintlich geistig Behinderten oder Asozialen erschüttern den Mythos vom sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat.
aus DER SPIEGEL 36/1997

Als Kind war Maria Nordin aus dem mittelschwedischen Küstenort Gävle »furchtbar schüchtern«. In der Schule blieb sie zurück, weil sie nicht entziffern konnte, was auf der Tafel stand. Daß sie schlechte Augen hatte, traute sich die Kleine aus einem bitterarmen Elternhaus nicht zu sagen.

Mangelnde Intelligenz, urteilten deshalb die Lehrer und schickten sie auf die Sonderschule - damals, in den Dreißigern, eine Art geschlossene Anstalt. Der Zögling durfte keine Besuche zu Hause machen, nicht einmal an der Beerdigung der Mutter teilnehmen. Marias Gefangenschaft endete erst, als sie mit 17 Jahren ihr Einverständnis zur Sterilisation gab. »Ich kam ins Lazarett in Bollnäs«, erinnert sich die heute 72jährige, »dort wurde alles herausgenommen.«

Nach der Entlassung durfte das Mädchen, dessen Eltern nicht die Mittel hatten, ihr eine Brille anfertigen zu lassen, endlich ein normales Leben beginnen. Sie bewältigte es weit besser, als die Lehrer es ihr zugetraut hatten, arbeitete als Haushälterin auf einem Bauernhof, als Köchin und Krankenpflegerin. Nordin bestand ihre Führerscheinprüfung. Später heiratete sie auch - doch ihr Leben war durch die Zwangssterilisation geprägt.

Der Fall der Rentnerin Nordin und Tausender Leidensgenossinnen erregt derzeit die Schweden, die bisher so stolz waren auf ihr Modell vom allumfassenden Sozialstaat. Denn eine Artikelserie in der größten Morgenzeitung des Landes, DAGENS NYHETER, zwang ihnen ins Bewußtsein, was zwar nie ein Staatsgeheimnis war, was die meisten aber gern für immer verdrängt hätten.

Eine wissenschaftliche Studie, auf die sich das Blatt bezieht, dokumentiert peinlich genau: 62 000 Jugendliche und Erwachsene, zu 95 Prozent Frauen, wurden zwischen 1935 und 1976 ohne - oder mit einer erpreßten - Zusage ihrer Zeugungsfähigkeit beraubt. Bei der Massensterilisierung belegt Schweden hinter Nazi-Deutschland einen schändlichen Spitzenplatz.

Von der Praxis der Hitler-Ärzte unterschied sich die schwedische Bevölkerungspolitik dadurch, daß sie sich nicht gegen Juden richtete und nicht auf Tötung aus war. Doch Grundlage war auch in Skandinavien der Glaube an die Lehren der Rassenbiologie. Sie wurden seit 1921 von einem eigens in der Universitätsstadt Uppsala gegründeten Institut aus verbreitet.

»Wir haben das Glück, eine Rasse zu sein, die noch ziemlich unzerstört ist, Träger sehr hoher und guter Eigenschaften«, schwelgte ein sozialdemokratischer Bildungsminister. Auf Initiative der regierenden Arbeiterpartei, aber mit breiter Zustimmung der konservativen Opposition, verabschiedete das Parlament 1935 ein Gesetz zur Sterilisation von »Geistesbehinderten«, das, so ein Entwurf, die Bevölkerung von »rassen- oder erbmäßig minderwertigen Elementen reinigen« sollte.

Der Blick in die jüngste Vergangenheit entsetzt die Schweden heute deshalb, weil er den Mythos des adretten »Volksheims« zerstört. Denn gerade die über Jahrzehnte regierenden Sozialdemokraten bedienten sich bei der Schaffung des Wohlfahrtsstaats einer Ideologie, die sich auf Darwinismus stützte, die unerbittliche Auslese des biologisch Fittesten.

Die späteren Nobelpreisträger Alva und Gunnar Myrdal, führende Vordenker der Sozialdemokraten, hatten in ihrem Gemeinschaftswerk »Krise in der Bevölkerungsfrage« schon 1935 »ein ziemlich schonungsloses Sterilisierungsverfahren« angemahnt, um »hochgradig lebensuntaugliche Individuen auszusondern«.

Weil die Solidarität des Staates nur denen zugute kommen sollte, die sie nach Ansicht der Beamten und Politiker verdienten, verschärften die Sozialdemokraten 1941 das Gesetz: Zwangssterilisiert wurden auch Menschen, die gegen den protestantisch-prüden Sittenkodex verstießen oder sich der Obrigkeit widersetzten. Denn man hielt »asoziales Verhalten« für erblich. Die Volkswirtschaft sollte von Kosten für »Unwürdige« entlastet werden.

Um der »Degenerationsgefahr« vorzubeugen, wurde der Schnitt im Unterleib bei »mangelnder Sparsamkeit, unzüchtigem Lebenswandel und Masturbation angeordnet«, so DAGENS NYHETER, oder wenn der Pastor fand, eine Konfirmandin sei nicht ordentlich für die Weihe vorbereitet.

»Unverkennbarer Zigeunereinschlag, Psychopathie, Vagabundentum, asoziale Lebensführung«, mit diesem Gutachten begründete 1945 ein schwedisches Jugendamt die Anweisung, bei einer verheirateten Mutter von vier Kindern, 28 Jahre alt, die Eileiter durchtrennen zu lassen.

Die Chirurgen stellten Rekorde auf: Waren 1935 erst 235 Eingriffe verzeichnet worden, 1941 bereits 800, kam es 1947 - ein Jahr vor der Einführung des Kindergelds - zu 2264 Sterilisierungen, 6 pro Tag. Bis in die fünfziger Jahre wurden jährlich etwa 2000 Schwedinnen daran gehindert, Nachkommen in die Welt zu setzen.

Sven-Olof Eldéen, damals 2o, hatte nach Abschluß der Berufsschule einen Sohn gezeugt, ohne verheiratet zu sein. Weil er sich nicht sofort eine Arbeitsstelle gesucht hatte, wurde er 1967 in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Begründung: »bisherige Arbeitslosigkeit«. Erst als er nach vier Monaten Nötigung einwilligte, sich sterilisieren zu lassen, kam er frei.

Eldéen, inzwischen Angestellter der Weltfirma Asea-Atom, forderte 1987 vom Stockholmer Sozialministerium Entschädigung oder zumindest moralische Wiedergutmachung. Damals wollte kaum einer glauben (SPIEGEL 3/1987), daß der sozialdemokratische Musterstaat zu solchen Auswüchsen fähig war.

Anders heute: Nachdem die Affäre um das verschobene Nazi-Gold die Sensibilität der Schweden geweckt hat, mag keiner mehr die Recherchen des DAGENS-Reporters Maciej Zaremba bei den Opfern, gestützt auf erschütterndes Zahlenmaterial der in Kürze erscheinenden Doktorarbeit der Historikerin Maija Runcis, als Horrormärchen abtun.

»Die Unprofitablen wurden weggeschnitten«, resümiert Zaremba. Er scheut sich auch nicht vor politischer Schuldzuweisung: »Rassenhygiene und Ausmerzung von Minderwertigen waren vor allem ein sozialdemokratisches Projekt.«

Die konservative Opposition fordert nun schonungslose Aufklärung. »Verstecken heißt leugnen. Die Schweden sollten sich schämen«, sagte der Führer der Christdemokraten, der beschönigende Vergleiche nicht gelten läßt.

Auch in Norwegen, Finnland und Dänemark hat es seit den dreißiger Jahren ähnliche Programme zur Sterilisierung von Behinderten gegeben.

In den USA wurden zwischen 1907 und 1960 laut einer Untersuchung der Johns Hopkins Universität 60 000 Sterilisationen in öffentlichen Krankenhäusern durchgeführt. Unerwünschte sollten auf Anordnung der Justiz eliminiert werden. Als solche galten geistig Behinderte, Alkoholiker, Kriminelle, Sittenstrolche oder auch Unterklassen-Schwarze.

In Österreich, schätzen die Wiener Grünen, werden noch heute 70 Prozent der geistig behinderten Frauen daran gehindert, Kinder zu gebären. Doch die Sterilisierung geschieht nicht auf staatlichen Druck hin. Eltern gäben ihre Zustimmung aus Furcht vor unerwünschten Schwangerschaften.

In der Schweiz sollen Behinderte entgegen medizinischer Richtlinien auch heimlich zeugungsunfähig gemacht werden, wenn sie gar nicht in der Lage seien, ihre Zustimmung zu geben.

Selbst nach dem Krieg war in Deutschland Eugenik, vor allem bei weiblichen geistig Behinderten, üblich - bis in die neunziger Jahre hinein. Nach Schätzungen der Bundesregierung machten Ärzte jährlich mindestens 1000 Frauen unfruchtbar, die meisten von ihnen waren nicht volljährig. Für den Eingriff genügte allein der Wille der Eltern. In zahlreichen Behindertenwohnheimen war Unfruchtbarkeit zudem Aufnahmebedingung.

Erst seit 1992 gilt in Deutschland ein vielerorts als vorbildlich gelobtes Gesetz, das den Gang in den OP mit vielen Hürden verstellt und Behinderte vor übereilten Eingriffen schützen soll.

Sterilisationen von Minderjährigen sind jetzt in jedem Fall verboten. Bei älteren, einwilligungsunfähigen Behinderten ist der Eingriff nur dann legal, wenn eine andere Form der Verhütung nicht in Frage kommt und eine Schwangerschaft körperliche oder seelische Notlagen erwarten läßt. Außerdem setzt ein Vormundschaftsgericht einen Betreuer ein, der anstelle der Eltern herausfinden soll, ob der Behinderte mit dem Schritt einverstanden ist. Das komplizierte Verfahren hat die Zahl der gemeldeten Sterilisationen auf nur wenige Dutzend im Jahr gesenkt.

In Schweden mögen die Sozialdemokraten den Makel des Rassismus nicht länger auf sich sitzen lassen. Noch im vergangenen Jahr hatte Sozialministerin Margot Wallström den Antrag von Maria Nordin auf Entschädigung für ihr ungewollt kinderloses Dasein abgelehnt. Jetzt verspricht sie, das Sterilisierungsgesetz werde als »staatlicher Übergriff« eingestuft, alle Betroffenen könnten Schadensersatz beanspruchen. »Wir sollten die Dinge beim Namen nennen. Das, was geschah, war Barbarei!«

Sie könne sich nicht vorstellen, warum das Gesetz erst 1976 zu Fall gebracht wurde. »Ich gehöre einer anderen Generation von Politikern an«, sagte Wallström, 42, vor Journalisten.

Bislang haben 16 Opfer eine Entschädigung erhalten: etwa 10 000 Mark. Berechnet wird dieser Betrag nach der Tariftabelle für Verkehrsopfer, denn eine Sonderbestimmung gibt es noch nicht.

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