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Briefe

MISSBILDUNG
aus DER SPIEGEL 38/1962

MISSBILDUNG

Als deutscher approbierter Arzt und nach zehnjähriger Praxis in Kanada, einschließlich sechs Jahren chirurgischer Facharztausbildung an hiesigen Universitätskliniken, muß ich Ihnen leider in sehr vielem recht geben.

Das Staatsexamens-Niveau des hiesigen Kandidaten ist bedeutend höher als das unsere. Der Student hier arbeitet aber auch weit mehr und wird jedes Jahr rigoros geprüft. Dabei wird rücksichtslos gesiebt. Die praktische Seite der Ausbildung, neben einem sehr gründlichen Grundstock, wird in den klinischen Semestern weit mehr beachtet als bei uns, z.B. Unterricht am Bett durch einen Dozenten, in kleinen Gruppen. Die Studenten sind ihren Lehrern namentlich bekannt. »Schwänzen« ist unmöglich.

Die Facharztausbildung ist nur an gewissen, von der Chirurgen-Kammer (Royal College of Surgeons) anerkannten Häusern möglich - fast ausschließlich Universitäts-Kliniken. Der Assistent wohnt dort, und seine Arbeit wird nicht nach Stunden gerechnet. Oft kommt er tage- (und nächte-)lang nicht aus dem Bau. Er sieht aber ein großes Volumen und wird weit eher mit Verantwortung betraut als der deutsche Assistent. Seine Lehrer, einschließlich der Professoren, sind keine »Halb-Götter«, und der Chef freut sich über wohlinformierte Diskussionen, selbst wenn sie gegen seine eigene Ansicht verstoßen. Nach mindestens vier solcher Jahre werden die einzelnen Kandidaten von der Chirurgischen Kammer beurteilt. Die Mehrzahl wird dann zum Facharztexamen zugelassen. Letzteres ist schriftlich, mündlich und klinisch, und dauert mehrere Tage. Die »Mortalität« beträgt etwa 50 Prozent.

Brampton (Ontario) DR. MED. E. G. KUMMEL

Freue mich außerordentlich über Ihre Veröffentlichung und möchte die Richtigkeit des darin Veröffentlichten nur bestätigen. Eine Reform kann meiner Meinung nach nur mit Hilfe der Öffentlichkeit erreicht werden.

Landau DR. MED. PETER TAUBENBERGER

Wozu gleich Hochschulreformen? Eine Änderung der Examensordnung, in der mehr praktische Dinge gefordert werden, tut's auch.

Mainz KLAUS JORK

cand. med.

Zu Ihrer Analyse der Umstände, die zum Niedergang der Medizin in Deutschland führten, bieten sich einige Zahlen aus der neueren Literatur als Ergänzung an. Zu Ihrem Vergleich: 22 amerikanische Nobelpreisträger gegen einen Deutschen in den letzten 20 Jahren möchte ich aus Hartshorne, »The German Universities and National Socialism« (Cambridge, Zahlen 1937), und von Helge Pross, »Die deutsche Emigration nach den Vereinigten Staaten von 1933 bis 1941« (Duncker Humblot, Berlin 1955), anführen: Nach ersterem Werk wurden bis 1936 1145 deutsche Hochschulprofessoren entlassen. Nach letzterem Werk emigrierten bis Kriegsausbruch 2353 Mediziner allein in die USA. Die gähnende Leere, die in Deutschland zurückblieb, während ausländische Universitäten durch erstklassige Forscher bereichert wurden, findet in der obengenannten Verteilungsquote von Nobelpreisträgern ihren Ausdruck. Wahrscheinlich wirkten alle diese Persönlichkeiten, gerade weil sie nach der »alten« Methode geschult waren, ganz besonders anregend und befruchtend auf ihre neuen, mehr mittelschulmäßig herangebildeten Schüler.

Es ist daher zu bedenken, wieviel der jetzige Hochstand der amerikanischen Medizin und der Tiefstand der deutschen den verschiedenen Unterrichtsmethoden zu verdanken hat. Wien DR. MED. RISA LOURIÉ

Leider ist das Gesagte aus eigener Anschauung nur zu unterstreichen. Als ich nach Amerika kam, mußte ich erleben, daß mir meine Kollegen aus den Philippinen, Korea, Venezuela, Indien und anderen Ländern, von denen ich bisher kaum etwas wußte, weit überlegen waren. Mit 80 Prozent Durchfall im amerikanischen Staatsexamen stehen die Deutschen, beziehungsweise diejenigen, die von deutschen Universitäten kommen, an der Spitze. Ich bin der Überzeugung, daß 95 Prozent der deutschen Ärzte das Staatsexamen des Staates New York nicht bestehen würden und jeder deutsche Arzt durch das Examen des Staates Connecticut fallen würde.

Zur praktischen Ausbildung in den USA: Am Krankenbett wird in kleinen Gruppen gelehrt. Und immer wieder: Diskussion. Es heißt nicht: »Jawohl, Herr Chefarzt.« Auch der Student im ersten Semester kann mit dem Professor diskutieren, entgegengesetzter Meinung sein, und es kann ihm recht gegeben werden. Hier sagt ein Professor, daß er sich geirrt hat.

Während meiner Pflichtassistentenzeit in Deutschland sind zwei Kinder gestorben, weil der Oberarzt keine andere Meinung gelten ließ, und in einem anderen Krankenhaus zwei Erwachsene, weil der Chefarzt, ein Internist, den Chirurgen nicht leiden konnte und nie auf die chirurgische Abteilung verlegte. So etwas wäre hier nicht möglich. Schon weil dem Patienten viel mehr Recht eingeräumt wird und er jederzeit - und häufig erfolgreich - Schadenersatzklage erheben kann.

Kings Park (USA) DR. MED. H. LEHNHOFF

In den amerikanischen Medical Schools, mit denen der Autor offensichtlich sympathisiert, wird nicht studiert, sondern dort geht der Hochschulbetrieb mit seinem unakademischen Zwang genau so weiter wie zuvor auf der »Penne«! Leider macht sich diese schulische Art des Studiums auch an unseren Universitäten durch die Überfüllung immer mehr breit.

Freiburg (Breisgau) HANS REUL

stud. med.

Ganz außer acht lassen Sie: diese immense Faulheit großer Teile der Studenten.

Hamburg H. KUNSTMANN

cand. med.

Mehr Ordinariate sind deswegen nicht dringend notwendig, weil die so viel beschworene Überlastung der Ordinarien nicht das unvermeidbare Resultat der heutigen Größe der Institute und Kliniken ist. Ein Wissenschaftler mit Chefqualitäten kann auch heute noch Forschung und Lehre in seinem Institut auf hohes Niveau bringen. So weiß ich, daß der Vorstand eines der größten Institute in München seine Vorlesungen sehr sorgfältig ausarbeitet und produktiv wissenschaftlich tätig ist, während sein Fachkollege in Erlangen, der ein erheblich kleineres Institut leitet, von der Verwaltungsarbeit so absorbiert wird, daß er nicht mehr als acht Doktorarbeiten ausgeben kann. Wir brauchen nicht mehr Chefs, wir brauchen hervorragende Chefs.

Nürnberg PETER KIESSLING

Kritische Bemerkungen zu Ausbildungsfragen schulischer oder anderweitiger Art sollen gestattet sein. Die Medizin aber sollte in jedem Fall ausgeklammert werden. Die ohnehin schon äußerst dürftigen Kontakte zwischen Patienten und Arzt dürften durch jenen der breiten Masse der Kranken zugänglichen Artikel noch loser werden und das auf beiden Seiten notwendige Vertrauen noch mehr erschüttern.

Wülfrath (Rhld.) DR. MED. ROHR

Zu Ihrer ganz persönlichen Information möchte ich gern etwas über die verwendete Terminologie sagen. Man unterscheidet im Hochschulbereich zwischen »Ordinarien« und »Nichtordinarien«. Der Ausdruck »nichtordinierte Hochschullehrer« dürfte nicht ganz passen. »Ordiniert«, d.h. geweiht bzw. mit dem kirchlichen Auftrag zur Wortverkündung und Sakramentsverwaltung versehen, sind nämlich nur die katholischen Kleriker und evangelischen Pfarrer. Diese Geistlichen werden durch die Ordination aber keineswegs »Ordinarii« im kirchenrechtlichen Sinne. Das trifft nur für Bischöfe und andere hohe katholische Würdenträger zu. »Ordination« und »Ordinarius« haben also nichts miteinander zu tun, ganz davon abgesehen, daß die kirchliche Terminologie im Hochschulbereich nichts zu suchen hat.

Hamburg DR. ERNST-WERNER FUSS

Privatdozent

Ihre Kritik war notwendig. Obwohl sie nicht erschöpfend sein und deshalb auch nicht alle Perspektiven aufzeigen konnte, ist sie erfahrungsgemäß erfolgversprechender als eine interne Kritik es wäre.

Schwäbisch Hall HELMUT GÖBEL

Der Verfasser kommt zu Schlüssen, die mit sich im Widerspruch stehen. Auf der einen Seite ist die Rede von der unendlichen Vielfalt der Fakten, die dem Medizinstudenten präsentiert werden. Auf der anderen Seite möchte man die Psychologie und wohl auch die Soziologie als medizinische (Haupt-) Fächer eingeführt wissen.

Es kann nicht deutlich genug gesagt werden, daß es ein Unsinn ist, wenn die Ausbildung der Ärzte noch mehr darauf gerichtet wird, mit wehendem Bart und blitzenden Brillengläsern in den Tiefen der Seele zu wühlen (wörtlich zitiert nach Prof. Frenzel, Ordinarius für Hals-, Nasen-, Ohrenkrankheiten an der Universität Göttingen), anstatt dem heranwachsenden Arzt gute Kenntnisse in der Biologie und dann in der eigentlichen Medizin zu vermitteln. Die Medizin ist nämlich noch immer in erster Linie angewandte Biologie. Und die Biologie kann man eben zunächst noch nicht am Krankenbett lernen.

Rottweil DR. MED. ALBERT OCHMANN

Die beste Ausbildung und die beste Zusammenarbeit nutzt nichts, wenn der junge Mediziner später in der Praxis dann erfährt, daß er alle diese Dinge, die er in der Universität gelernt hat, aus kassenwirtschaftlichen Gründen nur in beschränktem Umfang veranlassen und verordnen darf. Es muß also nicht nur das Universitätsstudium einer Reform unterzogen werden, sondern noch vordringlicher das Kassenarzt -System, das zur Zeit unter dem Druck der Hierarchie der Krankenkassen und Kassenärztlichen Vereinigungen liegt.

Berlin DR. MED. WOLFGANG JACK HENRY

Vom Orient haben Sie genauso naive Vorstellungen wie die gesamte deutschsprachige Presse - die Zeitungen in Zürich und Basel ausgenommen. Da sind also Krankenhäuser, Institute und Ärzte wie bei uns, nur ist es halt ein bißchen wärmer. Wie es wirklich ist, überschreitet den Rahmen eines Briefes, nur eben dies: Die Äußerungen arabischer oder persischer Ärzte über die deutschen Ärzte sind arabisch-persischer Größenwahn. Ich könnte die zwei oder drei hervorragenden arabischen Ärzte namentlich nennen, wenn das hier Sinn hätte. Man lächelt - über die Naivität der deutschen Prüfer, die in christlicher Nächstenliebe auch den dümmsten Orientalen durchs Examen lassen. Aber das hat mit der Qualität der deutschen Mediziner nichts zu tun. Mit der Medizin in Kairo, Aleppo oder Teheran können sie sich immer noch messen.

Zwischen Nil und Kaspischem Meer gibt es nur einen Staat, den Irak, der sich mit seinem Health Service sehen lassen könnte. Aber sein Vorbild war der britische Health Service, und die Medical School in Bagdad hatte Europäer als Lehrer. Das schreibt Ihnen eine Leserin, die 1950 bis 1959 im arabischen Orient als Ärztin tätig war.

Freiburg (Brsg.) DR. MED. GERTRUD MAYER

Nach der Lektüre dieses Artikels war ich endlich in der Lage, mir ein objektives Bild vom Niveau Ihres Magazins zu machen. Endlich begreife Ich die geistreiche Äußerung von Francois -Poncet: »Daran, daß er die Stiefel pißt, merk' ich, daß er ein Hund nur ist!«

Bad Godesberg DR. MED. KOCHS

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